Lilo nickte, völlig konzentriert auf den Straßenverlauf. »Normalerweise werden sie abgesprengt, wenn Gefahr besteht, dass sie zu rutschen beginnen könnten.«
Nach einer Pause fragte Axel etwas, das ihn seit der Abfahrt beschäftigte.
»Ist es dir wirklich recht, dass diese verrückte Lady etwas für unsere Hochzeit tut? Wir kennen sie doch überhaupt nicht.«
»Ich fühle mich langsam schlecht, weil ich diese Hochzeit so kurzfristig angesetzt habe«, gestand Lilo. »Der Ort ist auch etwas seltsam. Auf der Internetseite hat alles viel freundlicher ausgesehen.« Als sie Axel und Lilo zum Wagen begleitete, hatte Veronika noch dazu gestanden, dass es die erste Hochzeit war, die sie ausrichtete.
Axel wollte Lilo die Sorge nehmen. »Wir sind ungewöhnliche Menschen und deshalb kann das Ganze ein unvergessliches Abenteuer werden. Auf jeden Fall besser, als auf einem normalen Standesamt zu heiraten und in einem normalen Restaurant Gäste zu empfangen, mit denen man gar nicht feiern will.«
Da musste Lilo ihm recht geben. »Außerdem tun wir eine gute Tat, denn die Eltern Wunderer sind alles andere als freundliche Menschen. Wir können das Selbstbewusstsein ihrer Tochter ein wenig aufbauen, denn unsere Hochzeit wird ein Erfolg.«
»Du hast normalerweise nie so plötzliche Ideen und Entschlüsse.« Axel musterte Lilo von der Seite. »Wieso machst du ausgerechnet bei unserer Hochzeit eine Ausnahme?«
Lilo überging die Frage. »Bitte hör auf, mich so anzusehen. Ich kann deinen Blick spüren und das irritiert mich.«
Axel gab auf. Lilo wollte nicht antworten und aus Erfahrung wusste er, dass weiteres Befragen keinen Sinn hatte.
Etwas Wichtiges fiel Lilo ein. »Ich schicke Veronika Wunderer auf jeden Fall eine E-Mail. Sie muss diesen Hirschkopf von der Wand nehmen, wenn Poppi kommt. Und die Lady darf nicht in Pelzmantel und -kappe erscheinen.«
Poppi war nicht nur Tierärztin, sondern auch eine leidenschaftliche Tierschützerin, die energisch für ein Verbot von Pelztierfarmen eintrat.
»Gute Idee«, stimmte Axel zu. Noch immer konnte er sich nicht erklären, wieso Lilo ohne ihn zu fragen diese überstürzte Entscheidung für die Hochzeit im Schnee getroffen hatte. Was steckte dahinter?
DER MANTEL DES TODES
Wie es sich wohl anfühlte, zu sterben?
Wie es wohl war, den letzten Atemzug zu tun und die Augen für immer zu schließen?
Würde Leiden vorangehen?
Gab es Schmerzen, wenn keine Waffe im Spiel war?
War der Tod wie ein schwarzer Mantel, der einem umgehängt wurde und den man nicht mehr ablegen konnte?
Nur noch sechs Tage, dann würde es Antworten auf diese Fragen geben.
Es war schade, dass eine Hochzeit durch einen Todesfall gestört werde würde. Aber manchmal gab es Dinge im Leben, die einfach unabänderlich waren. In diesem Fall war das Sterben wichtiger als das zukünftige Glück von Unbekannten.
Wobei es ohnehin fraglich war, wie viel Glück eine Heirat brachte. Da die Hälfte aller Ehen wieder geschieden wurde, war eine Hochzeit mit einem Roulettespiel zu vergleichen, bei dem nur auf Rot oder Schwarz gesetzt wurde. Die Chance, zu gewinnen, stand 1 : 1.
Wie sollte man den Tod nennen, der sich ereignen würde? War es ein »süßer Tod«? Oder ein »Unglücksfall«?
Die Lebensuhr eines Menschen tickte unaufhaltsam. Sprangen die Zeiger auf Null, so war es vorbei.
Tick. Tack.
Noch 144 Stunden.
Tick. Tack.
Nur noch 143 Stunden, 59 Minuten und 50 Sekunden.
Tick. Tack. Tick. Tack.
Aber manchmal kommt es anders, obwohl man alles so haarklein geplant hat.
BEDENKEN
Klaus Reder öffnete zum fünften Mal an diesem Tag die Wetter-App auf seinem Handy. Er seufzte und ging dann in das Zimmer, das in wenigen Wochen das Kinderzimmer sein sollte.
Poppi stand vor dem Schrank, in dem auf einer Stange Babykleidung hing. Mit einem seligen Lächeln im Gesicht ging sie die winzigen Kleidungsstücke durch. Ihr Lieblingsteil war ein Overall, wie ihn die Pfleger im Tierpark Herberstein trugen. Sogar das Logo des Tiergartens hatte er auf der Brusttasche.
Still beobachtete Klaus von der Tür aus seine Frau. Er räusperte sich kurz, damit sie von seinem Eintreten nicht erschreckt wurde. Poppi drehte sich zu ihm und hielt den grünblauen Overall in die Höhe.
»Ist es nicht unglaublich lieb, dass die Leitung des Tiergartens diesen Overall für unser Baby nähen hat lassen?«
»Eine sehr freundliche Geste«, stimmte ihr Klaus zu. Die Reders waren die Tierärzte des Zoos und behandelten vom Erdmännchen bis zu den Löwen alle Tiere.
Poppi strich mit der Hand über ihren runden Bauch. »Der Overall wird dir sicher gut passen.«
Klaus trat neben sie und legte seine große Hand auf Poppis Hand, die den Bauch streichelte. »Willst du wirklich nicht wissen, ob wir ein Mädchen oder einen Jungen bekommen?«
»Nein.« Als die Frauenärztin bei der Untersuchung gefragt hatte, ob Poppi und Klaus das Geschlecht des Kindes erfahren wollten, hatte Poppi energisch abgelehnt. »Es gibt doch kaum noch echte Überraschungen im Leben. Deshalb möchte ich bei meiner Geburt eine erleben. Und was immer es ist, egal ob Junge oder Mädchen, es ist das größte Geschenk, das wir bekommen können.«
Da konnte Klaus ihr nur zustimmen. Sie hatten die Hoffnung auf ein Kind schon aufgegeben gehabt, als Poppi schwanger wurde. Die Schwierigkeiten und Unsicherheiten der Anfangszeit waren überstanden und die Vorfreude der Eltern unendlich groß.
Klaus deutete auf die Kleidungsstücke im Babyschrank. »Sind da keine echten Jungensachen dabei? Oder Mädchenkleider?«
Seine Frau musste lachen. »Nein, keine Motorradjacke und kein Prinzessinnenkleid. Ich habe alle Strampler geschlechtsneutral ausgesucht.«
»Sobald deine und meine Familie das Geschlecht kennen, werden wir mit der passenden Babykleidung überschüttet werden.«
Davon war auch Poppi überzeugt. »Aber ich will keine Stereotypen für unser Kind. Wenn es ein Mädchen wird, bekommt es trotzdem den Overall aus dem Tiergarten und wird nicht nur wie ein rosa Bonbon im Kinderwagen liegen.«
Mit diesem Vorschlag konnte sich Klaus gut anfreunden. Als Poppi den Overall zurückhängte, begann er, vorsichtig zu erzählen, was er herausgefunden hatte.
»Die Wettervorhersage für die kommende Woche ist alles andere als freundlich, Poppi.«
»Was heißt das?«
»Starker Schneefall ist angesagt. Vor allem in den Bergen.«
Poppi drehte sich energisch zu ihm um. »Hör zu, ich weiß, dass du nicht wild darauf bist, zur Hochzeit von Lilo und Axel zu fahren …«
»Halt, das stimmt so nicht. Natürlich will ich dabei sein«, korrigierte er.
»Im Sommer haben sie die Hochzeit abgesagt, weil ich das Bett hüten musste. Verstehst du? Nur meinetwegen haben sie das getan. Lilo ist es unendlich wichtig, jetzt endlich zu heiraten und wir werden dabei sein. Ich bin ihre Trauzeugin.«
Liebevoll nahm sie Klaus an den Händen. »Poppi, ich denke nur an dich …«
Sie küsste ihn. »Danke, mein Schatz. Aber die Ärztin hat auch nichts dagegen. Sie meint sogar, was sie aus ihrer langen Erfahrung so sagen kann, wird das Baby eher später als früher kommen. Also ist es frühestens in drei, eher erst in vier Wochen so weit. Vielleicht sogar erst kurz vor Weihnachten. Ein Christkind eben. Oder ein kleiner Weihnachtsmann.«
»Bist du wirklich absolut sicher, Poppi? Dieses Hotel