wahrhaftig vergeistigt ist (πνευματικὸν νοῦν), zu den höchsten Höhen der Wirklichkeit“ (Or 53).
Diese Umdeutung der stoischen Apatheia ist höchst ambivalent. Apatheia und Agape sind bei Evagrius und Cassian zwei Seiten einer Medaille und dürfen nicht getrennt werden.11 Denn die Apatheia ist „ein Zustand, der es erlaubt, alle Menschen wenigstens in dem Maß zu lieben, dass man friedlich mit den Menschen lebt und keinen Groll gegen sie hegt.“12 Andererseits wird die Liebe, die biblisch den Menschen „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,5) beansprucht, also intellektuell (Herz), emotional (Seele) und praktisch (Kraft), zu einem rein intellektuellen Tun umgedeutet und damit ihrer Ganzheitlichkeit beraubt.
Askese als Weg zur Apatheia
Wie aber sieht der Weg des Menschen zur Apatheia und von dieser weiter zur Kontemplation aus? In der ersten Phase geht es für Betende darum, durch Askese von sämtlichen Leidenschaften frei zu werden. So wie Mose seine Schuhe auszieht, um Gott zu begegnen (Gen 3), sollen sie ihre Gedanken von jeder Verunreinigung durch Gefühle freimachen (Or 4). Gefühle werden aber oft durch Gedankenhervorgerufen. Daher sollen Betende auch den Intellekt „taub und still werden lassen“, um frei von ablenkenden Gedanken beten zu können (Or 11). Sie sollen „sich von allem befreien, das auf irgendeine Weise mit den Leidenschaften zu tun hat“ (Or 53), und sei es „auch nur dem Anschein nach“ (Or 54). Denn: „Wenn jemand gefesselt ist, kann er nicht weglaufen. Genau so wenig kann ein Geist, der Sklave der Leidenschaften geworden ist (πάθεσι δουλεύων), den Ort des spirituellen Gebets sehen. Er wird zum Spielball solcher leidenschaftserfüllter Gedanken (ἐμπαθοῦς νοήματος) und wird so seine Beständigkeit und Ruhe einbüßen.“ (Or 71)
Hier wird deutlich, dass die monastische Tradition gut stoisch, aber wenig biblisch in der Apatheia den Inbegriff der Freiheit sieht. Nicht der ist frei, der sich mit seiner ganzen Existenz in Liebe an andere bindet (Dtn 6,5), sondern der,der alle Leidenschaften losgelassen hat. Freiheit ist vor allem Autarkie. „Was der Empfindung((αἴσθησις) nicht unterworfen ist, ist auch frei von Leidenschaft.“ (Pr4) Die Apatheia ist die „Trennung der Seele vom Leib“ (Pr 52) im Sinne ihrer Befreiung von den Leidenschaften.
Evagrius und Cassian beschreiben den Weg der Askese als sehr sensiblen Vorgang. Er braucht eine gesunde Mitte zwischen Laxheit und Rigorismus. Kämpferisch wird das Vokabular der beiden allerdings bei der Entfaltung der Acht-Laster-Lehre, als deren geistige Väter sie gelten. Zentraler Gedanke dieser klassischen monastischen Lehre ist die These, dass alle Sünden auf acht tiefsitzende Fehlhaltungen zurückgeführt werden können: Gaumenlust, Unkeuschheit, Habsucht, Traurigkeit, Zorn, Akedia, Ruhmsucht, Stolz (Pr 6–14). Diese gilt es zu bekämpfen, will man das Übel an der Wurzel packen und „ausreißen“ (CP 9,3), nicht gleichzeitig, sondern nacheinander.
Die Spannung zwischen dem sanften „Loslassen“ der Leidenschaften im Kontext der stoischen Apatheia-Lehre und dem harten Bekämpfen und Ausreißender Laster in der monastischen Acht-Laster-Lehre wird von Evagrius und Cassiannicht aufgelöst. Theologisch gewendet könnte man darin zumindest für den rund zwanzig Jahre später lebenden Cassian eine gewisse Unentschiedenheit zwischen Pelagianismus und Augustinismus sehen – eine Kontroverse, die Evagrius nicht mehr erlebt hat. In jedem Fall aber wird im Nebeneinander von Apatheia-Lehre und Acht-Laster-Lehre die Spannung von göttlicher Gnade (Loslassen) und menschlicher Leistung (Kampf) sichtbar. Dass das Loslassen der Leidenschaften tatsächlich im Sinne eines Sich-Fallen-Lassens in die Hand Gottes verstanden wird, kann folgendes Zitat verdeutlichen: „Wenn du wirklich betest, entsteht in dir ein tiefes Gefühl des Vertrauens. Engel werden dich begleiten und dir den Sinn der ganzen Schöpfung erschließen.“ (Evagrius, Über das Gebet, 80) Apatheia und Gotteserkenntnis werden hier als Geschenk sichtbar, als Gabe dessen, dem der Mensch vertraut und der seine Engel als Überbringer der Gaben schickt.
Gotteserkenntnis in der Kontemplation als Ziel des geistlichen Lebens
Die Apatheia, deren andere Seite die rein intellektuelle Liebe ist, ist das Tor zur Kontemplation. Solange noch Leidenschaften im Menschen sind, er also nicht reinen Herzens ist, kann er – ganz nach Mt 5,8 – Gott in der Kontemplation nicht schauen (CP 1,15). Umgekehrt: „Sind Liebe und Enthaltsamkeit Gäste der Seele, dann ruhen die Leidenschaften“ (Pr 38) und der Weg zur Kontemplation steht offen. Aber auch diese ist kein Selbstzweck: „Das Ziel des asketischen Lebens ist die Liebe und das der Kontemplation ist die Erkenntnis Gottes (θεολογία).“ (Pr 84)
Eine erste Stufe der Kontemplation (Physike), schaut auf die geschöpflichen Wirklichkeiten und entdeckt in ihnen vermittelt den Schöpfer. Die zweite Stufe hingegen (Theologike), zielt darauf, Gott unmittelbar zu schauen. Daher soll der kontemplative Mensch selbst die reinsten und frömmsten Gedanken loslassen, seien es gegenständliche oder ungegenständliche (Or 55–57):„Selig ist jenerGeist, der, während er betet, frei ist von allem Gegenständlichen, ja sich sogar aller Gedanken entledigt hat.“ (Or 119)
Die Schwachstellen des monastischen Kontemplationsverständnisses
Die Vorstellung einer ungegenständlichen Gotteserkenntnis prägt die kontemplative Praxis in neuplatonisch-stoischer Tradition bis auf den heutigen Tag.F. Jalics13, W. Jäger14, F. Houdek und viele andere lehr(t)en es so. Dennoch weist dieses Interpretationsmodell eine Reihe gravierender Schwachstellen auf:
1) Offen bleibt die Verbindung von Gotteserkenntnis und der Erkenntnis geschaffener Wirklichkeiten: Gegen Ende seiner Abhandlung über das Gebet schreibt Evagrius: „Selig ist der Mönch, der in allen Menschen Gott sieht.“ (Or 123) Wie kann das möglich sein, wenn der Mönch Gott bereits unmittelbar erkannt hat? Gott mittelbar in allen Menschen zu sehen ist die Erkenntnisweise der Physike. Wer aber bereits auf die höchste Stufe der Theologike hinaufgestiegen ist, für den ist die vermittelte Gotteserkenntnis im Geschaffenen ein Rückschritt15.
2) Offen bleibt auch die Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe: So schreibt Evagrius: „Ein Mönch ist ein Mensch, der sich von allem getrennt hat und sich doch mit allem verbunden fühlt.“ (Or 124) Wiederum stellt sich die Frage, wie das im vorliegenden Denkmodell anders denn als Rückfall in die Physike gedacht werden kann16.
3) Hinter beiden steht die Frage nach dem Verhältnis vonirdischer und göttlicher Wirklichkeit: Ist die irdische Wirklichkeit auf dem Weg zur Gotteserkenntnis ein Hindernis, das man loslassen muss, um zur unmittelbaren Gotteserkenntnis zu gelangen?17 Oder ist die geschöpfliche Wirklichkeit der in alle Ewigkeit einzige Weg des Menschen zur Gotteserfahrung, der uns Gott in „vermittelter Unmittelbarkeit“ (Bernard Lonergan) begegnen lässt? „[D]ie Kreatur (…) in ihrer Entsprungenheit und Selbständigkeit in Gott zu finden (…), das Kleine im Großen, das Umgrenzte im Grenzenlosen, das Geschöpf (es selbst!) im Schöpfer: das ist erst die (…) höchste Phase unseres Gottesverhältnisses.“18
4) Hinter diesen inneren Widersprüchen im Denken der beiden Mönchsväter steht eine Anthropologie: Ist Liebe nicht mehr als ein rein geistiger Vollzug, nämlich eine personale, ganzheitliche Hingabe? Und ist die Erkenntnis Gottes nicht mehr als ein ungegenständliches Wahrnehmen, nämlich ein Vertrautsein mit dem Geheimnis? Spielen Leib und Gefühle tatsächlich keinerlei Rolle für Gottesliebe und Gotteserkenntnis, haben sie keine bleibend positive Bedeutung im Rahmen der Kontemplation? Die Anthropologie von Evagrius und Cassian ist keineswegs leibfeindlich. Aber sie misst dem Leib, den Sinnen, den Gefühlen auch keinerlei positive oder konstruktive Bedeutung im geistlichen Leben zu.
Indifferenz. Das ignatianische Bild geistlichen Lebens
Das Gegenmodell einer „Mystik der Weltfreudigkeit“,die nicht auf Apatheia, sondern auf Indifferenz zielt, hat Ignatius von Loyola (1491–1556) entworfen. In den„Geistlichen Übungen“ legt er seine Spiritualität systematisch-detailliert dar.
Indifferenz als Ziel der Askese
Der Schlüssel zur ignatianischen Spiritualität ist der Begriff „indifferent“. „Außer in EB 170, wo von ‚indifferenten Dingen‘ gesprochen wird, handelt es sich immer darum, den Willen des Menschen zu bestimmen: sich indifferent machen, sich indifferent finden, indifferent sein.“19