fruchten würden».141 Aus diesem Gedanken heraus seien die sich gleichenden Armenerziehungsvereine entstanden.142
Eine umfangreiche Darstellung erfuhren die Armenerziehungsvereine beim Geschichtswerk über die Aargauische Gemeinnützige Gesellschaft im Jahr 1912. Rudolf Wernly resümierte aus den Protokollen, dass die Gründung im Schosse der Kulturgesellschaft wesentlich um die Frage kreiste, ob Anstaltserziehung oder Familienerziehung das geeignetste Mittel sei.143 Am 24. September 1856 wurde im Kasinosaal in Aarau eine Generalversammlung abgehalten, wobei Emil Zschokke als Referent geladen war. Als «Grundgedanken» wurden festgesetzt: die «Versorgung aller armen, der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetzten Kinder womöglich in rechtschaffene Familien, dagegen Unterbringung von bereits verdorbenen in Rettungsanstalten» und die «Gründung von sogenannten Fünfrappen-Vereinen, später vom Volksmund ‹Halbbatzenvereine› genannt».144 Die «Zweigvereine» der Kulturgesellschaften wurden in den Bezirken aktiv. «Die Organisation dieser Bezirksvereine gestaltete sich, bis auf kleinere unwesentliche Verschiedenheiten, überall gleichmässig und stütte sich bei allen auf das System der Fünfrappen-Kollekte, weiterhin auf Gemeinde- und Staatsbeiträge, Schenkungen und Legate.»145 Wernly umschrieb die einzelnen Funktionen der Vereinsorgane und bekräftigte insbesondere, dass die «Sammlerinnen» die «freiwilligen Mitgliederbeiträge von Haus zu Haus» einzögen und die «wertvolle Vorhut des Vereins für den Eroberungszug der Humanität» bildeten.146 Die beiden vorgestellten Geschichtswerke über den Kanton Aargau und die Kulturgesellschaft stammten aus dem direkten Umfeld der Armenerziehungsvereine und zeugen vom Selbstverständnis der damals höchst aktiven Vereine, die zwischen 1910 und 1915 jährlich rund 1300 Pflegekinder beaufsichtigten.
Im Bezirk Laufenburg musste ein erster Armenerziehungsverein aufgrund von «äusseren Verumständungen» aufgelöst werden, sodass in der Folge «aus dem langen Ausbleiben eines Armenerziehungs-Vereins» geschlossen wurde, «es sei dieses Institut bei uns nicht nothwendig». Diesen Eindruck teilten 72 Männer aus den Gemeinden des Bezirks ganz und gar nicht, sodass am 24. September 1882 die «Wiedereinführung des Armenerziehungs-Vereins» beschlossen und sogleich 52 Kinder «platziert» wurden.147 Als letzter Armenerziehungsverein im Kanton Aargau wurde 1889 derjenige im Bezirk Rheinfelden gegründet. Der offiziellen Gründung gingen bereits einige Versuche voraus, so löste sich der 1862 gegründete Armenerziehungsverein zwischenzeitlich auf.148 Bei der Einladung eines Initiativkomitees am 3. Februar 1889 machte die anwesende Opposition geltend,
«dass in unserm Bezirk ein Bedürfniss zur geplanten Vereinsbildung nicht bestehe und dass die einzelnen Gemeinden so gut situirt seien, dass es nicht nothwendig erscheine, denselben mit Abnahme von Kindern entgegenzukommen. Im Fernern wurde behauptet, dass die Frauenvereine, deren fast in jedem Dorfe einer bestehe, dem Bedürfniss voll und ganz genügen, welches ortsfremde Einwohner in bedrängter Lage haben könnten.»149
Nach Anbruch des neuen Jahrhunderts und der Schaffung des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs und dessen Aargauer Einführungsgesetzes erhielten die Vormundschaftsbehörden einen wichtigen Stellenwert. Im Unterschied zu den Armenbehörden der Heimatgemeinden von Unterstützten, die nach wie vor armenrechtliche «Kindswegnahmen» durchführen konnten, waren die Vormundschaftsbehörden der Wohngemeinden für die vormundschaftlichen Fremdplatzierungen zuständig. Diese Entwicklung trug den Wanderbewegungen der Kantonsbevölkerung erstmals Rechnung. Während 1880 noch rund 70 Prozent der Einwohner in ihren Heimatgemeinden wohnten, waren es im Jahr 1910 fast nur noch 50 Prozent. 1930 lebte dann über die Hälfte der Aargauer Bevölkerung nicht mehr in ihrer Heimatgemeinde.150 Allerdings war es möglich, dass die Vormundschaft an die Heimatgemeinde übergeben werden konnte.151
Für die Arbeit der aargauischen Armenerziehungsvereine war die auf den §51 des Aargauischen Einführungsgesetzes zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch bezugnehmende regierungsrätliche «Verordnung betreffend die Pflegekinder vom 20. November 1922» bedeutsam. Die Pflegekinderverordnung kam aufgrund eines Entwurfs aus dem Oktober 1922 zustande. Bereits im September 1921 musste jedoch eine vormalige Fassung bestanden haben. Diese wurde in einer Vorstandssitzung des Armenerziehungsvereins des Bezirks Baden verlesen und «allgemein als eine starke Einschränkung unserer Freizügigkeit und Tätigkeit eingeschätzt, womit unsere Vereine einen solchen Aderlass verdient haben, ist nicht ersichtlich. Wir berichten in diesem Sinne nach Aarau.»152 Anscheinend unterschied sich die endgültige Fassung wesentlich zugunsten der Vereine von der ursprünglichen Verordnung, denn in der Folge wurde sie vom Armenerziehungsverein Baden immer positiv erwähnt. Pflegekinder nach dieser Verordnung waren sämtliche Kinder bis zum zurückgelegten 16. Altersjahr, «deren Pflege und Erziehung andern Personen anvertraut ist, als den Inhabern der elterlichen Gewalt», unabhängig von der Ausrichtung eines Kostgelds. «Kinder in Anstalten des Staates, sowie in solchen, die unter staatlicher Aufsicht stehen, fallen nicht unter diese Verordnung; ebenso nicht die von den aargauischen Armenerziehungsvereinen versorgten Kinder.»153 Im zitierten Paragrafen wurden die Armenerziehungsvereine erstmals in einem rechtlichen Text erwähnt. Umso spannender, als «deren versorgte» Kinder explizit nicht unter die Verordnung fielen. Die direkte Aufsicht in den Bezirken übten die Bezirksämter, die Oberaufsicht die Justizdirektion aus. Als Kontrollorgane fungierten neben den Amtsvormündern und deren Fürsorgerinnen, den Pfarrämtern, insbesondere die «Inspektionsorgane der Armenerziehungsvereine».154 Als Vertreter der freiwilligen Fürsorge waren sie demnach befugt, die von den offiziell-rechtlichen Vormundschaftsbehörden geschaffenen Pflegekinderverhältnisse einzusehen und Missverhältnisse an das Bezirksamt und den Amtsvormund weiterzuleiten.
Im Vorfeld dieser Verordnung sandte der Justizdirektor einen Antrag zur Annahme der Pflegekinderverordnung und Aufnahme derselben in die Aargauer Gesetzessammlung an den Aargauer Regierungsrat.155 Er hielt die Verordnung für ein «Bedürfnis», das auch in anderen Kantonen wie unter anderem in Zürich und Bern bereits wahrgenommen wurde, und wollte «eine Lücke ausfüllen, die bis jetzt in der staatlichen Beaufsichtigung von Pflegekindern bestanden hat[te]».156 Er begründete die Aufsichtspflicht des Kantons dadurch, dass dieser ja auch Kinder in staatlichen Heimen inspizieren lasse. «Umsomehr ist aber da eine staatlich organisierte Aufsicht erforderlich, wo Pflegekinder in privaten Familien untergebracht werden.» Denn einzelne Behörden, Armenpflegen, Vormünder und Beistände böten «durchaus nicht Garantie, dass sie nur das Beste der ihrer Obsorge unterstellten Kinder im Auge haben, vielmehr gibt die Billigkeit des Unterkunftsortes den Ausschlag».157
Der Justizdirektor führte im Weiteren noch zwei besonders bedenkliche Beispiele für eine schlechte Fremdplatzierung an. Im einen Fall kam ein Kind zu Alkoholikern, während die Pflegeeltern des anderen nur drei Wochen später in die Zwangsanstalt eingewiesen werden mussten. Beide Male handelte es sich um eine von einer ausserkantonalen Behörde vorgenommene Fremdplatzierung, wobei nur die kostengünstigste Lösung angestrebt wurde. Die Verordnung wurde folglich insbesondere als «Richtlinie für ausserkantonale Behörden» verstanden, «die bei uns möglichst billig Kinder unterbringen wollen».158
Der Armenerziehungsverein des Kantons Thurgau
Die Initiative zur Gründung eines Armenerziehungsvereins im Kanton Thurgau ging vom reformierten Pfarrer Theodor Rehsteiner (1836–1916) in Güttingen aus, der aktives Mitglied der Thurgauischen Gemeinnützigen Gesellschaft war. Anlässlich deren Jahresversammlung vom 20. Juni 1881 in Frauenfeld wurde im Kreis des Regierungsrats Johann Konrad Haffter (1837–1914) und weiterer Mitglieder «die Frage der Armenerziehung, speziell Gründung von Armenerziehungsvereinen» zur weiteren Prüfung an die Direktionskommission überantwortet. Im Referat plädierte Rehsteiner für eine professionalisierte und humanere Armenunterstützung im Kanton und sprach sich für die eigentlich guten, aber nur unzureichend angewandten gesetzlichen Bestimmungen im Armenwesen aus. Im Kanton Thurgau war die praktische Ausübung der Armenfürsorge nicht bei den politischen, sondern bei den konfessionellen Kirchgemeinden angesiedelt.159
Im Anschluss an das Referat ergriff als Erster Pfarrer Brüllmann das Wort und ging mit dem Referenten einig: Schwindender Arbeitssinn und das «Sichüberlassen an die Armenpflegen» sei nicht der geeignete Ausweg aus den herrschenden Verhältnissen, der freien Vereinstätigkeit müsse gegenüber der Staatshilfe der