es sich so gehört, verweisen wir auf keinen Begriff, sondern auf eine Praxis. Sie macht anschaulich, was sich gehört. Wir verstehen, was gemeint ist, weil wir es erleben können. Jede Praxis liefert Beispiele und Vorbilder, die exemplarisch zeigen, wie etwas gemacht wird und was sich gehört. Auf diesem Weg wird dann auch begrifflich erkennbar, was geboten ist. Wir bilden ethische Begriffe auf praktischen Grundlagen.
Kant entgeht das Problem der moralischen Motivation nicht. In seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gesteht er ein, dass das Moralgesetz, das »objektiv« (4, 400) gilt, selbst kein Motiv ist, ihm zu folgen. Er versucht dieses Manko in einer längeren Fußnote (401) mit dem »Gefühl« der »Achtung« vor dem Moralgesetz wettzumachen. Es sei ein von der Vernunft und nicht von außen kommendes, ein »selbstgewirktes Gefühl«. Kant glaubt zu Recht, dass wir nur durch Gefühle und nicht durch abstrakte Begriffe zum Handeln bewegt werden. Selbstverständlich können Gefühle durch Nachdenken und Einsicht verstärkt und vertieft werden. Wenn ich erkenne, wie sehr mir mein Freund behilflich war, ohne dass ich es bemerkte, werde ich ihm noch dankbarer für seine Freundschaft sein. Meine Fähigkeit, Dankbarkeit zu empfinden, entsteht aber nicht durch meine Einsicht in die Hilfe meines Freundes. Ich muss die Fähigkeit schon haben, damit ich sie durch Einsicht vertiefen kann.
Es läge nahe, dass Kant die motivierende Kraft der Maximen in seine Kategorischen Imperative überführt. Genau dies kann er aber nicht, weil sein Theorieprogramm vorsieht, dass das Moralgesetz und nicht die Maximen das bestimmen sollen, was wir wollen. Wir sollen »aus reiner Pflicht« handeln, nur das habe einen »moralischen Werth« (4, 406). Der »Zweite Abschnitt« der Grundlegung folgt diesem Gedanken, um die Bedeutung des Kategorischen Imperativs zu erklären. Dies sind die beiden wichtigsten Formulierungen des Kategorischen Imperativs: »[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« (421) und »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« (429). Ich komme auf den zweiten dieser Imperative später zurück, wenn es um die Bedeutung der menschlichen Würde geht. Ich werde dann mit Kants Imperativ den dazu gehörenden moralischen Raum erkunden. Für ihn gibt es nur einen moralischen Raum, weil in ihm alle sittlich bestimmten moralischen Räume aufgehoben sind. Zunächst müssen wir aber erkennen, dass Kant mit dem Gefühl der Achtung keine Antwort auf die Frage gibt, was uns zum moralischen Handeln motiviert. Obwohl sein Theorieprogramm das Motivationsproblem nicht löst, bietet seine Moralphilosophie eine gute theoretische Orientierung.
SITTLICHKEIT
Zur Freiheit des Erzählens gehört es, bereits Bekanntes anders zu erzählen. Diese Freiheit nehme ich mir. Was eine Ethik und was Sitten sind, ist ja nicht unbekannt. Auch der Zusammenhang zwischen beidem ist bekannt. Ich erzähle ihn anders, als er bisher verstanden wird. Der Zusammenhang ist schon in der griechischen Antike lebendig, in einer Zeit, in der es das Wort ›Ethik‹ noch nicht gibt und der hinter ihr stehende Theorieanspruch umstritten ist. Es gibt – zumindest seit Platon – das, was wir heute ›Tugendethik‹ nennen. Er untersucht die Tugenden der Gerechtigkeit, der Mäßigung, der Klugheit und der Tapferkeit in vielen Dialogen und vergleicht sie mit weniger guten oder schlechten Sitten. Die Tugenden sind nichts anderes als die guten Sitten, das, was ›Sittlichkeit‹ bedeutet. Andere Sitten wie das Recht des Stärkeren sind aber für viele nicht weniger attraktiv als die guten Sitten, für die Sokrates wirbt.
Zu den Sitten, die Sokrates kritisiert, gehören das Recht des Stärkeren und die damit zusammenhängenden Anmaßungen, etwa die, lieber Unrecht zu tun als Unrecht zu leiden. Etwas pauschal und ungerecht können wir auch die spartanischen Sitten im Umgang mit männlichen Nachkommen und ihrer Erziehung zu Kriegern zu den Sitten zählen, die nicht gut sind. In Sparta waren diese Sitten freilich hoch angesehen, weil sie den Bestand der Polis garantierten. Auch in Athen fanden nicht nur die Sitten, die Platon in seinen Dialogen schätzt, Beifall, sondern auch einige schlechte. Es kommt darauf an zu verstehen, dass die guten Sitten eine kleine Auswahl aus der großen Menge an Sitten sind, von denen viele einen zweifelhaften Ruf haben. Was ›gut‹ an den guten Sitten ist und warum sie besser als die anderen sind, ist nicht selbstverständlich, sondern setzt Einsicht und Verständnis voraus. Platons Lehrer Sokrates vermittelt die Einsicht durch anschauliche Beispiele.
Über die Verbindung zwischen Sitte und Ethik und die Bedeutung der Sittlichkeit will ich noch mehr erzählen. Um sie zu verstehen, sollten wir eine konkrete Anschauung von dem haben, was wir ›gute Sitten‹ und ›Sittlichkeit‹ nennen. Wir können Sitten auch, angelehnt an Kant, ›Maximen des Handelns‹ nennen. Denn einige, aber nicht alle dieser Maximen können Kategorische Imperative werden. Dies ist ein weithin akzeptierter Katalog von Maximen: Übervorteile niemanden; nehme nichts auf Kosten anderer in Anspruch (fahre nicht schwarz); halte deine Versprechen und mache keine falschen Versprechen (sei ehrlich); schikaniere, täusche, nötige, unterdrücke und quäle niemanden; töte niemanden, es sei denn in Notwehr; füge niemandem Schaden zu; manipuliere und zwinge niemanden; sei nicht heuchlerisch, nicht überheblich, nicht selbstgerecht und nicht anmaßend; sei wahrhaftig, ehrlich und aufrichtig, sei aufmerksam und hilfsbereit, den Eigenen und den Fremden gegenüber; sei großzügig, verständnisvoll, nachsichtig und nicht engstirnig! Dies sind zweifellos gute Sitten. Einige zählen zu den Zehn Geboten (nicht morden, nicht stehlen, kein falsches Zeugnis geben). Viele werden in den Kulturen und Religionen der Welt anerkannt. Sie geben eine Vorstellung menschlicher Sittlichkeit und machen anschaulich, was mit ›Menschlichkeit‹ gemeint ist.
Wenn ein Kind zu Hause oder in der Schule nicht weiß, was diese Maximen der Menschlichkeit bedeuten, hat es keinen Sinn, ihm Begriffe des Schwarzfahrens, der Ehrlichkeit oder der Wahrhaftigkeit etc. zu nennen. Es kommt darauf an, dem Kind anschauliche Beispiele dieser Verhaltensweisen und am besten auch ihres jeweiligen Gegenteils zu erzählen. Wenn es beides verstanden hat, versteht es auch die dazu passenden Begriffe. Das Kind hat dann eine Vorstellung von den Begriffen, die es ohne die Beispiele nicht hätte. Der Erwachsene, der dem Kind Beispiele vor Augen führt, kann anhand seiner Beispiele prüfen, ob er selbst die Begriffe verstanden hat.
›Menschlichkeit‹ verhält sich zu ›menschlich‹ wie ›Sittlichkeit‹ zu ›sittlich‹. Wir nennen auch das weniger gute, das fehlerhafte, unaufmerksame, törichte, irrtümliche, egoistische und engstirnige Verhalten ›menschlich‹, weil Menschen nicht perfekt sind. Über harmlose Beispiele dieses Verhaltens können wir lachen, weil wir uns selbst darin erkennen. Wenn dieses Verhalten keine schlimmen Folgen hat, neigen wir dazu, es für verzeihlich zu halten und nachsichtig zu sein. Ähnlich nennen wir Verhaltensweisen ›sittlich‹ geprägt, die abhängig von Kulturen und Religionen sind und bei Menschen anderer Kulturen und Religionen auf Ablehnung stoßen. ›Menschlichkeit‹ und ›Sittlichkeit‹ sind Namen für die bestmöglichen Verhaltensweisen von Menschen, unabhängig davon, zu welcher Kultur oder Religion sie gehören.
Hegels Konzept der Sittlichkeit schließt, wie erwähnt, kulturelle Differenzen und Konflikte nicht ein, aber auch nicht aus. Er versteht ›Sittlichkeit‹ als Wirksamkeit des kulturell geprägten Bewusstseins von Menschen, aber nicht dynamisch. Dabei sollte dieses Bewusstsein immer wieder neue Gestalten annehmen können. Dies ist aber in Hegels hierarchischem System von Recht, Moralität und Sittlichkeit kaum möglich. Warum dies nicht möglich ist, wird in Hegels Überlegungen zum menschlichen Handeln erkennbar. Unter der Überschrift »Der wahre Geist. Die Sittlichkeit« (291) erklärt er in der Phänomenologie des Geistes, was er unter ›Handeln‹ versteht. Pirmin Stekeler nimmt in seinem Kommentar zu diesem Kapitel das wieder auf, was er bereits zum ›Geist‹ sagt. Der Geist, der sich im Handeln zeigt, sei »das Bewusstsein … im Unterscheiden, Urteilen, Schließen und Handeln« (Bd. 2, 140). Dieser Anspruch an die Sittlichkeit setzt einen idealen Maßstab voraus, der in den moralischen und kulturellen Räumen unserer gegenwärtigen Welt nicht erfüllt ist. Wie hoch dieser Anspruch ist, wird erkennbar, wenn Pirmin Stekeler vom »kontrollierenden Mitwissen« im Urteilen spricht.
Die kulturell, aber auch rechtlich und religiös geprägten Formen der Sittlichkeit unserer Lebenswelten erfüllen diesen kognitiven Anspruch kaum. Menschen folgen in ihrem Verhalten häufig blind und adaptiv dem, was üblich ist, aber auch dem, wozu sie durch