oder bei fremden Familien «versorgt» würden, aus Gründen der «ausserhäuslichen» Erwerbstätigkeit der Eltern(teile), wegen Krankheit oder Tod der Mutter, Erziehungsschwierigkeiten im Elternhaus oder Gebrechen der Kinder. Hier sollte ihrer Meinung nach die Verantwortung der Jugendhilfe ansetzen, indem sie Pflegeplätze zur Verfügung stellen und diese angemessen überwachen sollte. Dies war aber laut Steiger wegen der zeitgenössischen Rechtslage praktisch unmöglich. Sie führte unter anderem als Paradebeispiele die Städte Basel und Bern an, bei denen eine obligatorische Pflegekinderaufsicht bestehe, und leitete zu den Kantonen Basel-Landschaft, Solothurn, Thurgau und Aargau über, bei denen die Aufsicht durch «die sogenannten Armenerziehungsvereine» geschehe. Sie beanstandete grundsätzlich, dass die Pflegekinderaufsicht nur selektiv sei und eine zweifelsohne namhafte Dunkelziffer an Pflegekindern nicht kontrolliert werden könne.147
Steiger votierte eindringlich dafür, dass, wo kantonale Aufsichten bestünden, diese auch von Frauen ausgeübt werden sollten. Bereits ab 1910 gab es besondere Fürsorgerinnenkurse, und 1921 öffnete etwa die «Soziale Frauenschule Zürich» ihre Pforten. Die Professionalisierung der Sozialarbeiterinnen148 zielte in erster Linie auf Aufsichtsfunktionen ab: sogenannte Kontrollbesuche, Überprüfung der sachgemässen Ernährung und Verpflegung der Kinder sowie Beratung und Belehrung der Pflegeeltern. In vielen Fällen war die Fürsorgerin «die Gehilfin des Amtsvormundes», und als solches «hat sie dessen Weisungen entgegenzunehmen und darnach zu handeln. Eingreifende Massnahmen darf sie nur im vorherigen Einverständnis mit dem Amtsvormund treffen.»149 Dieser rein exekutiv ausgerichteten Rolle der Fürsorgerinnen standen auch kritische Stimmen gegenüber, so beispielsweise Pfarrer Albert Wild. Dieser bemerkte, dass nur in den wenigsten Kantonen Frauen in die Armenfürsorgebehörden wählbar waren. Er hoffte, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Frauen sich als «gleichberechtigte Mitglieder» aktiv und eigenkompetent in der sozialen Fürsorge betätigen könnten.150
In ihrer «Systematischen Einführung» kam Emma Steiger ferner auf die verschiedenen «Träger und Formen der Jugendhilfe»151 zu sprechen. Sie ging in diesem Kapitel im Besonderen auf das «Verhältnis von öffentlicher und privater Jugendhilfe» ein. Sie gestand der freiwilligen Fürsorge eine «Pionierarbeit» zu, verstand aber deren Tätigkeit nur als «Ergänzung der öffentlichen Hilfe».152 Diese privaten Institutionen – so Steiger – besässen ihre Daseinsberechtigung nur solange, als sich der Staat für «Ruhe und Ordnung, Krieg und Frieden» sorgen müsse.
«Wenn sich aber der Schwerpunkt des staatlichen Lebens auf die Sicherung und Förderung der Wohlfahrt seiner Glieder verlegt, so werden Staat und Gemeinden die gegebenen Träger eines grossen Teiles der Jugendhilfe. Denn ihr umfassender Charakter ermöglicht Einheitlichkeit, Planmässigkeit und Gerechtigkeit gegenüber allen Gliedern […].»153
Sie stellte ferner fest, dass sich die privaten Träger oftmals vehement gegen die «Verstaatlichung» der Jugendhilfe zur Wehr setzten, «weil dadurch ihr Helferwillen und ihre Mittel brachgelegt würden». Steiger sah dies aber auch als emanzipatorische Chance, insbesondere wenn es sich um die «Übernahme von Frauenwerken handelt, da der weiblichen Mitarbeit in der öffentlichen Jugendhilfe an manchen Orten noch recht enge Grenzen gezogen sind».154 Abschliessend bemerkte sie, dass für eine «planmässige Jugendhilfe» die Zusammenarbeit zwischen öffentlicher und privater Jugendhilfe koordiniert werden müsse, und verwies noch einmal die freiwillige Fürsorgetätigkeit als Nischenprodukt in die Schranken.
Statuten und Organisation der Armenerziehungsvereine
Nachdem die äussere Abgrenzung der Armenerziehungsvereine gegenüber weiteren Sozietäten mit ähnlichem Profil durchgeführt wurde, soll der Fokus auf die innere Organisation und Entwicklung der Vereine gelegt werden. Was ist aus den Statuten über den Vereinszweck und die verschiedenen Vereinsorgane zu erfahren, wie setzten die Vereinsvorstände ihren Vereinszweck um? Was verstanden die Armenerziehungsvereine konkret unter der «Armenerziehung», und was beinhaltete ihre Auslegung von «Fremdplatzierung»?
Die Satzung des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins soll exemplarisch die Organisation dieser Gesellschaften aufzeigen: Die ersten provisorischen Statuten erhielt der Armenerziehungsverein im Dezember 1848, die definitiven nach der Eröffnung der vereinseigenen Anstalt Augst im Jahr 1854. Sie umschreiben den Vereinszweck, die -mittel, die -tätigkeit, die Mitgliederaufnahme sowie die Vereinsorgane und deren Aufgabenbereich. Verschiedene ausführende Reglemente und Geschäftsordnungen konkretisierten diese Bestimmungen, wobei der Präsident Martin Birmann (1828–1890) befand: «Allen aber wird zu Gemüthe geführt, dass durch keine Statuten das Leben des Vereins erbaut wird, sondern ächt christliche Auffassung unseres Berufs allein unser Thun zum Frommen der armen verlassenen Kinder, des Vaterlandes und unsere eigenen Seele segnen kann.»1
«Der Verein zur Förderung einer bessern Armenerziehung setzt sich den Zweck», so wurden 1848 die provisorischen Statuten eingeleitet, «der Verwahrlosung der Jugend und dem Fortschreiten der Armuth in Basel-Land zu begegnen.»2 Neben dem philanthropischen Ziel und der indirekt geäusserten gesellschaftlichen Verantwortung verfolgte der Verein auch die effiziente Nutzung privater und öffentlicher Gelder, indem «sowohl die dazu verwendbaren Mittel des Staates als auch die Opfer christlicher Mildthätigkeit von Seite des basellandschaftlichen Volkes und anderer edlen Menschenfreunde möglichst vereinigt und nach einem wohlüberdachten Plane allen Theilen des Kantons zu Nutzen gemacht werden.»3 In den auf die provisorischen folgenden definitiven Statuten aus dem Jahr 1854 wurde der pädagogische Vereinszweck durch eine religiöse Komponente präzisiert: «Der Verein sucht auf dem Wege einer christlichen Armenerziehung der Verwahrlosung der Jugend und dem Fortschreiten der Armuth in Baselland zu begegnen.»4 Sämtliche Armenerziehungsvereine übernahmen protestantische und katholische Kinder und «platzierten» sie jeweils bei Pflegeeltern gleicher Konfession. Nur im Kanton Thurgau kam es auf Anstoss des Seraphischen Liebeswerks in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer konfessionellen Aufsplittung, sodass der Armenerziehungsverein nur noch protestantische Jugendliche aufnahm.5 Vom armen- und vormundschaftsrechtlichen Begriff der «Verwahrlosung» verabschiedete sich der basellandschaftliche Vorstand mit der Statutenänderung im Jahr 1931.6 Als ein eigenständiger Paragraf wurde zudem eine Bemerkung zur konfessionellen und politischen Neutralität des Vereins7 sowie ein Passus der vom Staate übertragenen oder noch zu erwartenden Tätigkeiten, insbesondere die Ausübung der Amtsvormundschaft, aufgenommen.8 Neben dem Vereinszweck wurden deskriptive Paragrafen zur Vereinstätigkeit aufgenommen, so trachte der Verein «auf geeignete Weise dahin, dass die armen und verwahrlosten Kinder theils bei rechtschaffenen Familien, theils in eigens zu errichtenden Anstalten eine angemessene christliche Erziehung und Bildung erhalten».9 Hier sprach der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein eine zentrale Komponente der Vereinsarbeit an: Die individuell zu entscheidende «Platzierung» von Kindern und Jugendlichen in Familien oder Anstalten. Der Armenerziehungsverein konnte ab 1853 in Fällen der «Anstaltsversorgung» für Jungen auf «seine» Rettungsanstalt Augst zurückgreifen.10
Die Vereinsmittel bestanden aus Mitgliederbeiträgen, allgemeinen Kollekten (inkl. kirchliche Bettagskollekte) und Zinsen.11 Staatliche Beiträge waren in den ersten provisorischen Statuten (bis auf die Erwähnung im Vereinszweck) noch nicht vorgesehen, diese traten erst bei den definitiven Statuten von 1854 neben der Nennung der «vertragsmässigen Beiträge der Heimathgemeinden oder der für dieselben einstehenden Privaten für das betreffende Kind» in Erscheinung.12 Mitglieder des Vereins waren ursprünglich sämtliche Stifter, die an der Gründungsversammlung des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins am 1. Oktober 1848 in Liestal zugegen waren, sowie sämtliche zukünftigen beitragsleistenden Mitglieder.13
Das oberste Vereinsorgan bildete die jährliche Hauptversammlung, 14 die die «Vollziehung seiner Beschlüsse und die Leitung der Geschäfte überhaupt […] auf je drei Jahre einem Kantonalvorstand [übertrug], bestehend aus neun Mitgliedern».15 Aus jedem der vier Bezirke sollten zwei Vorstandsmitglieder ernannt werden, das neunte wurde vom