Anton Aigner

Die Kunst des Leitens


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Beispiele, die auf etwas hinweisen, was uns nicht weiter auffällt, weil es ganz selbstverständlich ist: Führen bzw. sich führen lassen gehört zu unserem Alltag, zu unserem Leben. Ob in der Familie oder in der Schule, auf der Lehrstelle oder auf der Universität, in der Firma oder im Verein: Immer braucht es Menschen, die vorangehen und Verantwortung übernehmen, die Vorbild und Stütze für die anderen sind, die die Aufgabe des Leitens und Führens übernehmen. Und natürlich braucht es auch in unseren Kirchen Personen, die die Leitung übernehmen: Pfarrer und Pfarrerinnen leiten ihre Gemeinden; die gleiche Aufgabe übernehmen immer mehr Pastoral-Assistentinnen und -Assistenten, auch wenn sie nach geltendem Kirchenrecht den Titel der Leitung (noch immer) nicht führen dürfen. Äbte und Priorinnen, Generalobere und Generaloberinnen stehen ihren Ordensgemeinschaften vor. Und in den verschiedenen diözesanen Gremien und Organisationen gibt es ebenfalls viel Bedarf an Führungspersonal.

      Es ist nun eine interessante Tatsache, dass es für viele Leitungsaufgaben, die wir im Laufe eines Lebens übernehmen, so gut wie keine »Ausbildung« gibt. Das gilt nicht nur für das Vateroder Muttersein, sondern auch für viele andere Leitungsaufgaben, denen wir uns stellen (müssen). In unseren Kirchen ist das nicht anders. Sehr oft werden Leiterinnen oder Leiter »aus der Not geboren«. Das geht manchmal gut, manchmal auch nicht. Bisweilen merkt man erst dann, wenn das Experiment misslungen ist und der Scherbenhaufen mit Mühe gekittet wird, dass beim Leiten schon kleine Fehler verheerende Folgen haben können. Das rechte Leiten ist eine Gabe, die dem oder der einen mehr geschenkt worden ist als dem oder der anderen; doch kann man beim Leiten auch immer noch dazulernen. Die eigenen Leitungserfahrungen anderen Menschen weiterzugeben ist ein Anliegen dieses Buches.

       Was bedeutet »leiten«?

      Das Wort »leiten« kommt vom althochdeutschen »laidian«, was so viel bedeutet wie »gehen machen«. Ganz ähnlich leitet sich das Wort »führen« von einer althochdeutschen Wurzel ab, die »fahren machen« bedeutet. Beide Wörter weisen also auf eine Bewegung hin, die der Leiter oder Führer bewirken soll. So wie der Lokomotivführer den Eisenbahnzug in Bewegung setzt, soll der Leiter oder Führer Menschen in Bewegung bringen. Der Bedeutungsgehalt dieser beiden Wörter ist ziemlich ähnlich. Ich habe mich im Titel (und zumeist auch im Text) dieses Buches für das Wort »leiten« entschieden nicht zuletzt auch deshalb, weil »der Führer« im deutschen Kontext einen unangenehmen Beigeschmack hat.

      Menschen leiten ist etwas ganz anderes als Menschen begleiten. In den christlichen Buchhandlungen findet man meist eine ganze Reihe von Büchern zur geistlichen Begleitung; doch nach Büchern über christlich motiviertes Leiten muss man lange und oft vergeblich suchen. Der Leiter oder die Leiterin geht voran; der Begleiter oder die Begleiterin geht mit. Wer begleitet, muss vor allem gut und geduldig zuhören können; wer leitet, muss klar und unmissverständlich das zum Ausdruck bringen, was er bzw. sie will. Die Verantwortung dafür, dass »etwas vorangeht«, hat in einer Gemeinschaft in erster Linie der Leiter oder die Leiterin; doch bei der geistlichen Begleitung liegt diese Verantwortung fast ausschließlich bei der Person, die sich begleiten lässt. (Ungeduldigen Begleiterinnen oder Begleitern kostet das oft eine große Portion an Nervenkraft.) Die Liste der Unterschiede ließe sich noch weiter fortsetzen; aber es dürfte wohl schon klar geworden sein, dass Leiten und Begleiten in wesentlichen Punkten völlig verschieden sind. Der Wechsel von der einen auf die andere Aufgabe verlangt auch einen konsequenten Wechsel der inneren Einstellung und des Zugehens auf den Menschen.

      Leiten bedeutet also – von seiner Sprachwurzel her betrachtet – »Menschen in Bewegung setzen«. Wenn durch eine kluge Leitung erreicht wird, dass die Gruppe »funktioniert«, dass Konflikte angesprochen und beigelegt werden können, dass jeder und jede seinen/ihren Platz findet und sich gebraucht fühlt, so ist schon viel erreicht. Christlich motiviertes Leiten bedeutet aber mehr. Wer aus dem Geist Jesu Christi heraus Menschen leitet und führt, soll ihnen helfen, den Weg zu Gott zu finden, so gut er oder sie es eben vermag. Das mag ein hohes Ideal sein, das nur selten und in kleinen Ansätzen verwirklicht wird; das tut nichts zur Sache. Wichtig ist, dass es im Auge behalten und nicht vergessen wird.

      Es gab in der Geschichte der Christenheit zahlreiche Frauen und Männer, die für die Menschen ihrer Zeit bedeutende Leitungspersönlichkeiten waren; Ignatius ist nur eine von vielen. Doch sie alle sind letztlich nichts anderes als spezielle »Ausformungen« des Leiters schlechthin, wie er uns in den Evangelien begegnet: Jesus Christus. Er ist der Meister, der mit seinem Ruf »Folge mir!«, wörtlich übersetzt: »Hinter mir her!«, die Menschen in Bewegung bringt und auf den Weg zum Vater führt. Er ist der, der vorangeht, der wie ein guter Hirt jeden Einzelnen und jede Einzelne beim Namen kennt und »auf gute Weide führt« (vgl. Joh 10,1–16). Er ist schließlich auch bereit, sein Leben für jene einzusetzen, die ihm anvertraut sind. So wird er selber zum Weg, auf dem »die Seinen« zum Vater finden. Wer christlich leiten will, muss an Jesus Christus Maß nehmen, soll in seinem Leben etwas von diesem Jesus darstellen, und sei es noch so wenig, soll selber zum Weg werden, auf dem die Menschen zu Gott finden. Nicht nur Personen, die innerhalb der Kirche eine Leitungsposition innehaben, sondern auch Eltern und LehrerInnen, Firmenchefs und Vereinsvorstände, die aus christlicher Gesinnung heraus Menschen führen wollen, verkörpern in gewisser Weise Jesus Christus, der sich selber als der gute Hirte bezeichnet, der gekommen ist, dass »die Menschen das Leben in Fülle haben« (Joh 10, 10).

       Die Absicht dieses Buches

      Ignatius von Loyola ist heute nicht nur den Jesuiten, die ihn als ihren Ordensgründer verehren, sondern darüber hinaus vielen Menschen kein Unbekannter mehr. Sie wissen um seine spannende Biographie mit dem bemerkenswerten Bekehrungserlebnis nach seiner Verwundung in Pamplona; sie kennen ihn als einen mystisch reich beschenkten Heiligen. Sie schätzen vor allem das kleine Büchlein, das er verfasst und »Geistliche Übungen« genannt hat; unzählige Menschen verdanken den »Exerzitien« des Ignatius mit ihrer feinen Lehre der »Unterscheidung der Geister« Klarheit über ihren weiteren Lebensweg und Hilfe in einer schwierigen Entscheidungssituation. Man muss nur die über vierzig Titel in der Reihe »Ignatianische Impulse« überfliegen, um zu entdecken, in welch vielfältiger Weise ignatianische Spiritualität unser Leben betreffen und bereichern kann. Nun war Ignatius nicht nur ein begnadeter Mystiker und eifriger Seelsorger, sondern auch ein hervorragender Organisator und ein vortrefflicher Leiter seiner Gruppe, die seit den Gelübden der ersten sieben Gefährten auf dem Montmartre in Paris bis zum Tod des Ignatius im Jahre 1556 innerhalb von 22 Jahren auf etwa 1000 Mitglieder, verstreut auf ein Dutzend Länder auf drei Kontinenten, angewachsen ist. Ignatius war nicht nur ein guter Seelenführer, wovon seine inspirierenden Briefe Zeugnis geben, sondern auch ein ausgezeichneter Leiter jener Organisation, die er selbst gegründet und bis zuletzt fest in der Hand hatte. So legt sich die Frage nahe: Was ist das »Geheimnis« seines Leitens? Oder anders ausgedrückt: Gibt es ein »Ignatianisches Leitungsmodell«? Und wenn ja: Kann dieses Modell eine Hilfe sein auch für andere, oft ganz unterschiedliche Leitungssituationen, die Menschen zu bewältigen haben und die weiter oben schon genannt worden sind?

      Meine persönlichen Leitungserfahrungen gründen in den Aufgaben, die mir von meinem Orden anvertraut worden sind: als Leiter eines Jugendhauses, als Direktor eines Exerzitien- und Bildungshauses, als Kirchenrektor. Meine wichtigste Lehrzeit waren aber die zwanzig Jahre, in denen ich in drei verschiedenen Häusern und Städten Jesuitengemeinschaften von ganz unterschiedlicher Größe geführt habe. Da ich seit mehr als 25 Jahren regelmäßig Seminare für Eheleute gebe, ist mir auch die Situation in Familien und Partnerschaften nicht fremd. Natürlich ist das vorliegende Buch vor allem aus meinen Erfahrungen in Jesuitengemeinschaften heraus geschrieben; hier bin ich gleichsam »kompetent«. Doch können diese Erfahrungen auch anderswo ihre Gültigkeit haben und eine Hilfe sein in Gemeinschaften von Männern und Frauen, innerhalb der Kirche oder auch außerhalb, im engen Zusammenleben einer Familie wie im großen Verband eines Betriebes. Sich von Ignatius einiges abschauen für das eigene Leiten und Führen von Menschen – das ist das Anliegen dieses Buches.

      Die Leserin und der Leser werden bei der Lektüre auf keine raffinierten »Leitungstricks« stoßen, sondern vor