können nur in Beziehung zu Eltern, Erwachsenen oder anderen Menschen ihr Leben leben. Aber vielleicht ist gerade dies ihre wichtigste Botschaft: Leben heißt, in Beziehung zu leben; »alles wirkliche Leben ist Begegnung« (Martin Buber). Und Leben heißt, im Leben Leben zu lernen. »Erwachsen-Werden und Kind-Bleiben« ist im Evangelium ein entscheidendes Ziel aller Nachfolge auf dem Weg mit Jesus. Jünger zu sein heißt, lebenslang ein Lernender zu sein und in diesem Sinne Kind.
Es scheint, dass gerade dieser Aspekt in geistlichen Besinnungstexten, auch in Exerzitientagen, in Zeiten des geistlichen Übens, nicht selten zu kurz kommt. Der frühere Generalobere der Gesellschaft Jesu, Pater Peter Hans Kolvenbach, machte vor einiger Zeit in einem nachdenklich machenden Artikel auf dieses Defizit aufmerksam: »Verbergt nicht das verborgene Leben Jesu!« Andernfalls würde Wesentliches der Botschaft Jesu und seines eigenen Bewusstseins in seiner Beziehung zu Gott als »Abba«, als seinem und unserem Vater, aus dem Blick geraten.
Die Überlegungen dieses Buches möchten für das eigene Glaubensbewusstsein und Gebetsleben behilflich sein. Sie können und wollen aber auch durch ihre Einsichten, Impulse und Fragen für die Exerzitien des hl. Ignatius von Loyola anregend wirken – sowohl für diejenigen, die den Exerzitienweg gehen, wie auch für jene, die andere dabei begleiten.
Vincent van Gogh, Erste Schritte © bpk | The Metropolitan Museum of Art, New York
I. | Erste Schritte – Gedanken zu einem Gemälde von Vincent van Gogh* |
Ein in leuchtenden Farben gemaltes Bild, eine junge Familie, eine ländliche Idylle. In einem umfriedeten Garten hinter dem Wohnhaus ist eine junge Frau mit ihrem Kleinkind gerade durch das Gatter getreten, führt das Kind dem überrascht-beglückten Vater entgegen.
Ein erster Eindruck, den man haben kann: ein Kind, das nur kleine, sehr kleine Schritte tun kann; ein Kind, von der Mutter geführt, vom Vater freudig erwartet. Überall hilfreiche und sprechende Hände! Auch das Kind streckt seine kleinen Hände aus, sieht den Vater – und kann plötzlich nur noch eines: in dessen ausgebreitete und einladende Hände hineinlaufen.
Vieles ist hier angedeutet: Nähe suchen – Geborgenheit erfahren – willkommen geheißen werden – gehalten sein – kleine Schritte tun auf jemanden zu, der uns erwartet. Die Eltern haben und nehmen sich Zeit. Wichtige Zeit. Weil es das Kind gibt, weil ein Kind Zeit braucht. Der Vater hat seine Schaufel beiseitegelegt, ist in die Hocke gegangen und hat sich für das kleine Kind klein gemacht. Vielleicht hört das Kind zum ersten Mal den Lockruf »Komm!«. Vielleicht helfen die Hände der jungen Mutter dem Kind zu begreifen, was ihm ermunternd gesagt wird: »Geh!« Und so geschieht es: Das Kind macht erste Schritte. Es »weiß« nicht, dass es Schritte macht, aber es sieht und erlebt Arme, die es willkommen heißen. Im Vertrauen auf diese einladenden Arme kann das Kind etwas, was es vorher nicht konnte: Schritte tun, weil es erwartet ist. Es beginnt auf ein »Du« zuzugehen, das es unendlich gut mit ihm meint.
Ein Familien-Idyll? Ja, vielleicht – aber vielleicht auch mehr. Nicht zufällig spielen in dem Bild, das van Gogh »Erste Schritte« genannt hat, Arme und Hände der Eltern eine entscheidende Rolle: die weit ausgebreiteten Arme des Vaters, die Stütze und Halt gebenden Hände der Mutter, die das Kind zwar führen, ihm aber gleichzeitig zutrauen, die wichtige Freiheit für die ersten eigenen Schritte auszuprobieren. Halt geben – und doch die selbst gewählten Schritte ermöglichen helfen. Das Kind selbst: In einem noch ungebrochenen Vertrauen ahnt der kleine Mensch, dass da jemand ist, dem er sich überlassen kann. Und das genügt, um aufzubrechen, sich anzuvertrauen, ja sich auszuliefern.
Es bedarf nur eines aufmerksamen Blickes in die Bibel, um dort an unzähligen Stellen, in ganz verschiedenen Situationen, so z.B. in vielen Psalmen, die starken Hände eines Vaters und die beschützend-sorgenden Hände der Mutter gleichnishaft für die Liebe Gottes zu uns Menschen zu entdecken. Ohne diese Hände gäbe es keine Schritte; alle Versuche aufzubrechen würden rasch in Stürzen enden. Doch so bleibt der Mensch gehalten und geführt, er bleibt eingeladen zu einem Ziel, das ihm Zuflucht und Zärtlichkeit für ein ganzes Leben schenken will: »Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände« (Jes 49,15–16).
In einem Gedicht-Text hat der evangelische Pfarrer und Schriftsteller Albrecht Goes eine ähnliche Erfahrung im Umgang mit den eigenen Kindern beschrieben, wie sie Vincent van Gogh uns in seinem Bild vermittelt hat. Es heißt: Die Schritte.1
Die Schritte
Klein ist, mein Kind, dein erster Schritt,
Klein wird dein letzter sein.
Den ersten gehn Vater und Mutter mit,
Den letzten gehst du allein.
Seis um ein Jahr, dann gehst du, Kind,
Viel Schritte unbewacht,
Wer weiß, was das dann für Schritte sind
Im Licht und in der Nacht?
Geh kühnen Schritt, tu tapfren Tritt,
Groß ist die Welt und dein.
Wir werden, mein Kind, nach dem letzten Schritt
Wieder beisammen sein.
Albrecht Goes
* Siehe beiliegende Karte
II. | Kind-Sein – elementare Wirklichkeit des Menschseins |
»Mensch werden heißt Kind werden. Seit Adam und Eva gibt es keine Ausnahme davon.« So beginnt ein Text des verstorbenen Bischofs von Aachen, Klaus Hemmerle, in dem er darüber nachdenkt, was wohl als menschliche »Grundbedingung« unverzichtbar zu unserem Menschsein gehöre. Bischof Hemmerle sagt dann: »Der Weg zum Menschen führt über das Kind. Es ist Gottes eigener Weg. Gott Sohn ist Mensch geworden, indem er Kind wurde.«
In diesem Band geht es um das »Kind- und Jünger-Sein vor Gott« im Geist der ignatianischen Exerzitien. Natürlich unlösbar rückgebunden an das Wort der Heiligen Schrift, an die Kindheitsberichte in den Evangelien. Fragen wir uns mithin zu Beginn, was denn das Ursprünglichste sein könnte, was eine Botschaft vom Kind-Sein ausdrücken will.
Was Bischof Hemmerle in seiner unnachahmlichen Art so knapp ausdrückt, können wir auch in der Spiritualität der Exerzitien entdecken: dass gerade die »Geistlichen Übungen« des Ignatius viele Impulse enthalten, die ein geistliches Leben – eben im Sinne des »Kind-Seins« und des »Kind-Werdens« – befruchten können.
Ein Kind ist ein »anfangendes Wesen«. Es ist bedürftig und verlangend danach, dass man es nicht übersieht. Die Bedürftigkeit besteht wesentlich darin, dass ein Kind diese seine Bedürftigkeit selbst gar nicht differenziert direkt ausdrücken kann und sie trotzdem – oder gerade deswegen – da ist. Ja unübersehbar »da« ist. Die Bedürftigkeit eines Kindes ist etwas ganz Elementares seines Kleinseins. In seinem Schreien bekommt dies dann ja auch einen unüberhörbaren Ausdruck, der sich schrittweise sprachlich ausdrücken lernt. Immer aber lebt die Bedürftigkeit davon, einverstanden zu sein, sich helfen zu lassen und Abhängigkeit zu akzeptieren. Das ist es, was wohl ganz ursprünglich schon zum Mensch-Sein gehört: sein »Kind-Sein«: Ein Kind kann nur aus Beziehungen und in Beziehungen leben. Sein »Existenzial« besteht darin, dass es durch sein Existieren die Eltern – als Erzeuger und Ernährer – daran erinnert und ihnen bewusst macht, dass sie Leben zeugen und pflegen können. Jedes Weinen, jedes Schreien, jedes Augenöffnen will den Eltern nur eines signalisieren: »Ich bin da! Helft mir, ich brauche euch! Helft mir, dass ich mich finde! Dann helfe ich euch zu entdecken, was es bedeutet, Eltern zu sein.«
Kinder