Welt, in der wir heute gläubig und glaubwürdig zu sein versuchen: die Welt der religiösen, weltanschaulichen Vielfalt.
Nun gibt es aber noch eine weitere Art von Verantwortung – neben der aufrüttelnden Frage Gottes und der lernbereiten Gestaltung der Welt miteinander. Gott ruft uns in die Verantwortung – das zeigt sich auch darin, dass viele von Ihnen Aufgaben haben, die folgenschwere Entscheidungen verlangen. Sie haben Einfluss auf das Leben vieler. Sie sind an Schaltstellen tätig. Sie „haben Verantwortung“ in diesem Sinn. Deshalb sage ich nicht nur „Gott ruft uns zur Verantwortung“, sondern „Gott ruft uns in die Verantwortung“: Er hat uns an Orte gestellt, an denen es auf unsere Klugheit ankommt, an denen wir Entscheidendes ermöglichen können: Wo wir Gutes bewirken können, aber auch das, was sich dann als verkehrt herausstellt; wo wir erheblichen Schaden anrichten können. Das gehört zur Verantwortung.
Wo wir unsere Verantwortung spüren, fragen wir uns deshalb auch, ob wir richtig entscheiden. Als Gläubige in Verantwortung lautet die Frage: Wählen wir wirklich das, was Gott will? Sind wir, auch wo wir gar keine große Entscheidung anstehen sehen, seinem Willen treu? Und: Wie können wir das herausfinden? Hier helfen uns natürlich unsere jeweiligen heiligen Texte. Von der Ur-Kunde unseres Glaubens wollen wir uns mehr und mehr prägen lassen. Sie schenkt uns Orientierung. Jedoch gibt sie selten die unmittelbare Antwort für heute. Jede(r) von uns steht vor Weichenstellungen und fragt:Was ist der bessere Weg für mich und meine Gemeinschaft und für unsere Gesellschaft? Wieviel Anpassung ist notwendig, und wieviel Abgrenzung? Wer ist die richtige Person für diese oder jene Aufgabe? Welche Menschen übersehen wir gerade, welche Entwicklungen, welche Gefahren und welche Chancen? Dabei scheint es mitunter, dass andere sich ihrer Sache sicherer sind als wir selbst. Voller Überzeugung behaupten sie: „So muss es gemacht werden, das ist Gottes Wille!“ Und dann stellt sich nicht selten heraus, dass sie falsch liegen. Nicht wer am lautesten daherkommt, nicht wer den Gotteswillen oder das Schriftwort klar verstanden zu haben behauptet, hat deshalb schon recht.
Ein Stil des Geistes
Was hilft zum verantwortlich Entscheiden? „Überlieferte Weisheit für den interreligiösen Dialog“, dazu will ich heute sprechen; und das heißt: Wir sind uns in manchen Glaubensfragen nicht einig und wollen doch miteinander reden; um einander besser zu verstehen und um uns in Weltfragen auch zu verständigen. Wir müssen gut entscheiden, ohne uns in allem einigen zu können. Was uns auf dem Weg zur Entscheidung hilft, ist oft die „überlieferte Weisheit“. Jede Gemeinschaft hat ihre eigene überlieferte Weisheit, lebt aus ihr, versteht sich aus ihr, entscheidet mit ihr. Für diese überlieferten Weisheiten haben die verschiedenen Religionen verschiedene Bezeichnungen. Christ(inn)en sprechen hierbei oft von der „geistlichen Tradition“. Warum „geistlich“?
Die große Selbstsicherheit entlarvt sich, wie gesagt, leicht als nur scheinbare Treue zu Gott. Die wahre Treue ist für gewöhnlich weniger laut. Sie spricht auch nicht unsere erste schnelle Stimmung an – wie ein Volksverhetzer es versucht. Die wahre Treue zu Gott hat ihren eigenen „Stil“: Sie braucht Zeit, Stille und Bescheidenheit. Wahre Treue beruft sich auch nicht auf die angebliche Sicherheit im Buchstaben, in der Wort-Wörtlichkeit einer Schrift. Sie kann viel schöpferischer sein; und sie ist rücksichtsvoll, denn sie muss die Welt nicht in zwei krass entgegengesetzte Bereiche einteilen: wir gegen die anderen, Offenbarung gegen Vernunft, göttlich gegen weltlich; denn wahre Treue kann versöhnen. Dieser „Stil“ ist typisch für die Atmosphäre des heiligen Geistes. Schon die ersten Christen bezeichneten die wahre Treue zu Gott deshalb als „geistlich“.3
Daher besinnen sich die verschiedenen Traditionen des Christentums vor allem, wenn eine Zeit uns verwirren will, auf das geistliche Verständnis, auf das geistliche Gespräch, auf das geistliche Leben. Das heißt gerade nicht, sich eigensinnig zurückziehen. Geistlich heißt vielmehr hörend leben und kreativ, offen für das, was Gott in dieser Welt wirken will, und bereit, sich darauf einzulassen, wie Gott in dieser Welt wirken will: nämlich durch den Geist.
Heute bezeichnen viele dieses geistliche Leben als „Spiritualität“. Entsprechend sagen auch arabischsprachige Christ(inn)en rūhānīya. Muslime haben für eine ganz ähnliche Sache ein etwas anderes Wort. Sie sagen statt „geistlich“ eher ma‘nawī bzw. manevi. Das ist auch für uns Christ(inn)en eine weiterführende Bezeichnung. Denn wenn man ma‘nawī sagt, bezieht man das „Geistliche“ auf das, was uns „angeht“, auf den „tieferen Sinn“, den Sinn von Texten, den Sinn des Lebens.
Was im Religionsbetrieb fehlt
Von dieser Weisheit der geistlichen Überlieferungen wollen wir heute Abend sprechen. Dabei ist das Geistliche nichts Außerordentliches. Es muss nicht einer bestimmten Menschenklasse vorbehalten sein – den „Geistlichen“ – und sich in begeisternden Schriften ausdrücken, in faszinierender Mystik oder unglaublichen Wundern. Traditionell wurde ein geistliches Leben in den Familien eingeübt. Wir können die Spiritualität in der Normalität suchen, die Mystik des Alltags betrachten, die geistlichen Wege gewöhnlicher Gläubiger; wenn sie uns nur helfen, unser Leben aus dem immer neuen Hören auf Gott zu gestalten. Die überlieferte Weisheit des geduldigen Hörens auf den Herrn kommt in den hochbürokratischen Institutionen unseres Glaubens zu kurz. Das ist mein Eindruck. Die Herzensbildung aus dem Glauben droht vergessen zu gehen. Wir bauen unsere Religionen wie Behörden auf. Wir haben Kanzeln fürs Predigen und Netzwerke fürs soziale Engagement, wir haben Einrichtungen für theologische Forschung und Lehre, wir bilden seelsorgliches Personal aus. Wir haben vielerorts religiösen Schulunterricht; wir errichten eindrucksvolle Gotteshäuser und veranstalten feierliche Gottesdienste: Das sind Zeichen, dass wir Verantwortung übernehmen. Aber sind diese Aktivitäten getragen vom immer neuen Hören auf Gott? Wo sind unsere Räume der Stille? Haben wir die Orte der religiösen Erfahrung, unsere geistlichen Zentren, Klöster, Exerzitienhäuser nicht vernachlässigt, die Schulen des hörenden Betens mitunter belächelt? Haben wir die Traditionen der geistlichen Begleitung, die alten oder neuentdeckten Wege der Suche nach dem Gotteswillen in den Hintergrund gerückt, die überlieferte Weisheit unseres Glaubenslebens? Wenn sie uns verloren geht, wird all unser religiöses Organisieren Bluff, ödes Gedöns.
Noch sind die Weisheitswege unserer Traditionen glücklicherweise nicht verschüttet. Es gibt sie; es gibt unter ihnen zwar Scharlatanerie und spirituelle Show. Aber es gibt auch weiterführende Pfade. Innerhalb unserer Religionen haben verschiedene Gemeinschaften sogar noch einmal unterschiedliche Glaubensstile und Frömmigkeitsformen, folgen unterschiedlichen intuitiven oder methodischen Lebenswegen. Es gibt eben verschiedene Spiritualitäten. Sie können manches voneinander lernen. Sie können so sprechen, dass auch andere deren Weisheit verstehen. Das versuche ich hier zu zeigen. Vom Weg der Unterscheidung ist derzeit viel die Rede. Papst Franziskus unterstreicht immer wieder, wie wichtig sie ihm ist, etwa die „Kunst der pastoralen Unterscheidung“ (Das Geschenk der Berufung zum Priestertum, 43; 120). Aber was soll das denn bitte sein: Unterscheiden?
Gemeint ist natürlich nicht das soziale Unterschiede-Machen; nicht das Diskriminieren,aber auch nicht ein Sich-voneinander-Absetzen imidentitätssuchenden Gegenprofil. Mit „Unterscheiden“ ist auch nicht nur das philosophische Unterscheiden angesprochen: das Differenzieren. Dabei ginge es um Wortbedeutungen, um Begriffsabgrenzungen, und dann um die Einsicht, dass jede Situation wieder anders ist. Ein solches Unterscheiden ist hilfreich; aber hier geht es um mehr. Es geht um das geistliche Unterscheiden. Das ist eine Kunst. Will sagen: Es gibt zwar Regeln; aber mit einfachem Regelbefolgen kommt man nicht wirklich weiter. Es braucht auch ein Gespür, wie die Regeln anzuwenden sind. Das geht nur in Weisheit: intuitiv und kreativ.
Mit Jesus unterscheiden
Geistliches Unterscheiden beginnt bei der Einsicht, dass es verschiedene Wege gibt und wir nun den richtigen finden müssen, ohne dass eindeutige Sicherheit garantiert ist, weder durch göttlichen Fingerzeig noch durch perfektes Informiert sein: „Zwar stützt sich die geistliche Unterscheidung auf menschliche, philosophische, psychologische, soziologische und moralische Weisheit. Sie geht jedoch darüber hinaus. Nicht einmal die noch so weisen Kirchenregeln genügen für sie. Denn Unterscheidung ist ein Gottesgeschenk. Durchaus: sie braucht Vernunft und Klugheit; übersteigt diese aber. Sie möchte nämlich das Geheimnis des einzigartigen