Omar« sagt er.
Die Kultur in Österreich liegt mir. Warum nicht auch etwas, das hier Kult ist? Also folge ich artig und klappe den Laptop auf.
Es beginnt mit fröhlicher Musik aus einer Panflöte, dazu sehr rhythmische Trommelklänge wie aus dem afrikanischen Busch. Dann sehe ich ein erstes Insert in fetten gelben Buchstaben: Fremde Länder, fremde Sitten. (Dabei fällt mir als integrierter Halb-Österreicher spontan ein, was die Männer hier gerne sagen, wenn sie auf Herrenurlaub unterwegs sind: Fremde Länder, fremde Titten – aber bleiben wir doch lieber bei dem Film):
Denn gleich danach folgt schon die Kernbotschaft: Kayonga Kagame zeigt uns die Welt. Zu sehen ist ein schwarzafrikanischer Filmemacher, der seine Kamera auf der Schulter trägt und sich mit einem angespannten Lächeln langsam von einer Seite zur anderen dreht. So, als würde er gerade filmen und dabei staunen.
Wo bin ich hier gelandet?
Eine Sekunde danach weiß ich es, denn der zweiteilige Titel des Filmes wird nach und nach eingeblendet:
Erster Teil: Das unberührte und rätselhafte Oberösterreich.
Zweiter Teil: Das Fest des Huhnes.
Mein Freund, der Journalist, lacht bereits das erste Mal, und ich habe keine Ahnung warum. Natürlich werde ich Ihnen jetzt nicht den ganzen Film nacherzählen. Den finden Sie jederzeit über Google. Er stammt aus dem Jahr 1992, ist also nur ein Jahr kürzer auf der Welt als ich es bin.
Aber für alle, die ihn nicht kennen, ein paar Worte, worum es da geht: Afrikanische Forschungsreisende haben sich ins Herz von Europa aufgemacht, um für diese bei den Afrikanern scheinbar sehr beliebte Sendereihe das ursprüngliche Leben der Alpenstämme zu ergründen.
Man habe bei der Abreise aus Kinshasa, heißt es, keine allzu großen Erwartungen gehabt. Erstens, weil die allermeisten Stämme (wie zum Beispiel Salzburger und Tiroler) weltbekannt und darum längst erforscht seien. Zweitens, weil man bei ähnlichen Reisen nach Asien oder Amerika erkannt habe, dass ein übergroßes Interesse der übrigen Welt die traditionellen Stammessitten zerstöre.
Die Mission der filmenden Ethnologen lautet: Sofort Kontakt mit Eingeborenen aufnehmen und herausfinden, welchem Aberglauben sie anhängen. Tatsächlich gelingt es dem Forscherteam nach anfänglichen Schwierigkeiten, vier eingeborene Brüder als Träger der Ausrüstung und kundige Führer durchs Land zu gewinnen.
Diese Brüder heißen Himmelfreundpointner. Was für ein Name. Rudolf, Sepp, Karl und Franz Himmelfreundpointner.
Die Bilder sind bunt, die Vielfalt der Themen des Filmes ist es auch: rituelle Tänze; ein als Blockhütte verkleidetes Boot; Menschen beim Kartenspielen (Schnapsen); Frauen, die goldene Hauben tragen; Männer, die in Tracht auf und ab springen und sich dabei mit der flachen Hand abwechselnd auf Oberschenkel und Schuhsohlen schlagen (Alena sagt, das heißt schuhplatteln); Menschen, die scheinbar ziellos auf Fahrrädern durch die Gegend fahren, ohne von einem Ort zum anderen gelangen zu wollen; Menschen (vor allem Männer), die um die Wette trinken, nein: saufen; Menschen, die auf Biertischen stehen und schreien; Menschen, die massenweise Hühner essen. Und ein Mensch, der so ein Huhn (lebend) auf dem Kopf trägt. Oder ist es ein Hahn? Und, ganz zum Schluss, auch noch ein sehr lustiger Tanz, wo mein Freund, der Journalist, begeistert ruft:
»Jö, der Vogerltanz!«
Er ist begeistert wie ein Kind, das zum ersten Mal ein Feuerwerk sieht. Obwohl er den Film bestimmt schon oft gesehen hat. Davon bin ich überzeugt. Am Ende, stellt sich heraus, ist die ganze bunte Vielfalt der Bilder diesem einen Gedanken untergeordnet: Dass man möglicherweise Zeuge geworden ist, wie in einem fernen Land eine neue Religion entsteht. Weil die Menschen sich von ihrem alten Gott abgewendet und einem neuen zugewendet haben.
Darum heißt es auch: Das Fest des Huhnes.
Die ganze Zeit über (55 Minuten lang) bin ich hin und her gerissen. Zwischen Lachen und Staunen. Zwischen Ungläubigkeit und Nachdenklichkeit. Ja, einiges davon habe ich auf gewisse Weise hier auch schon erlebt. Anderes wiederum erscheint mir so fremd und absurd, dass ich es nicht glauben kann. Nein, so ist das hier nicht. Deshalb kann ich selbst auch nie so werden. Auch nicht als der vorbildhafteste gelernte Österreicher, der frei herumläuft.
Wir klappen den Laptop wieder zu und mein Freund sieht mich forschend an.
»Nun?«
»Was ich zu dem Film sage?«
»Nein, das habe ich in deinem Gesicht gelesen. Außerdem hast du ständig den Mund offen gehabt beim Ansehen und deinen Senf dazugegeben. Worum es in dem Buch geht, will ich wissen. Im Detail.«
»Also gut«, sage ich nach einigem Zögern. »Da dreht es sich um Themen wie … zum Beispiel das Sozialsystem.«
»Mir schlafen gerade die Füße ein.«
»Warum?«, frage ich. »Sitzt du schlecht?«
»Vor Langeweile, Omar. Sozialsystem. Schnarch. Gähn.«
»Okay«, sage ich rasch. »Gemeint ist mehr … Sozialbetrug. Auch.«
»Schon besser. Aber ich gähne immer noch.«
»Okay, okay. Es geht – auch – um Prost … Prosti … Prostitu … Prost, Prost, Prost … verdammtes Zungenbrecher-Deutsch.«
»Prostitution?« Jetzt ist mein beinahe eingeschlafener Freund doch wieder hellwach.
»Ja«, sage ich und blicke vorsichtig in Alenas Richtung. Sie ist zu unserem inzwischen erwachten Sohn gegangen und ziemlich beschäftigt. Drüben im Wohnzimmer. Oder sie ist höflich genug, so zu tun, als wäre sie ziemlich beschäftigt. »Darum geht es auch«, sage ich etwas leiser. Jetzt flüstere ich fast schon. »Aber nicht um meine eigenen Erfahrungen damit. Die habe ich nämlich nicht.«
»Natürlich nicht!«, sagt mein Freund. »Was noch, Omar?«
(Dazu nur kurz: Sie hätten, liebe Leserinnen und Leser, den Gesichtsausdruck meines Freundes sehen sollen, als er »Natürlich nicht!« gesagt hat. Als würde ich die Unwahrheit sagen! Dabei fällt mir ein kleines Gedicht ein, das ich zum Thema Wahrheit einmal verfasst habe. Es trägt auch genau diesen Titel:
Wahrheit!!!
»Wenn die Armut ein Mann wäre,
hätte ich ihn getötet.« Ali bin Abi Talib
»Die Wahrheit ist ein Fluch.
Suchend nach ihr töten wir einander.«
»Wenn die Wahrheit ein Mann wäre,
hätte ich ihn getötet.«
Die Wahrheit ist weiblich!
»Was noch, Omar?«, fragt mein neugieriger Freund also.
»Essen.«
»Na, was denn sonst. Komm schon, Omar. Ich will einen echten Kracher hören. Einen Hammer.«
»Bürokratie und Bestechung.«
»Immerhin«, murrt mein Freund.
»Woher kommt das Wort?«, frage ich.
»Welches Wort? Immerhin?«
»Nein. Bürokratie. Kommt das von Büro?« Das würde passen, überlege ich. Wenn ich an die vielen Büros denke, die ich schon gesehen habe, ohne sie sehen zu wollen. Amtsstuben nennt man sie hier auch. Mit Stuben verbinde ich eher etwas Gemütliches. Bauernstube zum Beispiel. Oder so eine wie auf einer der Hütten beim Skifahren auf dem Nassfeld. Auch wenn Alena sagt, dass das bloß Folklore ist und nichts echtes Altes, nichts Traditionelles und Gewachsenes, und ich einmal mehr keine Ahnung habe, was sie damit meint.
»Bürokratie?« Mein Freund, der österreichische Journalist, weiß auch nicht so recht. Endlich einmal. Al-hamdu li-Llāh. Gott sei Dank. Nur die Vermutung spricht er aus, dass ich vielleicht gar nicht so weit daneben liege.
Einen Kracher will er also hören. Einen Hammer. Zum Thema Hammer