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befand sich insgesamt in keiner schlechten Ausgangslage. Etliche Unternehmen hatten von der Nachfrage aus kriegführenden Staaten profitiert, zum Beispiel konnte die Winterthurer Metall- und Maschinenbaufirma Sulzer Umsatz, Beschäftigung und Gewinn steigern. Die Entwicklung des Finanzplatzes hatte starke Impulse erhalten. Nachdem man erlebt hatte, was eine Verknappung ausländischer Kohle bedeutete, wurde die Elektrifizierung der Schweizerischen Bundesbahnen beschleunigt, zum Vorteil der Maschinen- und Elektroindustrie – in Winterthur und Oerlikon wurde ab 1919 die Güterzugslokomotive «Krokodil» produziert. Es bildete sich eine eigentliche Nachkriegskonjunktur aus, doch in der zweiten Hälfte 1920 setzte eine rund zweijährige Krise ein. Einer ihrer Gründe war der Zerfall der deutschen Währung, der die schweizerischen Exportunternehmen einer starken Preiskonkurrenz aussetzte. Es kam zu erheblicher Arbeitslosigkeit. Die sozialen Notmassnahmen waren indes ausgelaufen, während der Milchpreis in Zürich auf 50 Rappen stieg (bei einem Medianeinkommen der Männer von rund 400 Franken).3

      Teilweise parallel scheint sich die politische Konjunktur entwickelt zu haben. Vorerst galt es, Konsequenzen aus der Konfrontation im Landesstreik vom November 1918 zu ziehen, und dies geschah auf unterschiedliche Weise. Der Eindruck der europäischen Katastrophe, dann die Erwartung des Friedens und das Gefühl, vor einer offenen Zukunft zu stehen, begünstigten darüber hinaus offenbar grundsätzliche Reflexionen.

      Sehnsucht nach Harmonie

      Auffällig ist – in einer Zeit verbreiteter Bedürftigkeit – die Kritik am «Materialismus», an der Rolle des Geldes, am Kampf der partikularen Interessen. «Der rücksichtslose, seichte Materialismus muss einer höheren Weltanschauung weichen», lautet einer von elf Gedanken, die der Schweizerische Bund für Reformen der Übergangszeit4 1919 publizierte. Leitbegriff ist der auf Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit beruhende «Sozialstaat», in dem der Klassenkampf gegenstandslos wird. Das Manifest der – kurzlebigen – Vereinigung, der Personen aus Wirtschaft und Gewerkschaften, Politik, Militär und Kultur angehörten, war gewiss beeinflusst von Leonhard Ragaz.5 In seinem Buch «Die neue Schweiz» (1917), einem «Programm für Schweizer und solche, die es werden wollen», nannte der Begründer der religiös-sozialen Bewegung die Vorkriegszeit eine «Zeit der Veräusserlichung und der Entseelung». Dem Kapitalismus und dem Egoismus wollte er eine sittlich verbundene Volksgemeinschaft entgegensetzen. Im inneren Konflikt mit der Kirche und der vorherrschenden Wissenschaft trat Ragaz 1921 von seiner Theologie-Professur zurück und widmete sich fortan besonders der Friedensbewegung.

      Auf literarischer Ebene gehört in diesen Zusammenhang Jakob Bossharts 1921 erschienener Roman «Ein Rufer in der Wüste».6 Der tragische Held gerät in der Vorkriegsgesellschaft als konsequenter Idealist sowohl mit dem Unternehmer- als auch mit dem kämpferischen Arbeitermilieu in Konflikt. Eine Art Zivilisationskritik findet sich ebenfalls in Parteidokumenten. «Im Protzentum und in elender Moral geht ein guter Teil unserer schweizerischen Einfachheit und Ehrenhaftigkeit zugrunde», hielten die Junioren der Zürcher Freisinnigen 1920 fest.7 Konkretisiert hat sich das Bestreben, «dem verderblichen Materialismus einen Damm zu bauen», in der Gründung der Evangelischen Volkspartei (EVP, 1917 im Kanton Zürich, 1919 auf schweizerischer Ebene), die sich ausserhalb des Gegensatzes von Bürgertum und Arbeiterschaft stellen wollte.8 Im Übrigen scheint sich diese Welle verlaufen zu haben. Man mag sie als Ausdruck eines Unbehagens angesichts der internationalen industriellen Zivilisation, der sozialen Zerklüftung und von Tendenzen zur Individualisierung interpretieren.

      Zu dem, was man Modernisierungskritik nennen kann, fügten sich eine Idealisierung des ländlichen Lebens und ein Bild der Stadt als eines in jeder Beziehung ungesunden Orts. Die Bauernschaft halte den Städter «für einen halben oder ganzen Müssiggänger, für einen Weichling und Genüssling», formulierte Leonhard Ragaz gewiss übertreibend; besonders hasse sie die sozialistischen Arbeiter.9 Im Landesstreik waren bewusst ländliche Truppen eingesetzt worden, und für die Grippeopfer unter den Soldaten machten manche wiederum die Sozialisten verantwortlich. Schon gegen die Eingemeindung, die Zürich 1891/93 aufgrund einer kantonalen Abstimmung schlagartig zur grössten Stadt der Schweiz machte, waren bäuerliche Organisationen angetreten, indem sie ein «neues Babylon» oder ein «kleines London» als Schreckgespenster an die Wand malten (wobei sie die Tonhalle als «Heulkasten» bezeichneten). Ähnlich befürchteten manche mit der Einführung des Proporzwahlrechts 1916 eine Stärkung des «Stadtmolochs».10

      Eine andere Kritik richtete sich gerade gegen ländlich-nationale Mythen. Der Schriftsteller Jakob Bührer nahm sich «Das Volk der Hirten» satirisch vor, machte in «Marignano» einen Dienstverweigerer zur zentralen Figur und formte in seinem Stück «Ein neues Tellenspiel» (1923) den Helden zu einem Weltbürger um, der auf Distanz zum Rütlischwur der Besitzenden geht und von einem universalen Aufstand aller Leibeigenen und Hörigen träumt.11 Die Bühnenwerke wurden erstmals in Zürich aufgeführt.

      Als Bewegung des individuellen, inneren Aufbruchs – nach dem Bruch mit Bestehendem – nahm in dieser Zeit die Psychoanalyse einen Aufschwung. Um Carl Gustav Jung bildete sich 1916 der Psychologische Club Zürich als fachlicher wie auch persönlicher Kreis, von dem verschiedene weitere Aktivitäten, von der Vortragsveranstaltung bis zum Tanzkurs, ausgingen.12

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      Irma Löwinger und Alexander Schaichet auf dem Zürichsee, 1918.

      Einseitiger Patriotismus

      Überwand ein im Krieg belebter Patriotismus gesellschaftliche Trennungen? Mit Blick auf die deutsch-welsche Divergenz hatte Carl Spitteler mit seiner berühmten Rede im Dezember 1914 bewusst gemacht, «dass der politische Bruder uns nähersteht als der beste Nachbar und Rassenverwandte». Auch ein soziales Werk konnte als Beitrag zur Erneuerung der Schweiz verstanden werden. So wollte Maurice Champod, Propagandachef der Firma Maggi und dann Initiant der im Kern 1917 in Winterthur gegründeten Pro Senectute, mit seinem «Appell an den vaterländischen Sinn […] das Gefühl der Zusammengehörigkeit stärken».13

      Besonders trat allerdings der militärische Aspekt des Patriotismus hervor. Der Aktivdienst konnte eine verbindende Erfahrung sein. In Robert Faesis «Füsilier Wipf» wird zudem bilanziert: «feldtüchtig – welttüchtig» –, eine Kurzformel für die Erziehungsfunktion der Armee.14 Für die vom Krieg «zu des Vaterlandes Schutz» geforderten Opfer wurde auf Initiative der kantonalzürcherischen Unteroffiziersgesellschaft das flammenförmige Denkmal auf der Forch errichtet. An dessen Einweihung durch den Bundespräsidenten und weitere Behördenvertreter (ohne die Zürcher SP-Stadträte) nahmen 1922 Zehntausende von Personen teil. Die meisten der 371 in der Kriegszeit ums Leben gekommenen Wehrmänner waren Opfer der Grippeepidemie während des Ordnungsdienstes gegen den Landesstreik. Daher wird das Monument überspitzt auch als «Siegerdenkmal des Zürcher Bürgertums gegenüber der Arbeiterbewegung» interpretiert.15

      Als tatsächlich eingesetztes Instrument zur Verteidigung der bürgerlichstaatlichen Ordnung wirkte die Armee jedenfalls auch polarisierend. «Es kann nur von Gutem sein, wenn der Stadt Zürich das internationale Bild durch einen vaterländischen Einschlag, den Anblick des Militärs, etwas verdorben wird», meinte Divisionär Emil Sonderegger im Mai 1919, als sich die Regierung für den Rückzug der Ordnungstruppen aus Zürich aussprach.16 Anlässlich des Landesstreiks formierten sich zudem Bürgerwehren, Organisationen von Freiwilligen zur Unterstützung der Ordnungstruppen. Die Zürcher Stadtwehr trat namentlich beim lokalen Generalstreik im August 1919 in Funktion, musste aber grösstenteils untätig bleiben. Der als Dachorganisation der Bürgerwehren gegründete Schweizerische Vaterländische Verband stellte einen «Werkdienst» (als Streikbrecher) auf, spielte im Hintergrund eine gewisse politische Rolle und betätigte sich später insbesondere als Zuträger des Staatsschutzes.17

      Der Anfang des Jahrhunderts aufgekommene Diskurs der «Überfremdung» erhielt eine gewisse Eigendynamik. Der Anteil der Ausländer in der Schweiz betrug 1914 rund 15 Prozent, in Zürich das Doppelte, ging dann jedoch zurück. Leonhard Ragaz sah «unser Volkstum […] mit Auflösung bedroht».18 Das Thema kam auch