Leben. Nicht einmal vor der Defensio ihrer Habilitationsthesen war es ihr so schlecht gegangen. »Es ist kein Mädchen«, sagte sie.
Der Arzt klappte das Notizbuch zu.
»Es ist ein Junge«, sagte Hanna.
»Der Frauenarzt hat das Geschlechtsteil auf den Ultraschallbildern übersehen.«
»Ein Junge. Wo ist das Problem?«
»Dr. Brandner wird mit Ihnen sprechen. Er wird in wenigen Minuten da sein.«
»Ich will nicht warten. Ich will den Jungen sehen. Jetzt. Sofort.« Hanna zog sich am Seitengitter hoch. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, um nicht sofort wieder umzukippen. Als sie aufrecht saß, wurde ihr schwarz vor den Augen.
»Frau Mahler, bitte beruhigen Sie sich. Sie haben eine sechsstündige Geburt hinter sich. Dr. Brandner wird gleich kommen.« Verlegen lächelnd drückte der Arzt Hanna sanft zurück ins Bett.
Als Hanna wieder alleine war, trank sie einen Schluck Früchtetee. Mit der Tasse in der Hand blickte sie aus dem Fenster. Es war ein warmer Frühlingsnachmittag. Die Eichen und Tannen im Park der Semmelweis-Klinik glänzten im Sonnenlicht. Es war still, außergewöhnlich still für so ein großes Krankenhaus.
Eine falsche Bestimmung des Geschlechts kam gelegentlich vor. Hanna wusste das. Meistens handelte es sich um einen unachtsamen Frauenarzt oder um ein veraltetes Ultraschallgerät, das den Innenraum der Gebärmutter unscharf reproduzierte. Es konnte auch passieren, dass das Kind schlecht lag und so das Geschlecht nicht vollständig zu erkennen war.
Aber das alles traf nicht zu. Davon war Hanna überzeugt. Der Frauenarzt war ein Profi mit modernster Ausstattung, den sie seit Jahren konsultierte. Sie selbst hatte sich das Ultraschallbild angesehen. Zuerst in der Praxis und dann noch einmal daheim. Ihr Kind war ein Mädchen.
Im Nachbarbett regte sich das Neugeborene. Es streckte seine Arme und kreischte. Die Mutter legte das Kind an ihre Brust. Hanna beobachtete den Stillvorgang. So in etwa hatte sie sich die Stunden nach der Geburt vorgestellt. Zu zweit im Bett. Sie und das Mädchen ganz nah, so nah, dass sie sich gegenseitig einatmen konnten.
Als das Neugeborene gegenüber seinen Hunger gestillt hatte, schlief es augenblicklich ein. Die Frau legte das Kind in das rote Gitterbett zurück und tapste mit nackten Füßen ins Bad. Duschgeräusche. Der Ventilator brummte.
Seit dem Gespräch mit dem jungen Arzt waren zwanzig Minuten vergangen und Brandner war noch immer nicht da. Mistkerl. Hanna entschloss sich, bei nächster Gelegenheit tatsächlich den Patientenanwalt zu kontaktieren oder gleich den Vorstand der Semmelweis-Klinik. Aber zuvor brauchte sie Informationen über den Zustand ihres Kindes.
Hanna drückte den Notfallknopf am Nachtkästchen. Einmal. Zweimal. Sie wartete. Dreißig Sekunden. Eine Minute. Nichts. Sie setzte sich an den Bettrand und atmete tief ein. Sie schlüpfte in die Krankenhausschuhe und machte sich auf den Weg zur Tür. Langsam. Bedächtig. Mit zur Sicherheit ausgestreckten Armen. Sie schaffte es ohne Schwindelanfall bis zum Waschbecken neben der Tür. Dort machte sie eine Pause. Wehmütig blickte sie zu dem schlafenden Kind. Ein Junge. Wenigstens deutete der blaue Strampler daraufhin. Er hatte dichte, schwarze Haare und eine Boxernase. Seine Hände lagen ruhig auf der Bettdecke.
Hanna schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Wand. Sie war zu schwach, um einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Kehle war trocken. Die Beine zitterten. Mit letzter Kraft trat sie auf den Gang. Sie tastete sich an der Mauer entlang und klopfte an die Glastür des Schwesternzimmers. Sie hörte Stimmen. Eine Gänsehaut jagte über ihren Rücken. Ein Telefon läutete. Schritte. Die Tür ging auf. Das bleiche Gesicht einer Mittvierzigerin war das Letzte, das Hanna wahrnahm.
Weißes Licht. Ein Luftzug vom Fenster. Ein Vorhang, der sich aufbauscht.
Schmerzen. Im Kopf. Im Unterleib. Schmerzen. Am Handgelenk. Am Oberkörper.
»Frau Mahler, hören Sie mich? Ich bin Marija. Bitte geben Sie mir Ihren Arm. Keine Sorge, es tut nicht weh.«
Hanna öffnete die Augen. Eine Schwester mit einer Tätowierung am Handgelenk beugte sich über sie. »Ich gebe Ihnen Kochsalzlösung. Sie haben lange geschlafen.«
Hanna stützte sich auf die Ellbogen. »Was?« Sie fühlte einen Verband auf ihrer Stirn. »Wie lange?«
»Sie sind in Ohnmacht gefallen. Gestern.«
»Gestern?«
»Der Arzt kommt gleich.«
Marija hängte die Kochsalzlösung an den Haken über ihrem Bett. Das Bett der zweiten Frau im Zimmer war leer. Im Gitterbett quengelte ihr Junge. Aus dem Bad kamen Duschgeräusche.
»Bitte geben Sie mir mein Kind«, sagte Hanna.
Hanna zeigte auf ihr Nachthemd, das nass war von der austretenden Muttermilch.
»Ich hole eine Pumpe«, sagte Marija.
»Ich will keine Pumpe«, antwortete Hanna. »Ich will mein Kind.«
Brandner kam mit seinen Assistenten zwanzig Minuten später. Unter dem weißen Mantel trug er ein weißes Hemd mit einer roten Krawatte. Er blätterte in Hannas Mappe und erzählt währenddessen seinen Assistenten von Hannas Arbeit in der Embryonenforschung und ihren gemeinsamen Studienjahren an der Universitätsklinik. Er schmeichelte Hanna dabei ein wenig.
»Ich weiß, wer ich bin«, unterbrach ihn Hanna. »Ich kenne meine Geschichte.«
Brandner nestelte an seinem Krawattenknoten. »Schon gut«, sagte er.
Als Ärztin hasste es Hanna, schlechte Nachrichten zu überbringen. Auch deswegen war sie nach dem Studium in die Forschung gegangen. Forschung bedeutete für sie, den Kontakt zu den Patienten auf elegante Weise zu reduzieren. Es gab nur sie und die konzentrierte Sterilität des Labors. Es gab keine schlechten Nachrichten. Es gab nur in Paraffin fixierte Versuchsanordnungen, die keine Schmerzen empfanden.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Brandner. »Noch nie hat so ein Junge in Wien eine Geburt überlebt.«
»Was ist mit meinem Kind?«, schrie Hanna. »Ich will es sehen.«
Brandners Assistenten senkten die Blicke.
»Der Junge liegt auf der Intensivstation«, sagte Brandner. »Die Psychologen meinten, wir sollen noch warten, bis wir ihn dir zeigen. Du weißt ja, wie das ist.«
»Vergiss die Psychologen. Bring mich sofort zu dem Jungen.« Hanna rutschte aus dem Bett. Als ihre Fußsohlen den Boden berührten, musste sie sich am Nachtkästchen festhalten. »Wenn ich mit dir fertig bin, kannst du dir einen Job als Pharmareferent suchen.«
»Wie du meinst.« Brandner schickte die Assistenten ins Schwesternzimmer. »Komm mit«, sagte er, und befestigte Hannas Infusionsbeutel auf einem Ständer.
Mit dem Lift fuhren die beiden ins Erdgeschoss zur Intensivstation für Neugeborene. Brandner öffnete mit einer Karte eine Schiebetür und bat Hanna, ihm zu folgen. Die Intensivstation war ein schmaler Raum mit einer langen Reihe von Brutkästen. Auf einem Mauervorsprung standen dreißig Fläschchenwärmer mit vollen Milchflaschen. Ein EKG-Gerät piepste leise. Hannas Hände zitterten. Sie hatte sich alles so anders vorgestellt. Was passierte hier?
Ganz hinten lag ein Neugeborenes in einem Gitterbett mit einem leeren Namensschild. Am Kopfende stand ein Herzfrequenz-Überwachungsgerät. Von der Decke hing eine höhenverstellbare Halogenlampe, die wohl dazu diente, die Körpertemperatur des Säuglings zu regulieren.
»Dein Sohn«, sagte Brandner.
So lange hatte Hanna auf diesen Augenblick gewartet, nun wagte sie es nicht, näherzutreten. Eine blassrosa Bettdecke. Vier Schläuche, die seitlich aus dem Bett hingen, und eine Infusion für die künstliche Ernährung. Am Namensschild war nichts als eine grau gepunktete Linie. ›Lisa‹ sollte dort stehen.
Monatelang hatte sie mit Manuel über den Namen nachgedacht. Er hatte ausgefallene Namen vorgeschlagen. Naima. Keisha. Tessa. Hanna lehnte solche Namen nicht rundheraus ab. Manche fand sie schön. Aber die Namen sprachen