Johannes Epple

Kalte Sonne


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Den hat sie abgesagt. Sie soll angerufen haben, hat es geheißen, sie sei kurz vor der Entbindung. Alles gut, soll sie gesagt haben, alles so, wie es sein soll.«

      Manuel starrte auf die Staubschlieren auf der Fensterscheibe. Die Morgensonne warf verzerrte Schatten an die Wand. »Vor ein paar Wochen? Kurz vor der Entbindung? Eine Frühgeburt? Ist das dein Ernst?«

      Georg hustete.

      »Wann hast du sie gesehen?«, fragte Manuel. »Was ist mit ihr und dem Kind?«

      »Ich wusste nicht, in welchem Krankenhaus sie liegt. Du weißt ja, so eng sind wir beide nicht.«

      »Du erzählst mir, Hanna hätte, ohne mich zu informieren, unser Kind zur Welt gebracht, und dann hast du sie nicht einmal besucht?« Manuel ging im Zimmer auf und ab. In einem kleinen Spiegel auf der Kommode gegenüber dem Bett sah er sein Gesicht. Seine Augen waren klein, und er hatte einen dunklen Dreitagebart, in den sich erste graue Härchen mischten.

      »Ich habe nicht einmal Hannas private Telefonnummer«, sagte Georg. »Ich muss nicht wissen, wo dein Kind ist. Das ist deine Aufgabe.«1

      Im nächsten Moment ertönte das Freizeichen. Manuel ging ins Bad und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er stopfte die Schmutzwäsche in die Waschmaschine und drückte den Startknopf. Geistesabwesend starrte er auf den steigenden Wasserspiegel in der Trommel.

      Hanna hatte offenbar entbunden.

      Ihre letzte Nachricht war, dass alles in Ordnung sei.

      Warum hatte sie sich nicht bei ihm gemeldet? Ihm keine Fotos, keine SMS, keine E-Mail geschickt? Warum war sie nicht erreichbar? Wo war sie überhaupt?

      Um sich zu beruhigen verließ Manuel die Wohnung und kaufte bei einem Bäcker Brot und Marmelade. Inzwischen war es kurz vor acht Uhr. Der Regen hatte aufgehört. Die Wassertropfen auf den parkenden Autos glitzerten in der Morgensonne. Mit dem Gebäck ging Manuel eine Runde im angrenzenden Belvedere-Park. Er setzte sich auf eine Bank, zündete sich eine Zigarette an und beobachtete die Jogger. Gegen neun Uhr wurde sein Hunger so groß, dass er Magenschmerzen bekam. Er fuhr nach Hause, trank hastig einen Kaffee und hängte die frisch gewaschenen Kleider auf den Wäscheständer.

      Gegen zehn Uhr fuhr er ins AKH, das Allgemeine Krankenhaus. Vielleicht konnten ihm Hannas Arbeitskollegen weiterhelfen. Im Forschungstrakt erkundigte er sich nach dem Labor C.1 und nahm den Lift ins Untergeschoss, wo sechs Laboratorien lagen, die alle unter Hannas Leitung standen. Er erinnerte sich an eine junge Pharmakologin, die bei ihnen zu Besuch gewesen war, und mit der Hanna so etwas wie eine Freundschaft pflegte. Berger oder Bergmeister hieß sie. Er suchte ihren Namen auf einem Laborplan und fand eine Sylvia Bergmann. Er erinnerte sich wieder. Raum C.1.8.

      Das erste Mal seit seiner Rückkehr aus der Türkei spürte Manuel eine verhaltene Freude. Er hatte keine Ahnung, was für ein Spiel Hanna da trieb, aber es konnte um nichts Großes gehen. Seine Tochter war zwar vier Wochen vor dem Geburtstermin auf die Welt gekommen, aber das musste nichts bedeuten. Er war Vater. Komisches Gefühl, dachte er.

      Manuel klopfte an Bergmanns Bürotür. Niemand reagierte. Vorsichtig drückte er die Klinke. Abgeschlossen. Manuel erkundigte sich bei einer jungen Frau in einem weißen Mantel nach der Pharmakologin. »Sylvia ist im Kühlraum im zweiten Untergeschoss«, sagte sie und betrachtete ihre silber lackierten Fingernägel. »In zwanzig Minuten ist sie zurück.«

      Am Gang setzte sich Manuel auf einen Stuhl und verfolgte das Treiben der Laboranten. Ihn beeindruckte die souveräne Sterilität, die im Forschungstrakt herrschte. Er kannte das alles aus seiner eigenen Zeit in der Wissenschaft. Mit fünfundzwanzig war ihm diese Lebensart zu langweilig geworden. Ihn selbst hatte es immer hinaus ins Leben gezogen. Er wollte echten Schmerz und echte Lust, hatte er einmal zu Hanna gesagt. In der Forschung war immer alles zu sauber und still. Die Menschen sprachen nicht. Sie flüsterten. Sie liefen nicht, sondern schwebten durch die Gänge wie Gespenster. Alles wirkte so rein, beinahe ephemer in den Laboratorien, unendlich weit weg von der Wirklichkeit, als handelte es sich um zwei unterschiedliche Sphären, die nichts miteinander zu tun hatten.

      Aus diesem Grund hatte er bei Ärzte ohne Grenzen angeheuert. Er verließ die Operationssäle und Aufwachräume der Wiener Krankenhäuser, in denen er seine Ausbildung absolviert hatte, und tauschte sie gegen Zeltlager und die schmutzigen Rücksitze amerikanischer Humvees. Er mochte das.

      Durch eine offene Tür beobachtete er einen Laboranten, der eine Gewebeprobe aus einem Kühlschrank holte und unter ein Mikroskop schob. Jede seiner Bewegungen war langsam und vorsichtig. Er war von einer Ehrfurcht und einem Zartgefühl gegenüber seinem Arbeitsgegenstand ergriffen, die Manuel beeindruckten. Er selbst war nie so gewesen. Er wollte immer stürmen. Da blieb kein Platz für die Feinheiten des Mehr oder Weniger, für die hohe Kunst der Nuance.

      Der Laborant war gut und gerne zehn Jahre älter als Manuel. Er musste seinen Beruf seit mindestens zwanzig Jahren ausüben. Und dennoch diese Hingabe, die er auch an Hanna beobachtet hatte. Sie hatte eine ähnliche Haltung wie der Laborant. Hanna war getrieben von der Faszination »Krankheit«, wie sie ihm einmal erklärt hatte. Es war das Labyrinth des Schmerzes, das sie seit ihrem Studium begeisterte.

      Nach einigen Minuten trat eine Frau in einem zerknitterten weißen Kittel aus dem Lift und verschwand im Zimmer, auf dessen Türschild der Name Bergmann stand. Manuel klopfte. Die Tür war nur angelehnt. »Erinnerst du dich an mich?«, fragte er.

      »Klar«, sagte die Frau. »Saltimbocca, trocken und ohne Salbei. Ich habe immer schon gewusst, dass Hanna nicht kochen kann.«

      Manuel sah sie ernst an. »Wegen Hanna bin ich hier«, sagte er. »Ich muss dich etwas fragen.«

      »Gehen wir in den Park? Ich könnte ein wenig Sonne vertragen.«

      Zwischen Hagebuttensträuchern, unter denen Amseln nach Fressbarem suchten, setzten sie sich auf eine Bank. Bergmann schlug die Beine übereinander und holte einen Kaugummistreifen aus der Brusttasche ihres Kittels.

      »Ich bin wie gesagt wegen Hanna hier«, sagte Manuel und wartete, welche Wirkung seine Worte auf Bergmann hatten. »Und wegen meiner Tochter. Sie ist … Die beiden sind verschwunden.«

      »Verschwunden? Was heißt das?«

      »Sie sind nicht daheim, und ich kann Hanna weder telefonisch noch irgendwie anders erreichen.«

      »Hattet ihr Streit?«

      »Nichts dergleichen.«

      Bergmann schob die Ärmel ihres Kittels nach oben und musterte ihn stoisch von der Seite. Manuel fiel auf, dass sie dunkle Ringe unter den Augen hatte. Sie wirkte so, als hätte sie die Nacht durchgearbeitet.

      »Hanna hat oft von dir gesprochen«, sagte Manuel. »Ich versuche nur, alle Möglichkeiten auszuschöpfen.«

      »Als ich zuletzt von ihr gehört habe, war sie auf dem Weg in die Semmelweis-Klinik, weil die Wehen eingesetzt hatten.«

      »Ging es ihr gut?«

      »Alles bestens.«

      »Und danach?«

      »Ich wollte sie besuchen, aber sie hatte immer eine andere Ausrede. Das Kind sei krank. Das Kind sei müde. Das Kind brauche Ruhe, weil schon eine Menge Besucher dagewesen seien. Nach drei oder vier Versuchen habe ich aufgegeben. Ich kannte ja Hanna. Schon immer war sie darauf bedacht, das Private und das Berufliche zu trennen. Auch wenn sie mich als Freundin sah, gehörte ich zur Sphäre des Krankenhauses. Einmal erklärte sie, Fehler entstünden aus Unordnung. Ich kenne niemanden, der so große Probleme mit dem Unvollkommenen hatte wie Hanna.«

      »Kennst du jemanden, der das Kind gesehen hat?«, fragte Manuel.

      »Hier bei uns im Krankenhaus war ich die Einzige, die Kontakt mit Hanna pflegte. Sicher kam es vor, dass jemand sich mal nach ihr erkundigte. Aber niemand hatte den Ehrgeiz, sie privat kennenzulernen.«

      Als Manuel von Hannas verwüstetem Arbeitszimmer sprechen wollte, ertönte ein Pieper. Bergmann zückte ihr Mobiltelefon und entfernte sich einige Schritte. Manuel behielt sie die ganze Zeit über im Blick.

      »Ein