Bernhard Görg

Dürnsteiner Himmelfahrt


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Massen zu bahnen, um den ihm zugewiesenen Tisch zu finden. Höchstwahrscheinlich nicht der Ehrentisch, wie er argwöhnte. Da spürte er den Griff einer kräftigen Hand auf seiner Schulter. Gleich darauf vernahm er eine laute, etwas raue Stimme, die er auf Anhieb erkannte.

      »Was für ein schöner Anblick für meine an Schönheit gar nicht mehr gewohnten Augen! Mein Lieblings-Polizeidirektor und seine wie immer strahlende Britta, die, wenn es nach mir geht, zur Königin des Abends gekrönt werden müsste.«

      Noch bevor sich Wolfgang Marbolt umdrehte, antwortete er. »So charmant kann nur mein Lieblingsminister sein!« Sodann machte er auf dem Absatz kehrt, während sich seine Frau, die die Stimme des Ministers bestimmt auch erkannt hatte, sichtlich mehr Zeit mit dem Umdrehen ließ.

      Was der jedoch nicht zu registrieren schien. Jedenfalls umarmte er sie und küsste sie auf beide Wangen, bevor er ihm mit einem strahlenden Lächeln beide Hände drückte. »Der Abend ist ja noch lang und von Bord könnt ihr nicht so schnell, außer ihr schwimmt an Land. Wenn der erste Trubel vorbei ist, finden wir sicher Gelegenheit, auf gemeinsame alte Zeiten anzustoßen.

      Und hoffentlich auch auf gemeinsame neue.« Der Minister gab ihm einen Klaps auf den Oberarm. »Aber jetzt müsst ihr mich entschuldigen. Ich muss ja noch Hunderte von Händen schütteln. Politiker-Schicksal. Dass ihr mir aber ja nicht in die Donau springt!« Sein ehemaliger Chef drohte noch spielerisch mit seinem Zeigefinger und weg war er.

      »So ein Arschloch!«, grummelte Britta und leerte ihr Glas in einem Zug. Wenigstens hatte sie so viel Taktgefühl, mit ihrem Kommentar so lange zu warten, bis der Minister außer Hörweite war. »Hast du bemerkt, wie kalt sein Lächeln gewesen ist?«

      »Jetzt siehst du aber Gespenster, meine Liebe!« Er sagte es nur halblaut, damit ihn die Leute nicht hörten, die ihnen – offensichtlich wesentlich besser gelaunt als seine Frau – auf dem engen Gang entgegenkamen. »Außerdem bleibt uns nicht viel anderes übrig, als auf sein Pferd zu setzen. Nur durch ihn kommen wir aus dieser scheußlichen Provinz weg und wieder nach Wien zurück. Also möchte ich dich bitten, wenigstens gute Miene zum bösen Spiel zu machen, wenn wir uns mit ihm nachher auf ein Glas Wein treffen.«

      »Ja, wenn.« Seine Frau stellte ihr leeres Glas auf den Buffettisch, an dem sie gerade vorbeikamen, und schnappte sich ein volles von dem Tablett, das ein Ober zwei Meter von ihr entfernt kunstvoll durch das Gedränge schaukelte. Dass sie dafür eine ältere Dame ziemlich unsanft zur Seite schieben musste, schien sie gar nicht zu merken.

      Er wollte sie schon ganz dezent bitten, ihren Trink-Rhythmus wenigstens etwas zu verlangsamen, als sein Blick auf jemanden fiel, der ihn große Lust verspüren ließ, auch gleich mindestens zwei Gläser auf einmal hinunterzuspülen. Doris Lenhart. Was für ein Affront des feinen Herrn Landeshauptmanns ihm gegenüber, eine Subaltern-Charge aus den Kreisen der Polizei ebenfalls zu diesem Fest einzuladen. Die Aufklärungsquote der Leiterin der niederösterreichischen Mordkommission in allen Ehren. Aber bei einer Veranstaltung, zu der angeblich die Crème de la Crème des Landes geladen war, hatte sie wirklich nichts zu suchen. Er blickte seine Frau an, deren Empfindlichkeit, wenn es ums Prestige ging, er nur allzu gut kannte. Gott sei Dank blickte sie nicht in Richtung Chefinspektorin und schien sie deshalb noch nicht bemerkt zu haben. Wenigstens etwas. Er musste dringend dafür sorgen, dass das auch den ganzen Abend so blieb. Deshalb umschlang er sie mit seiner Rechten und riss sie herum; unglücklicherweise derart unvermittelt, dass ein guter Schluck des Weins aus ihrem Glas auf ihren Dirndlrock schwappte.

      Sie erstarrte. Offenbar kurz vor dem Explodieren.

      Da erklang – für ihn buchstäblich wie eine Rettung – die Stimme des Landeshauptmanns über Bord-Lautsprecher. Wie immer in der ölig-pathetischen Tonlage, die er so hasste, die aber die meisten Leute offensichtlich mochten. »Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf Sie hier an Bord der MS Austria auf das Herzlichste begrüßen. Ich werde mich etwas später noch ausführlicher an Sie wenden, möchte aber schon jetzt Ihre Aufmerksamkeit für eine Minute in Anspruch nehmen. Auf spezielles Ersuchen meines guten Freundes, des Herrn Innenministers, der schon in Dürnstein wegen einer dringenden dienstlichen Verpflichtung wieder von Bord gehen muss. Wir haben nämlich ein Geburtstagskind unter uns, dem sowohl der Herr Minister als auch ich als Landeshauptmann zu großem Dank verpflichtet sind.«

      Wolfgang Marbolt sah seine Frau an, die schlagartig errötete, hektisch die kaum sichtbaren Spuren des Weißweins auf ihrem Dirndlrock prüfte und sich rasch ihre Haare mit beiden Händen zurechtmachte.

      »Ich will es noch ein bisschen spannend machen und zunächst einmal nur sagen, dass das Geburtstagskind eine Frau ist. Und zwar eine besonders attraktive Frau. Herr Kapellmeister, ich bitte um einen Tusch!«

      Als die Musik einsetzte, spürte Wolfgang Marbolt den Druck der Hand seiner Frau auf seinem Oberarm. Gleichzeitig sah er ein seliges Lächeln auf ihrem Gesicht. Er flüsterte zärtlich in ihr Ohr: »Ich hoffe, spätestens jetzt begreifst auch du, dass der Minister unser Freund ist.«

      Während der Polizeidirektor ganz leise sprach, setzte der Landeshauptmann, nachdem die Musik verklungen war, seine Rede mit lautem Tonfall fort. »Ich möchte Doris Lenhart, die Chefin der niederösterreichischen Mordkommission, bitten, zu uns auf die Bühne zu kommen. Es ist nämlich sie, die heute Geburtstag feiert. Ich darf Sie alle um einen Applaus bitten, wie er diesem Stern am Polizei-Himmel unseres Landes gebührt.«

      In diesem Moment wusste der Polizeidirektor, dass die 380 Euro, die er heute Vormittag bei dem Kremser Kunsthändler für die Hundertwasser-Lithografie bezahlt hatte, hinausgeschmissenes Geld waren. Trotz Originalsignatur.

      Sonntag, 19. Juni 11 Uhr 03

      Die pensionierte Dürnsteiner Gemeindesekretärin hatte die Theaterprobe zeitlich so angesetzt, dass ihre jungen Schauspieler die Sonntagmesse in der Stiftskirche locker hätten besuchen können. Deshalb war sie heute in der Kirche auch nicht an ihrem Stammplatz in der zweiten, sondern in der letzten Bank gesessen. Um zu überprüfen, ob wenigstens eines ihrer Schäfchen die Freundlichkeit aufbringen würde, zur Messe zu erscheinen und damit ihren Wunsch zu erfüllen, den sie seit Beginn der Probenzeit mehrmals deutlich deponiert hatte. Wenn schon nicht um des eigenen Seelenheils willen, so doch wenigstens ihr, der Regisseurin, zuliebe. Aber weder das eine noch das andere.

      Die goldenen Heiligenfiguren lächelten sanftmütig auf sie herunter und mahnten sie zur Güte. Anstatt sich über die Jugend von heute zu ärgern, sollte sie an einem so erhebenden Ort lieber voller Inbrunst beten. Sie richtete ihren Blick auf den prachtvollen goldenen Altar, konnte sich jedoch nicht konzentrieren. Sie war nicht mehr sicher, ob es eine so glänzende Idee von ihr gewesen war, in nicht einmal mehr zwei Monaten zu Maria Himmelfahrt im Innenhof des Stifts ›Hanneles Himmelfahrt‹ aufführen zu wollen. Ihr Lieblingsstück seit Jugendtagen. Geschrieben von einem Dichter, von dem sie sonst nur scheußliche Stücke kannte. In denen wimmelte es nur so von armen Leuten und Trunkenbolden. Natürlich keiner selbst schuld an seinem Elend. Ja, selbst in ihrem Lieblingsstück war der Vater der jungen Hannele ein gewalttätiger Taugenichts, aber dafür war die Figur des jungen Mädchens einmalig gezeichnet. Ein Geniestreich. Eindeutig ihre Lieblingsfigur in der weiten Welt des Theaters, seit sie selbst die große Ehre und Freude gehabt hatte, bei einer Schulaufführung der vierten Klasse der Hauptschule Stein diese Rolle zu spielen. Vor fünfzig Jahren. Das Publikum war damals hingerissen von ihrer keuschen Schwärmerei für den jungen Lehrer – einen keuschen Ausdruck hatte der Autor ausdrücklich vorgeschrieben. Begeistert war das Publikum auch von der wunderbaren Darstellung ihrer Bereitschaft, das Kreuz des Herrn in Gestalt ihres brutalen Vaters geduldigst auf sich zu nehmen; und von ihrer Fähigkeit, die Sehnsucht nach den ewigen Freuden des Himmelreichs glaubhaft zu machen. Die Himmelfahrt selbst war dann zu einem Triumphzug für sie geworden. Wie in Trance war sie damals gewesen. Toll, wie sie ihren Klassenkameraden aus der letzten Reihe, der schon im Stimmbruch war und den jungen Lehrer spielte, dazu animieren konnte, ganz zärtlich über die beiden Warzen unter ihrem Kinn zu streichen. Große Schauspielkunst. Die Warzen zeichneten sich damals schon als Erhebungen auf ihrer sonst so makellosen Haut ab, waren aber viel kleiner als heute. Außerdem wuchsen aus ihnen damals noch keine Haare.

      Jedenfalls hatte sie seit vielen Jahren davon geträumt, dieses Stück in Dürnstein auf