Annika Bender

Der christliche Sonntag


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und gottesdienstlicher Handlungen auf.

      Der Blick auf Traditionen in den Ostkirchen zeigt die Vielfalt des liturgischen Gedächtnisses am Sonntag26.

      Der Wunsch nach genauer Kenntnis der Lebensbedingungen und -erwartungen der Menschen hat die Kirchen bewogen, ausführliche Milieustudien zu ihren Kirchenmitgliedern in Auftrag zu geben. Verschiedentlich sind daraus Konsequenzen auch für den Sonntagsgottesdienst abgeleitet worden. In den beiden o.g. Sammelbänden finden sich Beiträge, die eine realistische Einschätzung der Gottesdienstsituation ermöglichen und Voraussetzung für theologische Überlegungen bieten. Sie setzen sich mit der Bedeutung von Freizeit, dem Wochenende und in diesem Kontext mit dem Sonntagsgottesdienst auseinander27.

      Mehrere pastoralliturgisch orientierte Publikationen zum Sonntag hat Guido Fuchs vorgelegt. Er setzt sich für eine positive Interpretation der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen der Sonntagsgottesdienst gefeiert wird, ein und plädiert für einen konstruktiveren Umgang mit der Bedeutung des Wochenendes, ohne dabei die Schwierigkeiten aus dem Blick zu verlieren, die sich daraus für die Feier der Liturgie ergeben. Er fordert stattdessen eine fruchtbare Aufnahme der mit dem Wochenende und den einzelnen Tagen verbundenen Profile durch die und in der Liturgie28.

      Mehrere Publikationen gehen auf die veränderten gesellschaftlichen und religiösen Voraussetzungen, unter denen Feste wie der Sonntag begangen werden, ein und stellen den Sonntag und den Sonntagsgottesdienst als Tag mit theologischer, kultureller und anthropologischer Bedeutungszuschreibung dar. Sie bedenken die vielfältigen gesellschaftlichen Einflüsse auf den Sonntag als arbeitsfreien Tag und Tag des Gottesdienstes. Der realistische Blick auf die Entwicklungen der Sonntagskultur mündet hier nicht in Resignation, sondern regt dazu an, kreativ mit neuen Formen sonntäglicher Kultur und gottesdienstlichen Interessen umzugehen29.

      Der evangelische Praktische Theologe Christian Grethlein plädiert dafür, den Sonntagsgottesdienst nicht im Kontrast, sondern im Verhältnis zu anderen Gottesdienstformen und -zeiten zu sehen. Sie scheinen von größerer Attraktivität zu sein. Außerdem sollten Erkenntnisse über nicht-sonntägliche Gottesdienste auch für den Sonntagsgottesdienst genutzt werden. Unter den gegenwärtigen religionssoziologischen Voraussetzungen seien Innovationen für den Sonntagsgottesdienst entscheidend. Das sich verändernde Verhältnis von Gottesdienst und Gemeinde führt für den evangelischen Theologen zum Hinterfragen der angenommenen Deckungsgleichheit von Sonntagsfeiergemeinschaft und Gemeinde. Die Berücksichtigung der Lebensbedingungen der Gottesdienstfeiernden sei dabei die Grundvoraussetzung30.

      Für den evangelischen Sonntagsgottesdienst ist das Erscheinen der Erneuerten Agende im Jahr 1999 ein wichtiger Schritt gewesen31. Die Agende bietet verschiedene Modelle für den Sonntagsgottesdienst und ist „Regelbuch, Werkbuch und Textsammlung in einem“32.

      Im Kontext der parochialen Strukturveränderungen werden in der evangelischen wie der katholischen Theologie in Bezug auf den Gottesdienst ähnliche Fragen diskutiert. Sie betreffen die Form des Gottesdienstes und die damit verbundenen theologischen Konsequenzen33. Im Kontext dessen wird auf der Grundlage liturgiehistorischer und soziologischer Erkenntnisse die Frage nach der Definition von „Gemeinde“ und der Bedeutung von „Gemeinde“ gestellt34.

      Katholischerseits kommen außerdem v.a. Möglichkeiten und Grenzen für die Eucharistiefeier und die Wort-Gottes-Feier in den Blick. Die theologische Reflexion der Wort-Gottes-Feiern wurde besonders durch die Herausgabe der liturgischen Bücher für das Gebiet der deutschsprachigen Schweiz, Deutschlands und Österreichs vorangetrieben35. Hier spielen bisher v.a. Fragen der Leitung, die Teilhabe der Gemeinde und die liturgische Feiergestalt eine Rolle36.

      Bezüglich der Eucharistiefeier werden die Bedeutung konkreter Gestaltungselemente wie Predigt37 und Orationen und die Notwendigkeit und Möglichkeiten zur Eucharistiefeier diskutiert38. Bei den Feierformen sind neben der Wort-Gottes-Feier für den katholischen Bereich das sog. Zweite Programm für die evangelische Kirche bzw. spezielle Gottesdienstangebote zu erwähnen39.

      Einzelne Beiträge heben das lebenspraktische Potential des Sonntagsgottesdienstes in seiner Bedeutung für die christliche Spiritualität in grundsätzlicher Weise und am Beispiel etwa von neuen geistlichen Gemeinschaften hervor. Auch fehlt es nicht an Aufsätzen mit exemplarischen Erläuterungen zu den einzelnen Gestaltungselementen von Wortgottesdienst und Eucharistiefeier40.

      Medien kommt in der Vermittlung religiöser Inhalte eine wichtige Bedeutung zu. Zwei Formen kirchlicher Sonntagskultur im Fernsehen spielen hier eine besondere Rolle: die sonntäglichen Gottesdienstübertragungen und das „Wort zum Sonntag“. Den Gottesdienst betreffend werden hier v.a. liturgietheologisch die Möglichkeiten zur participatio actuosa – also die Frage, ob die Gottesdienstzuschauer als Mitfeiernde zu verstehen sind – diskutiert41. Das „Wort zum Sonntag“, das prominent im Samstagabendprogramm des öffentlichrechtlichen Fernsehens positioniert ist, ist als eine feste Größe etabliert und ermöglicht den beiden großen Kirchen in Deutschland, ein breites Publikum mit zentralen christliche Glaubensinhalte in Beziehung zum christlichen Festkalender und tagespolitisch aktuellen Fragestellungen bekannt zu machen 42.

      Zwei neuere pastoraltheologische bzw. praktisch-theologische Arbeiten widmen sich der Analyse der Perspektive der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Sie versuchen, Verbindungslinien zwischen theologischen Konzeptionen und subjektivem Empfinden aufzuzeigen und Rückschlüsse für liturgisches Handeln zu ziehen43.

      Kirchenrechtlich findet eine Diskussion über die „Heiligkeit“ des Tages und die „Sonntagspflicht“ statt. Außerdem werden die kirchenrechtlichen Rahmenbedingungen der sog. Wort-Gottes-Feier diskutiert. Sie werden angeregt von aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen, dem veränderten Teilnahmeverhalten und dem für die katholische Kirche drängenden Problem des Priestermangels, der dazu führt, dass vielerorts eine sonntägliche Eucharistiefeier nicht mehr gewährleistet werden kann44.

      Ein Schwerpunkt neuerer Veröffentlichungen liegt im sozialethischen Bereich, hier geht es um die Funktion des Sonntags als „Humanum“. Die Arbeitsruhe und die Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen stehen hier im Vordergrund45. Es wird erkennbar: Der mögliche Verlust des Sonntags als arbeitsfreier Tag erlangt offensichtlich größeres wissenschaftliches Interesse als eine Gefährdungssituation des Gottesdienstes.

      Fragen nach der Bedeutung des Sonntags für die christliche Identität und ihre kulturelle Bedeutung unter den Voraussetzungen heutiger Glaubenspraxis sind in den aufgeführten Publikationen angestoßen und sollen im Folgenden noch vorangetrieben werden.

      Formen des Glaubens haben sich in Europa verändert. Häufig ist von Säkularisierung die Rede. Ein solcher Formenwandel wirkt sich auch auf die Fragestellungen der Theologie aus. Das Konzept der sog. Kontextuellen Theologie stellt einen konstruktiven Ansatz dar, der solche Veränderungen grundsätzlich berücksichtigt. Für die Frage nach der theologischen und gesellschaftlichen Relevanz christlicher Glaubenspraxis in der Gegenwart ergeben sich daraus wichtige hermeneutische Impulse.

      Die gesellschaftliche Debatte um den Sonntag als arbeitsfreien und damit zu schützenden Tag ist spezifisch europäisch. Die theologische Reflexion dieses Themas muss deshalb kontextuell erfolgen und die Bedingungen religiösen Lebens für dieses Territorium bedenken; das schließt Traditionen, gesellschaftspolitische Diskussionen und kulturelle wie religiöse Veränderungen ein. Theologiegeschichtlich ist die Bezeichnung „Kontextuelle Theologie“ im Zusammenhang der Befreiungstheologie entstanden, heute gilt sie auch für ein in weiten Teilen säkulares Europa46. Deswegen kann unter Berücksichtigung des europäischen Kontextes durchaus von einer „europäische[n; A.B.] Theologie47 gesprochen werden. Der pluralistische Charakter der religiösen Landschaft Europas ist dabei die methodische Grundlage für die Kontextuelle Theologie. Sie geht davon aus, dass erst die Pluralität der Aussagen über Gott den Zugang zu seinem wahren Wesen verschafft. Ihr Ansatz ermöglicht dabei einen fruchtbaren Umgang mit den Folgen religiöser