Kurse) unterrichtet. Je höher die Schule, desto homogener die Klassen, denn Schulen unterliegen dem Leistungsprinzip. Schülerinnen und Schüler werden aufgrund erbrachter Leistungen promoviert, es findet eine Selektion statt.
Dieses Setting ist über Jahrhunderte zu dem geworden, was es heute ist. Zwar werden einzelne Aspekte eines Schulsystems immer wieder hinterfragt, offen kritisiert, zuweilen entsprechend justiert oder modifiziert, doch fraglos ist die Institution Schule das stabilste System einer jeden Gesellschaft. Wirtschaftskrisen oder auch Kriege können der Schule in der Regel nicht viel anhaben. Bricht in einem Staat das Schulsystem zusammen, befindet sich dieser Staat unmittelbar vor der Auflösung. Andersherum: Schule ist der Stabilitätsfaktor einer Gesellschaft, in keinem anderen System findet sich heute auch nur eine ähnliche Kontinuität.
Die Gesellschaft ist seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts merklich in Bewegung. Hielt die Generation heutiger Großeltern noch den Wahlspruch «Trautes Heim, Glück allein» hoch, so ist insbesondere die Familie mittlerweile kein fixes Arrangement mehr. Die Zeiten, in denen der Vater ein Leben lang und nahe dem Wohnort derselben Arbeit nachging, währenddem die Mutter zu den Kindern schaute, den Haushalt besorgte, sind wohl endgültig vorbei. Im einen Haus kommt es zur Scheidung, im andern entsteht eine neue Patchwork-Familie. Die Karriere des Kindes beginnt im Kinderhort, oft, bevor es um sich selber weiß, führt über Kitas und Kindergärten in die Schule. Kommt das Kind nach Hause, trifft es nicht selten niemanden an. Infolgedessen ist die Schule für viele junge Menschen der vertrautere, mitunter der sicherere Ort.
Und dennoch: Weder die Verpflichtungen noch die Verantwortung von Menschen, die Kinder in die Welt setzen, sind im 21. Jahrhundert kleiner geworden. Die Schule kann (oder soll) das Zuhause nicht ersetzen, die lehrende Funktion der Eltern lässt sich nicht delegieren: «Der Beginn des wechselseitigen Zeigens ist die Menschwerdung im engeren Sinne. Der Mensch ist das zeigende Tier. Er macht seinen Nachkommen nicht nur vor, was die dann nachmachen. Sondern er hebt Sachverhalte hervor, die er dann mit ihnen teilt. Zeigendes Hervorheben ist Lehren. Das zeigende Tier ist auch das lehrende Tier, und die ersten Lehrer sind Mütter und ihre Trabanten» (Türcke).
Lehren
Eine Lehrerin muss Vorbild sein – sowohl für das, was sie ist, als auch für das, was sie vertritt, wofür sie einsteht. Ohne diese Selbstverständlichkeit verdient sie keine Aufmerksamkeit. Wer nicht der Überzeugung ist, als Vorbild dienen zu können, taugt nicht als Lehrperson. Sie oder er stünde permanent neben den Schuhen, suchte das Heil in wechselnden Rollen im steten Versuch, den Anschein einer Lehrkraft zu wahren. Das ist nicht nur kräfteraubend, daraus entsteht auch kein fruchtbarer Unterricht. Im besten Fall schauen beachtliche Einzelvorstellungen heraus, nie aber ein organisches Ganzes.
Der Umkehrschluss, Lehrerinnen und Lehrer dürften keine Rollen spielen, ist freilich falsch. Tatsächlich verfügen Lehrkräfte über ein beeindruckendes Repertoire an Rollen; es gehört zum Rüstzeug einer jeden Pädagogik. «Lehren stellt eine spezifisch absichtsvolle Form der Ansprache in sozialer Kommunikation und Interaktion dar», schreibt Andreas Gruschka. Das Planerische hat freilich seine Tücken, denn schon junge Menschen entwickeln schnell ein Gespür dafür, wenn links und rechts Leitplanken aufgestellt werden, wenn der eingeschlagene Weg keine Abzweigungen mehr bietet. «Gelungene pädagogische Arrangements zeichnen sich durch ein Paradox aus: die Absichtslosigkeit», hält Reinhard Kahl fest, und er stellt die rhetorische Frage: «Ist vielleicht ein Übermaß an Absicht die Erbsünde der Pädagogen?»
Vorbild sein zu wollen, lässt sich nicht lernen. Es handelt sich um eine Voraussetzung, die jede Lehrperson mitbringen muss, ein Charakterzug, der freilich ambivalent ist, ohne den entsprechenden Willen jedoch sollte sich niemand freiwillig vor eine Klasse stellen. Es geht um Glaubwürdigkeit, ohne die nie ein Vertrauensverhältnis entstehen kann: Fühle ich mich als Lehrer in einem Unterrichtsraum nicht wohl, kann ich nicht unterrichten. Ich muss mich darstellen und der Situation aussetzen wollen, selbst wenn dies, mein Tun, nur immer dem Stand meiner jüngsten Irrtümer entspricht. Ohne ein hohes Sendungsbewusstsein keine Lehre.
Unterrichten meint auch immer Verschwenden und hat mit Verwalten nur dann etwas zu tun, wenn es darum geht, Störfaktoren zu bekämpfen, die dem Lehren und Lernen abträglich sind. Unterrichten ist also im Grundsatz ein Geben. Das Einstehen für die Sache ist ein Stehen für sich. Ist das zu Vermittelnde nicht Herzenssache, ist es niemandes Sache: Bilden Lehrer und Stoff keine Einheit, zerfällt beides – anders gesagt: Es besteht kein Interesse mehr, übrig bleibt eine Marionette, die irgendwem etwas vorgaukelt. Eine Marionette aber ist als Vorbild untauglich, ein Irgendetwas bleibt immer unverbindlich.
Mangelt es in der Klasse an Aufmerksamkeit, so liegt das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nur an den Schülerinnen und Schülern. Unterrichten ist Unterhalten, also das Publikum in Bann ziehen.
Den Schülerinnen und Schülern geht es zunächst allerdings nie um alles (warum sollte es das?), doch sind sie (fast) immer bereit, sich verführen zu lassen. Demut dürfte den Lehrkräften kein schlechter Ratgeber sein: «(…) man kann auch zu der Einsicht kommen, dass der Charme der Pädagogik gerade darin liegt, jenseits der Resignation und Klage über einen ‹unmöglichen Beruf› (Freud) die Aktstruktur der Vermittlung als das Moment der Freiheit wie der Herausforderung zu sehen» (Gruschka).
Asymmetrie, Ernst und Spiel
Unterhalten meint: begeistern und überraschen – oder auch nur durchbringen. Denn das Ziel eines Lehrers kann nur das eine sein: die Schülerinnen und Schüler zum Denken anregen (solange diese dafür nicht zu ausgelaugt sind). Ernsthaftigkeiten durchspielen, Varianten testen, Fehler machen, auch vorsätzlich, das ist Sinn und Zweck jeder Übung. Eine Übung ohne Wagnis ist verbrannte Zeit. Ohne Verrückungen ergibt sich nie ein neues Bild – und also kein Aha-Effekt. Dieses Durchspielen, Testen, Scheitern und Gelingen entspricht der Idee der Propädeutik: ein Vorbereiten und Vorbilden, das Horizonte zur eigenen Bildung eröffnet.
Eine Lehrerin muss eine erfahrene Spielerin sein, deren Mut zum Risiko aber ungebrochen ist. Hat sie ausgespielt, gar abgeschlossen, so hat sie nichts mehr zu sagen. Wir setzen uns zusammen, damit wir uns auseinandersetzen können. In diesem Wir ist die Lehrperson inbegriffen: Stellt sie sich selbst nicht zur Disposition, erklärt sich stattdessen zur Nichtspielerin, entbindet sie sich jeder Zuständigkeit – und bleibt außen vor. Wer nicht Motor und Katalysator in einem sein will, ist keine Lehrkraft.
Die Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler anzunehmen, heißt, sich ihnen aussetzen, heißt, stets von Neuem den Beweis zu erbringen, als Vorbild bestehen zu können – als Mensch zu bestehen. Dazu gehört fraglos fachliches Wissen, damit sich aber eine Verbindlichkeit hinsichtlich des Stoffes überhaupt etablieren kann, bedarf es der Integrität. Handelt es sich bei der Lehrperson nicht um eine präsente, um eine fassbare Person, ist jede Annäherung an ein Thema – beziehungsweise an die Methode zu dessen Vermittlung – von vorneweg prekär.
Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Kein Lehrer ist Superman. Gerade nicht. Doch er muss mit beiden Füßen auf dem Boden – sprich im Leben – stehen, und er muss Inhalte vermitteln wollen. Abstrahiert er während des Unterrichtens von seiner Person, möchte er lediglich Stoff durchnehmen, wird nur wenig von dem, was er an die Jungen heranzutragen versucht, bei diesen ankommen.
Ich erinnere mich an einen meiner Englischlehrer, er zeichnete sich nicht nur durch eine Begeisterung für Literatur aus, die weit über den Pflichtstoff hinausging, er konnte auch leidlich Gitarre spielen – und singen. Damit hatte er uns alle in der Tasche (nicht zuletzt, weil er dieses Instrument dosiert einzusetzen wusste). Ein anderer, ein Geschichtslehrer, an den ich mich gut erinnere, war Politiker, zu meiner Gymnasiumszeit Mitglied des Schweizer Nationalrats. Da kamen Faxnachrichten bei uns an, die der Mann im Zug nach Bern eilends noch verfasste, um uns zumindest aus der Ferne zu grüßen, da standen aktuelle Themen zur Debatte, da ging es zuweilen auch um Wahlkampf.
Kurzum: Das waren Lehrpersonen, die als Vorbilder taugten – fassbar als Menschen im Unterricht und über die Schule hinaus. Werden Wirkungskreise spürbar, entstehen Resonanzräume, die mit der Funktion des Stoffvermittelns allein nicht zu schaffen zu sind.
Selbstverständlich