Wilhelm Vossenkuhl

Ethik und ihre Grenzen


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Lebensräumen, in den sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen, religiösen und wissenschaftlichen. Sitten sind ethnisch und kulturell bestimmt, oft äußerlich erkennbar am Stil und den Farben der Kleidung in bestimmten Lebensräumen. Die sittlich bestimmten moralischen Räume haben eine geographische Identität. Es gibt sie nur im Plural.

      In ethischen Theorien gibt es dagegen immer nur einen moralischen Raum, und der ist abstrakt und virtuell. Der moralische Raum kann in ethischen Theorien auch nur virtuell existieren. Moralische Räume im Plural existieren nie nur virtuell, sondern sind immer real. Sie haben eine geographische Identität mit kulturell, ethnisch und religiös geprägte Sitten. Wir werden sehen, dass der Unterschied zwischen dem einen virtuellen und den vielen realen moralischen Räumen, zwischen Ethiken und Sitten, selbst eine Grenze ethischer Theorien ist. Zunächst geht es aber darum, eine Anschauung der moralischen Räume zu gewinnen. In allen virtuellen und realen Räumen können wir uns ähnlich frei bewegen wie in Zeiträumen. Wir dürfen nicht meinen, dass alle diese Räume genaue und klare Ortsbezeichnungen haben und sichtbar und begehbar sein müssen. Schon die drei räumlichen Dimensionen sehen wir nicht, weil unsere Retina alles zweidimensional abbildet. Schon die dritte Dimension denken wir uns, sonst könnten wir sie nicht wahrnehmen. Bewegungsfreiheit gibt es in allen Räumen so wie in den Zeiträumen, in denen wir sorgend, hoffend, freudig oder ängstlich in die Zukunft schauen und uns an das Vergangene erinnern.

      Alle Räume sind mit allen Zeiten in der Gegenwart verbunden. Die Gegenwart ist – wie Augustinus (354–430) in seinen Bekenntnissen schreibt (11. Buch, 20. Kap.) – eine vierte Dimension, die sich aus der Gegenwart des Gegenwärtigen, der Gegenwart des Vergangenen und der Gegenwart des Zukünftigen zusammensetzt. Sie ist unsere eigene, wirkliche Lebens-Zeit. Die Gegenwart ist ein eigener Raum, und es ist der umfassendste, den es für uns gibt, unser zeitliches Dasein. Es ist der Raum unseres Lebens, der mit unserer Lebens-Zeit unauflöslich verbunden ist. Die Raum-Zeit des Lebens ist eine Einheit. Wir können uns gedanklich in dieser vieldimensionalen Raum-Zeit bewegen und wenigstens in Gedanken überall hingehen, wohin wir wollen. So werden wir zu denen, die wir sind und sein können, vielleicht auch zu denen, die wir sein wollen.

      Sitten und Ethiken haben in den moralischen Räumen nicht dieselbe Bedeutung. Sitten leiten das Denken und Handeln mehr oder weniger bewusst, Ethiken begründen es, zumindest ist dies in modernen Ethiken so. Um Handeln begründen zu können, benötigen Ethiken Begriffe, die sie in einen theoretischen Rahmen stellen, um ihnen Überzeugungskraft und einen schlüssigen Zusammenhang zu geben. Die mehr oder weniger bewusst wirkenden Sitten haben keine begrifflichen Grundlagen, sondern sind Anschauungen mit Namen. Anschauungen sind beispielhaft und exemplarisch. Sie können erlebt und wahrgenommen, aber nicht begründet werden. Sie können als Beispiele menschlichen Verhaltens beschrieben werden. Sie können gutgeheißen oder verworfen, kritisiert, aufgegeben oder verändert werden.

      Das mag zunächst nicht einleuchten. Nehmen wir als harmloses Beispiel für eine Sitte das Grüßen. Wir können überlegen, warum sich Menschen in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich grüßen. Wir finden aber weder einen Grund dafür, dass sie sich grüßen, noch einen Grund dafür, wie sie sich grüßen. Sie grüßen sich einfach und tun dies so, wie sie es gewohnt sind. In manchen Kulturen grüßen sich Menschen, ob sie sich kennen oder nicht; in anderen grüßen sich nur Bekannte. In einigen Kulturen schütteln sich alle Menschen dabei die Hände, in anderen nur Männer, in wieder anderen niemand. Wenn Sitten wie das Grüßen Teil eines moralischen Raums sind, den wir verstehen wollen, müssen wir von vornherein darauf verzichten, diesem Raum eine theoretische Struktur zu geben, weil sich Sitten nicht begründen lassen. Wir können den Raum dann nur beschreiben und erzählen, was es alles in ihm gibt. Auch deswegen ist dieser Text eine Erzählung und keine Theorie.

      Jede Erzählung beschreibt etwas, seien es Ereignisse, Beziehungen, Handlungen, Gefühle, Gedanken oder Wünsche, schildert Abläufe und Entwicklungen, erklärt vielleicht, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, begründet aber nicht, warum dies so sein sollte oder nicht anders sein kann. Eine Ethik schreibt dagegen vor, aus welchen Gründen etwas wie getan werden sollte. Sie normiert Handlungen, macht sie verpflichtend. Die Unterscheidung zwischen ›ist‹ und ›soll‹ steht für diesen Unterschied zwischen Beschreiben und Begründen. Hume und Kant plädieren aus unterschiedlichen Gründen für eine strikte Trennung zwischen ›ist‹ und ›soll‹ und halten einen Übergang vom Beschreiben zum Vorschreiben für einen Begründungsfehler. Seit G. E. Moore (1873 – 1958) wird dieser Übergang ›naturalistischer Fehlschluss‹ genannt (1903). Unabhängig davon sprechen gute Gründe gegen eine Trennung zwischen Sein und Sollen (Vossenkuhl 2021).

      Es wäre aber ein Begründungsfehler, wenn wir die Beschreibung einer Sitte als deren Begründung verstehen würden, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen können Sitten nicht begründet werden, zum anderen können sie das Verhalten, das sie anleiten, nicht begründen. Die moralischen Räume sind aber weder begründungsfrei noch sakrosankt. Deswegen gibt es gute Gründe, schlechte Sitten zu kritisieren und zu meiden. Was sind schlechte Sitten? Denken wir an das harmlose Grüßen. Wenn sich nur Männer beim Grüßen die Hand geben und damit Frauen schlechter als Männer behandelt werden, diskriminiert diese Sitte Frauen. Ist das so, oder werden Frauen dabei nicht besonders respektvoll behandelt? Es kommt darauf an, in welchem moralischen Raum eine solche Sitte beschrieben wird. Es gibt Kulturen, in denen Frauen von fremden Männern nicht berührt werden dürfen. Diskriminierend ist das nicht, nur anders als in andern Kulturen. Dann ist es keine schlechte Sitte, wenn Frauen in anderen Kulturen als der unseren beim Grüßen anders als Männer behandelt werden.

      Sitten sind keine Normen, selbst wenn wir sagen, in der oder jener Kultur sei es die Norm, sich so oder so zu verhalten. Für die Geltung ethischer oder rechtlicher Normen gibt es Gründe, die unabhängig von den Normen selbst sind. Für Sitten gibt es keine von ihnen unabhängigen Gründe; sie gelten, weil sie gelten. Es lassen sich oft kulturelle und religiöse Gründe finden, die für oder gegen sie sprechen. Sie werden damit nicht begründet, sondern als das Übliche verständlich gemacht. Sitten und Normen können aber auch miteinander verbunden werden oder in Konflikt geraten. Wenn Sitten als gut oder als schlecht beurteilt werden, setzt ihre Beschreibung Normen voraus, die erfüllt oder verletzt werden. Wenn es in einer Kultur Sitte ist, Tiere zu schächten, gilt dies in dieser einen Kultur als gut, in anderen Kulturen aber nicht. Wenn Tierschutzgesetze gelten, ist das Schächten, das Tiere quält, nicht nur eine schlechte Sitte, sondern verboten.

      Sitten sind schlecht, wenn sie Menschen diskriminieren, verletzen und respektlos und herabsetzend behandeln. Sie sind auch schlecht, wenn Tiere aufgrund einer Sitte unnötig gequält werden. Um Sitten als schlecht beurteilen zu können, müssen wir Normen voraussetzen, die von ihnen verletzt werden. Die Menschenrechte sind solche Normen, die in allen Kulturen gleichermaßen gelten sollen. Es ist offensichtlich, dass dieser Anspruch zu Konflikten führt. Die Konflikte entstehen, wenn Normen wie die Menschenrechte konträr zu den herrschenden Sitten stehen. Aus der Perspektive der Kulturen, für die dies zutrifft, sollen die eigenen Sitten herrschen, von außen gesehen sollen die Menschenrechte gelten. In vielen Kulturen gelten deren Ansprüche aus religiösen Gründen nicht oder nur eingeschränkt.

      Wenn wir über Konflikte dieser Art nachdenken, sollten wir überlegen, aus welcher Perspektive wir urteilen. Unsere Urteile sind nicht schon dadurch begründet, dass wir die eigenen Ansprüche als allgemein und die fremden als regional deklarieren. Aus jeder Perspektive können Ansprüche geltend gemacht werden, die der eigenen Kultur Vorrang vor einer anderen geben. Wir kommen aber nicht umhin, uns zu entscheiden und die Folgen von Ungleichheiten, Gegensätzen und Konflikten zu beurteilen. Diskriminierende und verletzende Sitten können wir aus unserer Perspektive nicht tolerieren oder gar gutheißen. Wir dürfen Konflikten zwischen dem Eigenen und dem Fremden nicht ausweichen, sollten aber bedenken, dass sie vom Vorrang von allgemeinen Normen vor kulturell bedingten Sitten verursacht werden. Die Frage ist, ob es Gründe gibt, den eigenen Überzeugungen einen Vorrang vor den konträr dazu stehenden fremden anderen einzuräumen, die unabhängig von jenen Überzeugungen sind. Solche Gründe müsste es jenseits der eigenen Ethik und der Sitten und religiösen Überzeugungen anderer Kulturen geben, sonst sind sie selbstbestätigend, parteiisch und voreingenommen. Sie müssten im Wesen des Menschen, jenseits der eigenen Ethik und der fremden Sitten, zu finden sein. Dieses Wesen ist, wie Aristoteles