können («Explikation»).105 Der Datenvergleich zwischen den Armenerziehungsvereinen ist selbstverständlich abhängig von der historisch gewachsenen Datenmenge und deren Strukturierung (und deren Harmonisierung durch den Autor) sowie die Offenlegung der Vergleichskriterien (Bildung von Alterskohorten, Eintrittsalter, Austrittsalter, Dauer der Fremdplatzierung und so weiter). Mit dem Vergleich wird dabei eine doppelte Zielsetzung verfolgt: Einerseits werden zwei Modelle herausgearbeitet und ihre Eigenheiten («das Besondere, Individuelle») kontrastiert. Andererseits werden im Vergleich Gemeinsamkeiten festgelegt, die in eine Verallgemeinerung münden können.106
Die Armenerziehungsvereine waren statutengemäss dazu verpflichtet, jeweils über das vergangene Vereinsjahr in Form eines Jahresberichts ihren Mitgliedern gegenüber Rechenschaft abzulegen. Diese Rechenschaftsberichte bestanden bei allen Vereinen aus dem Résumé des Präsidenten, der Jahresrechnung und der Bezifferung der fremdplatzierten Kinder. Es bot sich folglich an, die Vereinsfinanzen und die Pflegekinderzahlen quantitativ zu erfassen und einander gegenüberzustellen. Dies konnte bei den Kantonen Baselland und Thurgau, die als Kantonalvereine die Jahresberichte herausgaben, 107 denkbar einfach erreicht werden. Um äquivalente Aussagen auch für die beiden Kantone Aargau und Solothurn zu erhalten, die über bezirks- und amteiweise geführte Armenerziehungsvereine verfügten, wurden die Rechenschaftsberichte des Regierungsrats des Kantons Aargau beziehungsweise des Kantons Solothurn konsultiert, denn die Bezirksgesellschaften waren Empfänger von Kantonsbeiträgen und schuldeten folglich dem Regierungsrat Bericht. Die daraus entstandenen quantitativen Zusammenstellungen lassen somit einen Vergleich auf Kantonsebene hinsichtlich der Aufwendungen für die Fremdplatzierungen zu.
Diesen aggregierten Daten aus den Jahresberichten können fünf sehr detaillierte und umfassende kantonale und bezirksweise zusammengestellte Datensammlungen gegenübergestellt werden. Stellvertretend für die übrigen zehn Bezirks-Armenerziehungsvereine des Kantons Aargau steht beispielsweise der Armenerziehungsverein des Bezirks Baden mit der 379 Personendaten umfassenden quantitativen Erhebung aus den Jahren 1920–1940. Mit den Parametern zu den Personalien, dem «Vereinsaufenthalt», den Pflegeverhältnissen, den Kost- und Lehrgeldern sowie den Angaben zur Ausbildung widerspiegelt diese Erhebung Einzelbiografien, wie sie aus den Pflegekinderkarteien des Vereins hervorgehen.108
Für den Kanton Basel-Landschaft liegt vermutlich die älteste jemals erhobene und annähernd kantonsumspannende Umfrage mit armenerzieherischer Zielsetzung vor, nämlich jene des Landwirtschaftlichen Vereins an die Pfarrämter bezüglich Erfassung «derjenigen Kinder, deren Aufnahme in die Versorgungsanstalt besonders rathsam wäre» aus dem Jahr 1840.109 In den Umfragebogen führten die Pfarrer 253 Kinder auf, deren «körperlicher», «sittlicher» und «intellektueller Zustand» eine Anstaltsversorgung aus ihrer Sicht notwendig machte. Diese (genuine) Enquête – ursprünglich als Bedarfsanalyse für eine zu gründende Anstalt gedacht – führte schliesslich zur Konstituierung des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins. Aus der Pflegekinderkartei des basellandschaftlichen Inspektors stammt die zweite Erhebung von Pflegekinderdaten, die 1217 Teilbiografien aus dem Zeitraum 1917–1961 umfasst.110
Stellvertretend für die sieben weiteren bezirksund amteiweise geführten Armenerziehungsvereine des Kantons Solothurn lässt die Pflegekinder-Datensammlung des Armenerziehungsvereins Balsthal-Thal mit insgesamt 265 Pflegekinderdaten Rückschlüsse auf die verschiedenen Stationen der Fremdplatzierung zwischen 1925 und 1975 zu.111 Aus den Pflegekinder-Kontrollbüchern des Thurgauer Armenerziehungsvereins wurden 500 Einträge aus dem Zeitraum der Vereinsgründung im Jahr 1882 bis 1904 ausgewertet, mit einer Akzentsetzung auf die Herkunft der Kinder und die Gründe zur «Aufnahme» in den Verein.112
Für lokal-mikroperspektivische, regionale, überkantonale und diachrone quantitative Auswertungen kann somit auf rund 2600 Personendaten zurückgegriffen werden (siehe Tabelle 2). Diese geben Aufschluss über das Alter der Kinder und Jugendlichen bei «Vereinsaufnahme» und «Vereinsentlassung», die Dauer der Fremdplatzierung und deren Stationen, Geschlechter- und Konfessionsverhältnis, Ausbildungen und Lehren der jungen Erwachsenen und so weiter, sprich die Verfahrensweise der Vereinsvorstände und weiterer Entscheidungsträger mit vermögenslosen Kindern und deren Herkunftsfamilien.
Tabelle 2: Anzahl Datensätze (Pflegekinder-Teilbiografien) pro Provenienz
Bei den Personendaten wurden folglich quantitative Angaben zu den Personalien der Pflegekinder, den Eckdaten der Fremdplatzierung durch den Verein, die Pflegeverhältnisse und -orte, die Ausbildung und die Kost- und Lehrgelder erhoben. Überkantonale Vergleiche verlassen diese individuelle Mikroperspektive und lassen Rückschlüsse über Einnahmen, Ausgaben und Kostenverteiler zu. Ähnlich wie bei einem Beschlussprotokoll offenbaren sie allerdings lediglich das Ergebnis, nicht aber die Vorgeschichte oder die Beweggründe zur Entscheidung: Warum wurde ein Säugling oder ein Kind in den Verein aufgenommen, und wie lief dieser Vorgang ab? Was waren die ausschlaggebenden Gründe für eine Anstaltseinweisung oder die Platzierung bei einer Familie? Wann und weswegen wurde ein Pflegeverhältnis gelöst und das Pflegekind in eine neue Familie oder Anstalt überführt? Und wer entschied, welcher Jugendliche welche Lehre absolvieren durfte/sollte? Diese angedeutete textbasierte qualitative Analyse lässt sich nur bei denjenigen Datenerhebungen bewerkstelligen, die über das reine Zahlenmaterial hinausgehen.
Erst durch die Kombination der quantitativen und der erneuten qualitativen Analyse (III) nach Mayring können die zentralen Fragen nach dem «Wer», «Warum» und «Wie» zu einem möglichst klaren Bild der Handlungsmuster und Vorgehensweisen der Armenerziehungsvereine und deren Pflegekindern gezeichnet werden. Dabei bewegt sich das Verstehen zwischen dem Vorverständnis, der hermeneutischen Interpretation und dem laufend gewonnenen Sachverständnis («hermeneutischer Zirkel»).114 Die Validität der Untersuchungsergebnisse wird letztlich im engeren Sinn an Aussenkriterien festgemacht, an Forschungsarbeiten mit vergleichbaren Fragestellungen und Untersuchungsgegenständen (aktuelle Forschung zur Fremdplatzierung).115
Die Fremdplatzierung Minderjähriger im Spiegel ausgewählter zeitgenössischer Überblickswerke
Die dauerhafte «Platzierung» von Kindern und Jugendlichen fand schweizweit statt. Dabei gab es im Grund zwei Formen des ausserfamiliären Aufwachsens: die «offene Fürsorge» in Pflegefamilien und die «geschlossene» in Anstalten. Initianten der Fremdplatzierung waren zeitgenössischen Schätzungen zufolge zur einen Hälfte die leiblichen Eltern selbst (ohne behördliche Intervention) und zur andern Behörden und Vereine. Verschiedene Anstalten und Vereine spezialisierten sich auf die langfristige «Platzierung» von Pflegekindern.
Die vom Bund initiierte Aufstellung über das schweizerische Vereinswesen
Die Sozietäten des 18. Jahrhunderts waren in einem liberalen Raum angesiedelt, von den Obrigkeiten des Ancien régime geduldet.1 Mit der Helvetischen Republik stand die gesellschaftliche Emanzipation und damit der Vereinsgedanke markanter im Vordergrund. Während der Restauration war es den konservativen Regierungen nicht mehr möglich, den etablierten, politisch motivierten Vereinen Einhalt zu gebieten, sodass gemässigte Liberale sich zusehends in kulturellen und gemeinnützigen Vereinen organisierten. Zu dieser ersten Gründungsphase zwischen Helvetischer Republik und Regeneration zählen die Zofingia (1819), die Künstlergesellschaft (1805) oder die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (1810). Hier wurde das Ideal der sich austauschenden, gleichberechtigten und gebildeten bürgerlichen Gesellschaft vorgelebt. Die nach 1830 geschaffenen Vereine waren durchaus auch politisch motiviert – und zelebrierten die Errungenschaften der liberalen Kantone gegenüber den katholischkonservativen –, doch gaben sie sich formell apolitisch.2
Die Gründung des Bundesstaats im Jahr 1848 übte auf die weitere Entwicklung des Vereinswesens einen grossen Einfluss aus. «Da eigentliche politische Parteien fehlten, nahmen sich die Vereine der Vermittlung von Bürger und Staat an.»3 In