resultiert. Anhäufen steht für die 1900er- bis 1920er-Jahre, forschen umfasst die anschliessende Zeitspanne bis in die 1960er-Jahre, während erhalten die 1970er- bis 2000er-Jahre betrifft. Die Begriffe funktionieren als thematische Rahmen, wobei bisweilen die Erzählbogen auch in andere Jahrzehnte gespannt werden. Sie markieren die jeweils wichtigsten Sammlungspraktiken eines bestimmten Zeitraums, was nicht bedeutet, dass damals nicht auch andere Praktiken ausgeübt wurden. Nur standen sie nicht derart im Zentrum.
Abb. 5: Katalogbüro nach dem Umbau mit K. Jaggi und A. Siegrist-Ronzani, Schweizerisches Landesmuseum, Raum 421, 1995, SNM Dig. 28836. Der Raum sah praktisch gleich aus zur Zeit der Recherche.
Susan M.Pearce unterteilt die europäische Sammlungsgeschichte in zwei Phasen. Sie spricht von zwei aufeinander folgenden Wissenspraktiken: das «Classic Modernist Collecting» als die Zeit der Ordnung des Wissens und das «Collecting in a post-modernist world» als die Zeit der Kritik am Wahrheitsanspruch dieser Ordnungen und der Beschäftigung mit ihrer sozialen Konstruktion und ihren Wertungen.115 Für die Sammlungsgeschichte des Schweizerischen Landesmuseums trifft diese Periodisierung nicht zu, hier muss von drei Phasen gesprochen werden. Wie ich zeigen werde, gab es innerhalb der Zeitspanne «Moderne» eine weitere wesentliche Praxisänderung.116
Jeder Zeitraum (1900er- bis 1920er-Jahre, 1930er- bis 1960er-Jahre, 1970er- bis 2000er-Jahre) war geprägt von verschiedenartigen Tätigkeiten, die nebeneinander oder alternierend stattfanden und mehr oder weniger eng miteinander verbunden waren. Es gab innerhalb der Zeitspannen «robuste»117 Konstellationen und Beständigkeiten wie auch temporäre Problematisierungen, Brüche und Umbrüche in der Sammlungsgeschichte.118 Insgesamt lassen sich aber die verschiedenen Tätigkeiten in einen jeweils eigenen grösseren Praxiszusammenhang einordnen. Das wollen die drei Leitbegriffe markieren. Als Eckpunkte des gesamten Untersuchungszeitraums sind die Jahre 1899 und 2007 gesetzt. Die Zahlen sind jedoch als Richtdaten zu lesen; sie markieren weder einen zeitgenauen Beginn noch ein präzises Ende der Sammlungstätigkeit.119 1899 steht stellvertretend für den Zeitraum «nach der Eröffnung» (im Sommer 1898) des Schweizerischen Nationalmuseums. 2007 steht für die Zeit der letzten grundlegenden Umstrukturierungen und Neugewichtungen in der Sammlungstätigkeit am Schweizerischen Nationalmuseum. Damals wurde das Sammlungszentrum des Museums in Affoltern am Albis eröffnet und damit erstmals ein gemeinsamer Ort für die Lagerung, Restaurierung, Konservierung und Konservierungsforschung der Sammlung geschaffen.
Die drei Kapitel beginnen jeweils mit der Erzählung über ein Ereignis, ein Dokument oder ein Sammlungsstück, das für die jeweilige Praxis exemplarisch ist. Ausgehend davon werden dann die verschiedenen Aspekte der Tätigkeiten ausgelotet und zueinander in Beziehung gesetzt.
Im Kapitel «Anhäufen» wird es um die Bedeutung der Objektmenge und den Umgang mit ihr in der Sammlungspraxis gehen. Die Erzählung setzt in den 1910er-Jahren ein, als die wachsende Sammlung im Schweizerischen Landesmuseum zum drängenden Problem wurde. Es war augenfällig zu wenig Platz für die Sammlung vorhanden. Daran entzündete sich unter den Vertretern der Politik und des Landesmuseums zum ersten Mal seit der Gründung des Museums eine heftige Debatte über Sinn und Zweck des Museums, und die Praktiken und Ziele des Sammelns am Nationalmuseum wurden grundsätzlich überdacht. Sollte das wichtigste Bestreben sein, möglichst viele Objekte zu erwerben? Noch während darüber diskutiert wurde, veränderte sich parallel dazu unter dem Druck der Menge die alltägliche Sammlungsarbeit; Sammlungsstücke wurden verkauft und weggegeben. Schliesslich wurde Ende der 1920er-Jahre entschieden, die Objekteingänge durch ein neues Auswahlverfahren zu drosseln. Die Entscheidung blieb in den folgenden Jahrzehnten verbindlich, und die Zeit des Anhäufens war vorbei.
Das darauffolgende Kapitel trägt den Titel «Forschen». Ende der 1930er-Jahre setzten am Schweizerischen Landesmuseum verschiedene Forschungstätigkeiten ein. Das neue Wissensbedürfnis war Ausdruck einer Unsicherheit und einer notwendigen Neuorientierung, die mit dem kulturellen und wirtschaftlichen Umbruch zu tun hatte, der das Museumswesen betraf. Der Kunstmarkt professionalisierte sich; neue Akteure traten auf, was das Bedürfnis bei der Museumsdirektion weckte, mehr über die Herkunft der Dinge zu erfahren, die in die Objektsammlung kamen, und dieses Wissen zu dokumentieren. Die Museumsangestellten zweifelten daran, dass ihre Forschungsbemühungen und kunstwissenschaftlichen Expertisen im neuen Marktumfeld genügen würden, um qualitativ wertvolle Objekte zu erkennen und zu erwerben. Hilfe versprachen sie sich von chemischen und physikalischen Verfahren, die eine neue Art der Materialanalyse möglich machten. Zu den kunsthistorischen Forschungsaktivitäten am Landesmuseum kamen nach dem Zweiten Weltkrieg naturwissenschaftliche hinzu, entsprechende Werkstätten, Ateliers und Labors wurden eingerichtet. Die neuen Forschungspraktiken am Schweizerischen Landesmuseum waren aber auch der Versuch, eine neue Legitimation für den staatlichen Museumsbetrieb zu finden. Das Landesmuseum erhielt Konkurrenz im Kulturgütererhalt durch die zahlreichen Gründungen von Regionalmuseen und die lokalen Bestrebungen des Heimatschutzes und der Denkmalpflege, und es stellte sich die Frage, ob ein staatliches Museum noch nötig war. Die Vertreter des Landesmuseums versuchten deswegen, in einem anderen Bereich national unentbehrlich zu werden und ihr Haus als führendes Forschungszentrum für Konservierungs- und Restaurierungsfragen zu etablieren.
«Erhalten» ist der Leitbegriff des anschliessenden Kapitels. Es geht darin sowohl um das Erhalten der Materialität der Sammlungsstücke in den 1960er-Jahren und in den 2000er-Jahren als auch um das dynamische Erhalten von historischem Wissen über die Objekte, das in den Jahrzehnten dazwischen, in den 1970er- bis 1990er-Jahren wichtig wurde.120 In den 1960er-Jahren hatten sich die Mitarbeitenden des Museums hauptsächlich um den Erhalt der Materialität der Objekte gekümmert. Sie versuchten, die klimatischen Bedingungen in den Ausstellungs- und Aufbewahrungsräumen für die Sammlungsstücke zu optimieren und die Objekte mit Konservierungsmitteln so zu behandeln, dass ihr Alterungsprozess verlangsamt wurde. Ab den 1970er-Jahren kam es zu einer grundlegenden Neuausrichtung der Erhaltungspraxis: Nicht mehr die Materialität eines Objekts sollte erhalten werden, sondern historisches Wissen. Der Erhalt von Wissen bedeutete, es zu vermitteln, weiterzugeben und zu teilen. Statt der Konservierungsmittel wurde die Wissensvermittlung relevant. Als wichtigstes Vermittlungsformat des Museums wurden die Ausstellungen angesehen. In den folgenden Jahrzehnten galten alle Anstrengungen der Ausstellungstätigkeit, während die übrigen Praktiken (Erwerben, Inventarisieren und Konservieren), die jahrzehntelang derart wichtig waren, zweitrangig wurden. Erst Anfang der 2000er-Jahre wurde der Materialitätserhalt wieder bedeutsamer, jedoch nicht in gleicher Art und Weise wie in den 1960er-Jahren.
Zum Schluss fasse ich meine Arbeit zusammen anhand der Sammlungspraktiken rund um die Postkutsche, und auch die «Weisse Masse in Glasbehälter» wird nochmals in Erscheinung treten.
Platzprobleme um 1910
1908, zehn Jahre nach der Eröffnung des Schweizerischen Landesmuseums, befanden sich schätzungsweise 40 000 Objekte in seiner Sammlung.1 Was war in den ersten Jahrzehnten gesammelt worden? Einen repräsentativen Eindruck davon gibt der Auszug aus einer Liste der Geschenke und Ankäufe von 1909. Solche Listen wurden in den Jahresberichten des Museums publiziert (Abb. 6).2
Die Listen beginnen üblicherweise mit den Schenkungen, gefolgt von den Ankäufen und den «[a]nderweitige[n] Vermehrungen der Sammlungen».3 Die erworbenen Objekte stammen aus dem Zeitraum der Ur- und Frühgeschichte bis zum 19. Jahrhundert. Die Sammlungsstücke wurden im Handel, auf Auktionen und direkt von Privatpersonen erworben. Mehrheitlich stammten sie aus den Haushalten der städtischen und ländlichen Oberschicht des Kantons Zürich.4 Auch die zahlreichen Gegenständen, die dem Museum ab dem Eröffnungsdatum geschenkt oder in Form von Legaten vermacht wurden, stammten viele aus Zürich.5 Zur Erwerbung von ur- und frühgeschichtlichen Objekten wurden auch museumseigene Ausgrabungen durchgeführt.6
Die Objekteingänge entsprachen nicht vollumfänglich den Wunschvorstellungen der Museumsbehörden. Manche begehrte Stücke waren auf dem Markt nur schwer erhältlich (etwa gotische Möbel).7 Andere