im Raum. Meine Mutter rührte mit dem Löffel in ihrer Kaffeetasse. Tereza schaltete den Geschirrspüler ein und holte das Gepäck aus dem ersten Stock.
Ich rutschte mit dem Notebook näher an meine Mutter heran und öffnete den Ordner mit den Fotos aus dem Kinderheim in Strebersdorf. »Kennst du die Kleine?«
Meine Mutter strich mit zwei Fingern über das Gesicht des Mädchens am Bildschirm und flüsterte dabei etwas Unverständliches.
»Jetzt hast du sie wieder«, sagte ich. »Freut dich das?«
Keine Antwort. Nur der Anflug eines Nickens. Tereza kam wieder in die Küche und setzte sich zu uns. Sie tippte auf ihr Handgelenk. Wir waren schon spät dran.
»Männer in Uniformen waren da«, sagte meine Mutter.
»Das waren Polizisten«, antwortete ich.
Meine Mutter sah Tereza an. »Miriam ist nicht tot«, sagte sie.
Tereza legte ihre Hand auf die Schulter meiner Mutter und machte beruhigende Zischlaute.
»Helene ist wieder da« sagte ich. »Zurzeit liegt sie in einem Wiener Kinderheim. Sonst geht es ihr gut.«
Meine Mutter reagierte nicht. Egal, was ich versuchte, ich drang nicht zu ihr durch.
»Miriam ist nicht tot«, sagte sie noch einmal zu Tereza.
Ich tippte auf den Bildschirm. »Schau her! Schau sie dir an! Sie ist richtig hübsch.«
Meine Mutter schnappte nach Luft. Tereza gab mir ein Zeichen, mich zurückzuhalten. Sie legte meiner Mutter eine Trainingsjacke über die Schultern und begleitete sie in den Garten. »Wir warten draußen. Georg bringt die Koffer in den Wagen. Dann fahren wir.«
Meine Mutter blinzelte verblüfft, sagte aber nichts.
Ottobrunn hatte ein eigenes Altenheim, das drei Straßen weiter zwischen einem Gasthaus und dem örtlichen Fußballplatz lag. Wir mussten also nicht weit fahren.
Eine Hilfspflegerin und eine Stationsschwester empfingen uns. Die beiden Frauen halfen meiner Mutter aus dem Wagen und begleiteten sie zu ihrem Zimmer mit Blick auf den Fußballplatz. Alles war vorbereitet. Ich musste nur noch ein Formular unterschreiben, dann war die Sache erledigt. Meine Mutter war im Heim und Tereza war arbeitslos. Zum Abschied küsste sie meine Mutter auf die Stirn und hinterließ ihre Nummer bei der Stationsschwester. »Damit sich Frau Neumann bei mir melden kann, wenn sie etwas braucht.«
Meine Mutter ließ alles teilnahmslos über sich ergehen. Sie war offenbar froh, als sie sich in ihrem Zimmer ins Bett legen konnte. Ich setzte mich an den Bettrand. Ich war in sentimentalen Situationen nie gut gewesen. Auch jetzt wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte. »Ich komme bald wieder«, sagte ich.
Meine Mutter schluckte geräuschvoll. »Das Mädchen …«, sagte sie.
»Sie ist deine Enkelin«, sagte ich. »Ich will nicht, dass sie in einem Heim oder bei Fremden aufwächst.«
»Wann fahren wir wieder nach Hause?«, fragte sie.
Ich schaltete die kleine Stereoanlage an und legte eine von Terezas Entspannungs-CDs ein. Als der Klang einer Panflöte ertönte, sank meine Mutter tiefer in den Polster. »Warum hat Miriam diese Medikamente genommen?«, fragte sie. Sie wirkte auf einmal fast klar.
»Es gehörte zu ihrem Beruf«, antwortete ich.
Am nächsten Tag fuhr ich nach Hamburg zur Asklepios Klinik im Stadtteil Altona. Da ich gegen fünf Uhr morgens aus Ottobrunn losfuhr, kam ich gut voran und brauchte für die Strecke quer durch Deutschland nicht länger als sechs Stunden. Miriam lag seit 15 Monaten auf der Intensivstation der Klinik. Ich hatte sie zuletzt kurz nach ihrer Einlieferung besucht, nach dem Brand in ihrer Wohnung in Norderstedt.
Gegen 11.30 Uhr nahm ich eine Ausfahrt von der Stadtautobahn, die direkt in die Tiefgarage des Krankenhauses führte. Ich folgte einer grünen Linie in den Trakt C mit der Intensivstation. Dort servierten die Stationshelfer gerade das Essen. Da die meisten Patienten nicht bei Bewusstsein waren, kamen sie mit einem Wagen aus.
Ich klopfte an der Glastür der Schwesternstation und sah mich um. Die Asklepios Klinik hatte eine ziemlich große Intensivstation, zumindest war sie größer als jene des Donauspitals in Wien. Es gab einen Akutraum mit zwanzig Betten und 10 bis 15 Einzelzimmer. Als niemand reagierte, trat ich in den Aufenthaltsraum des Personals. Die Spüle war voll mit Kaffeetassen und Kuchentellern. Auf einem Tisch stand eine leere Sektflasche. Ich drückte die Notfalltaste, mit der Schwestern einen Arzt oder die Oberschwester rufen können, und wartete draußen am Gang. Eine Frau mittleren Alters kam, und als sie im Schwesternzimmer niemanden vorfand, sah sie mich misstrauisch an. »Haben Sie gedrückt?«
Ich tat ahnungslos. »Mein Name ist Georg Neumann«, sagte ich.
Ihr Misstrauen blieb. »Sie sind wegen Miriam Neumann hier?«
»Ich bin ihr Halbbruder«, sagte ich.
Die Schwester ließ ihren Blick von meinem Scheitel bis zu den Fußspitzen schweifen. Sie wirkte wie die weibliche Karikatur eines SS-Mannes: dünne, zusammengepresste Lippen, farblose Augen und der brutale Blick eines Kampfhundes.
»Ständig kommen Menschen, die sich als Verwandte von Frau Neumann ausgeben. Onkel, Cousins, Großväter. Halbbruder ist neu, Halbbruder, das gefällt mir. Haben Sie einen Ausweis?«
»Was soll das werden?«
»Vergangene Woche waren vier Typen da, die sich in Frau Neumanns Zimmer einschleichen wollten, um Fotos zu machen. Ohne Ausweis können Sie es vergessen. Ich bin hier die Pflegedienstleiterin.«
Ich reichte ihr meinen Führerschein. Sie entspannte sich etwas, als sie meinen Namen las. »Ich heiße Christina und ich kümmere mich seit einem halben Jahr um Miriam«, sagte sie. »Ich habe sie gleich bei ihrer Einlieferung erkannt. Mir war klar, dass sie eine besondere Patientin sein würde.«
Ich betrachtete ihre durchtrainierte Figur. Ein typisches Opfer, dachte ich.
»Ich habe ihren Channel abonniert und habe mir alle ihre Videos angesehen«, sagte Christina.
Christina ging voraus zum Zimmer 17. Drinnen stand ein Bett im Halbdunkel. Miriam war intubiert und hing an einem Beatmungsgerät, das gleichzeitig ihre Herzwerte maß. Sie lag in einem oben offenen Glaskasten, mit elektronisch gesteuerter Matratzenheizung, um ihre Körpertemperatur stabil zu halten.
Als ich an den Glaskasten herantrat, fielen mir als Erstes Miriams dürre Oberarme auf. Sie waren kaum dicker als ein Stuhlbein oder der Griff eines Tennisschlägers. Der Anblick schockierte mich. Miriams Oberarme waren früher besonders stark gewesen. Auf YouTube gab es unzählige Bizeps- und Trizeps-Trainingsvideos von ihr. Durch das Koma hatte sie den Großteil ihrer Muskelmasse verloren, denn nach einem Monat ohne Training beginnt bei einem gesunden Menschen der Muskelabbau.
»Wie schön sie früher war«, sagte Christina. »Es ist ein Jammer.«
»Ja«, antwortete ich, »sei du selbst …«
»… und dann sei ein Stück besser«, vervollständigte sie Miriams Slogan.
Christina strich die Bettdecke glatt und kontrollierte die Tropfgeschwindigkeit der Kochsalzlösung. »Ich hab mir dieses Fitness-Chick-Programm gekauft, Sie wissen schon, diesen Ganzkörperplan mit Ernährungsberatung und allem. Wegen meiner unregelmäßigen Arbeitszeiten hatte ich nicht den Erfolg, den Miriam mir versprochen hatte.«
Christina umrundete das Bett und öffnete das Fenster. Draußen ertönte vom nahegelegenen Hafen das Nebelhorn eines Frachters. Christinas Haare waren strähnig und trocken, ihre Haut zeigte Akne-Narben. Das perfekte Zielobjekt für Miriams Marketingstrategien, dachte ich. Miriam hatte mehr als 100.000 Follower auf Instagram, 80.000 auf YouTube und knapp 150.000 Freunde auf Facebook. Sie hatte ihnen mit Videos und Fotos gezeigt, wie sie im Fitnessstudio ihren Körper in Form bringen konnten.
Sei du selbst und dann sei ein Stück besser. Miriams Slogan stand auf Stringers, Sporthöschen und Eiweißpräparaten. Mehrere Sportbekleidungsfirmen sponserten sie, sie