Ernst Guggisberg

Pflegekinder


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Das Duo erhielt im folgenden Jahr vom Basellandschaftlichen Armenerziehungsverein den Rechenschaftsbericht über das Jahr 1854120 sowie die Satzungen des Freiwilligen Armenvereins des Bezirks Baden zur weiteren Vorberatung.121

      Im September 1855 wurde das angesprochene Zirkular schliesslich verfasst, wobei nicht die epidemische Angst als Absagegrund für die vorjährige Generalversammlung genannt wurde, sondern die Vorbehalte gegenüber einem interessanten und hitzigen Ideenaustausch, dem aber voraussichtlich kein «praktischer Erfolg» beschieden sein würde. Im Rundschreiben an die Bezirksgesellschaften wurden die Fragen aufgeworfen: «Wie kann am zweckmässigsten für Rettung verwahrloster Kinder gesorgt werden? Und welche Mittel sind anzuwenden, um dieses Rettungswerk ohne längeres Zögern in’s Leben zu rufen?» Die Aarauer Kulturgesellschaft stellte ferner die Frage in den Raum: «Ob die Gründung von eigenen Rettungsanstalten oder aber die Unterbringung und Erziehung von verwahrlosten Kindern in ehrbaren Familien als zweckmässiger erschiene?»122

      Auch die aargauische Direktion des Innern unterstützte das Unterfangen und signalisierte, «sich an das Wirken jenes Vereins anzuschliessen und hiefür die geeigneten Schritte einzuleiten», sodass die Kulturgesellschaft die Initiative ruhig ergreifen könne. Ausserdem wurde allgemein konstatiert, «dass der gegenwärtige Moment geeignet sei, solche Vereine zu gründen, und dass hiefür authographierte123 Zuschriften an die sämmtlichen Gemeinderäthe und Pfarrer im Bezirk mit der Bitte zu senden seien, damit sie Abgeordnete zur Berathung der Statuten senden möchten».124

      Die Generalversammlung sämtlicher Bezirks-Kulturgesellschaften, die zuletzt 1853 in Bremgarten tagten, sollte dafür der passende Rahmen sein. Anvisiert wurde der 15. Oktober 1856 im Casino Aarau mit den zwei Haupttraktanden, der Schaffung von «Rettungsanstalten für verwahrloste Kinder» und Aufsichtsvereinen für entlassene Sträflinge.125 Regierungsrat Augustin Keller (1805–1883) und Pfarrer Emil Zschokke sollten eine diesbezügliche Kommission bilden.126 Die Ausstellung des Zirkulars übernahm die «Regierungs-Autographie», sodass für den Verein keine Kosten entstanden.127 Die Pläne für neue Kindererziehungsanstalten wurden mit der Übergabe der Pestalozzistiftung in Olsberg an den Staat jedoch hinfällig.

      Dennoch wollte sich die Kulturgesellschaft dafür einsetzen, dass im Bezirk Aarau ein Pendant zum 1855 gegründeten Zofinger Kinderversorgungsverein geschaffen werde.128 Die Kulturgesellschaften der Bezirke engagierten sich bereits vor den Gründungen der Armenerziehungsvereine im Bereich der «Armenpflege». Im Bezirk Brugg wurden in den Jahren 1854 und 1855 Lebensmittelkollekten durchgeführt und 1856 der «Almosenverein der Gemeinde Brugg» gegründet, sodass «in der Kulturgesellschaft von Brugg […] in jener Zeit eine warme, schöne Theilnahme an Fragen der Armenpflege und an soliden Verbesserungen auf diesem Gebiet erwacht[e].»129 Diese Sensibilisierung führte zu einer Bezirksversammlung «von Männern des Armenwesens», in deren Schoss «die Wege einer bessernden Einwirkung auf die bestehende Armenpflege, eifrigst durchgesprochen und berathen» wurde. Insbesondere die Arbeit des 1855 gegründeten Kinderversorgungsvereins Zofingen, «ganz besonders aber die so ergreifenden als gediegenen Berichte von dem schönen Wirken des Basellandschaftlichen Armen-Erziehungsvereins hatte […] einen tiefen Eindruck hinterlassen, eine nachhaltige Begeisterung erweckt».130

      Bei der Kulturgesellschaft des Bezirks Aarau wurde der Beschluss gefasst, dass das Zofinger Reglement als Vorlage verwendet werden sollte. Am 4. Januar 1860 richteten sich Emil Zschokke und Ludwig Karrer (1830–1893), der Aargauer Regierungsrat und nachmaliger Kommissär des eidgenössischen Auswanderungsamtes, mit einem Aufruf an die Bezirksbevölkerung. Im Aufruf wurden desolate Familienverhältnisse, von Gemeinden praktizierte «Mindersteigerungen» und die «Liederlichkeit» der Eltern als Gründe für die Konstituierung genannt: «Mitten in einem Christenlande begegnen wir somit Familien und verwahrlosten Kindern, deren Zustand ein wahrhaft heidnischer ist. Es bildet dies zur hochgepriesenen Civilisation unserer Zeit einen düstern Gegensatz. Manchem Menschenfreund blutet das Herz darob und er hat diese Übelstände schon längst tief beklagt.»131

      Im Bezirk Lenzburg tagte am 25. November 1860 die Bezirks-Kulturgesellschaft über die Gründung eines Armenerziehungsvereins, und am 19. Dezember 1860 wurden die Statuten im Lenzburger Rathaus besprochen, die Konstituierung als wünschenswert anerkannt und den Gemeinden die Schaffung von «Fünfrappenvereinen» aufgetragen. Erste Geldmittel wurden bis am 21. März 1861 zusammengetragen, sodass der Armenerziehungsverein «mit der Verkostgeldung der angemeldeten armen, ‹der Verwahrlosung entgegengehenden Kinder› den Anfang» machen konnte, gegebenenfalls auch unter Anwendung von «Zwangsmassregeln».132 Auch der am 28. Oktober 1861 ins Leben gerufene Armen-Kinder-Erziehungs-Verein des Bezirks Muri war eine Tochter der dortigen Gemeinnützigen Gesellschaft, die sogar die Führung des Vereins für 25 Jahre – bis zum Jahr 1887 – übernahm.133 Der Gründung voran ging ein Aufruf an die Einwohner, der «von allen Kanzeln verlesen» wurde und in fast allen Gemeinden der Kreise Muri, Sins und Merenschwand auf Resonanz stiess. Die Vereinsleitung unter dem ehemaligen liberal-katholischen Regierungsrat und späteren Nationalrat Peter Suter (1808–1884) wurde einem fünfköpfigen Vorstand übergeben, diesem untergeordnet war für jeden Kreis des Bezirks ein abermaliger fünfköpfiger Vorstand.134

      Sowohl das Zirkular der Aarauer Kulturgesellschaft als auch eines der Direktion des Innern vom Oktober 1863 führten zu weiteren Gründungen von Armenerziehungsvereinen in den Bezirken Lenzburg (1861), Bremgarten (1861), Muri (1862), Baden (1862), Zurzach (1864) und Kulm (1865).135 Insbesondere der Direktor des Innern begrüsste die Schaffung von Armenerziehungsvereinen, indem er bekräftigte, dass die «Armenerziehung» im Kanton Aargau eine «ebenso erfreuliche als erfolgreiche Thätigkeit von Vereinen und Freunden der Armen» darstelle und von «Regierung und Volk bereits anerkannt» würde. «Die Direktion des Innern, der das Armenwesen unterstellt ist, hat jeden Anlass, die Armenvereine in ihrem Bestreben zu unterstützen, gerne benutzt.»136 In der ersten Hälfte der 1860er-Jahre bildete die Gründung von Armenerziehungsvereinen «eine Hauptaufgabe fast sämmtlicher Bezirks-Kulturgesellschaften», wie Emil Zschokke in einem Artikel in der Schweizerischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit resümierte, und sie stünden «in blühendem Gedeihen».137 Er führte die Vereinsgründungen auf die Notjahre von 1845 zurück, die in einigen Gegenden des Aargaus tiefe Schäden hervorriefen und «am Lebensmark der untersten Volksschichten» nagten:

      «Man ward gewahr, dass nicht nur äusserster leiblicher Mangel bei vielen armen Familien des Landes bestehe, sondern hie und da eine eben so grosse sittliche Verkommenheit zu finden sei. Grenzenlose Liederlichkeit, völlige Arbeitsscheu und Abgestumpftheit gegen alle besseren Gefühle sammt dem ganzen Gefolge von Lastern, die aus solchem Sumpfe gewöhnlich hervorgehen, traten nicht selten in erschreckender Weise auf. Das Unwesen der Bettelei überfluthete das Land in vorher noch nie dagewesener Weise.»138

      Diesem moralischen Sumpf wollten die Armenerziehungsvereine laut Zschokke entgegenwirken, indem «nämlich durch bessere Erziehung der Kinder aus solchen sittlich und ökonomisch versunkenen Familien» eine pädagogische Hilfe geleistet werden sollte. Er bemerkte, dass es sehr wohl «Rettungsanstalten» im Kanton Aargau gab, «allein theils gewährten dieselben nicht den erforderlichen Raum für Aufnahme so vieler bedürftiger Kinder, theils konnten die verhältnismässig immerhin grossen Kostgelder nicht erschwungen werden». Das geeignete und kostengünstigere Pflegehausmodell hatte aber auch noch einen weiteren pädagogischen Vorteil, indem «Familien-Erziehung weit natürgemässer und für alle Zukunft heilsamer sei, als Anstalts-Erziehung».139

      Anscheinend weckte die Berichterstattung über die aargauischen Armenerziehungsvereine das Interesse der Leserschaft der «Schweizerischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit», denn im folgenden Jahr meldete sich Zschokke erneut zu Wort: «Die Sache scheint in der Schweiz herum vielfach Anklang zu finden; wenigstens wurde ich schon wiederholt über deren Einrichtung befragt.»140 Wieder führte er die Vereinsgründungen auf das Jahr 1845 und «die Erkrankung der Erdäpfel und die von da an wiederholt herrschenden Gewerbs- und Handelskrisen» zurück. In deren Folge trat «der Pauperismus in mehreren Gegenden des Kantons in erschreckender Gestalt wie nie zuvor» auf. Im Schosse der Kulturgesellschaft seien daraufhin ergebnislos verschiedene Lösungsansätze