den Schlaf. Der Energietank ist zwar hoffentlich immer annähernd voll, doch gewiss nicht zu jeder Zeit. Wer Indisponiertheiten um jeden Preis zu kaschieren versucht, kann nicht mehr ankommen. In den Worten von Theodor W. Adorno: «Sie [die Lehrer] dürfen ihre Affekte nicht unterdrücken und dann rationalisiert doch herauslassen, sondern müßten die Affekte sich selbst und anderen zugestehen und dadurch die Schüler entwaffnen. Wahrscheinlich ist ein Lehrer überzeugender, der sagt: ‹Jawohl, ich bin ungerecht, ich bin genauso ein Mensch wie ihr, manches gefällt mir und manches nicht›, als einer, der ideologisch streng auf Gerechtigkeit hält, dann aber unvermeidlich verdrückte Ungerechtigkeit begeht.»
Der Verdacht, die Schule sei weltfremd, wird gern und oft geäußert. Doch was sind die Gründe dafür? Dass der Ernst des Lebens ausgeblendet werde? Die Realität außen vor bleibe? Die Praxis zu wenig zum Zug komme? Zu wenig konkrete Ausbildung hinsichtlich zu ergreifender Berufe gepflegt werde? – Erstaunlich und eigentlich durch nichts zu begründen ist die Idee, man habe es ja von vorneweg immer schon mit fertigen Menschen zu tun, schließlich ist doch in jedem das Potenzial zum Erwachsenen angelegt, es braucht nur noch in die richtigen Bahnen gelenkt zu werden, man liefere also gefälligst die zukünftigen Redakteurinnen und Ingenieure, Informatiker und Managerinnen, die Ärztinnen und Juristen – das kann doch nicht so schwer sein, ist doch alles im Internet greifbar … Liessmann hält dagegen: «Eine Pädagogik des Denkens, Erkennens und Verstehens will nicht die Sinnlichkeit reizen, sie will die Sinne vergessen machen. Sie beschwört und inszeniert nicht Lebensnähe, sondern hält daran fest, dass das Denken eine Form der Abstraktion und Konzentration ist und eine Störungsfreiheit benötigt, die eine gewisse Lebensferne, eine Distanz zum Alltag, eine methodische Reduktion geradezu als eine Voraussetzung erscheinen lässt.»
Jede Lehrerin und jeder Lehrer weiß, dass Entwicklung Zeit braucht. Ein Selbstbewusstsein zu gewinnen, um Verantwortung übernehmen zu können, bedingt die Möglichkeit, Fehler zu machen. Austesten, Wagnisse eingehen und zuweilen scheitern – wer den Umgang mit Freiheit nicht übt, wird zu keinem eigenen Denken finden, kein rechtes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten gewinnen. Wie Hartmut Rosa im Gespräch mit Wolfgang Endres (Resonanzpädagogik, 2016) formuliert: «Das bedeutet, sich auf eine Resonanzbeziehung einzulassen. Konkret heißt das, offen dafür zu sein, dass mir etwas Neues oder anderes begegnet, wovon ich berührt, ergriffen oder bewegt werde, also zuzulassen, dadurch verändert zu werden. Und das geht immer auch mit einer gewissen Verletzlichkeit einher. Schule kann und soll einen Schutzraum dafür bilden.»
Klotzen und Kleckern, Lachen und Weinen, Bestätigung und Enttäuschung – oder einfacher: Um zu erfahren, was geschieht, wenn ich etwas tue, ohne hernach gleich angeklagt oder desavouiert zu werden, dafür ist das Schulzimmer da. Dieses Verständnis der Funktion von Unterrichtsräumen ist gerade nicht weltfremd, sondern weltoffen, wie ein Blick in die von Karl Popper genannten «Grundlagen zu einer neuen Berufsethik» bestätigt: «Es ist unmöglich, alle Fehler zu vermeiden oder auch nur alle an sich vermeidbaren Fehler. Fehler werden dauernd von allen Wissenschaftlern gemacht. Die alte Idee, dass man Fehler vermeiden kann und daher verpflichtet ist, sie zu vermeiden, muss revidiert werden: Sie selbst ist fehlerhaft.»
Das Schulzimmer ist der Schutzraum der Entfaltung, und dafür gibt es keinen adäquaten Ersatz, weder zu Hause noch auf der Straße, auch nicht in der Zukunft. Denn Entfaltung (Selbsterkenntnis) bedingt die anderen, sowohl die Mitschülerinnen und Mitschüler als auch die Lehrerin, ergo ein bekanntes Umfeld mit gültigen Spielregeln. So verstanden, ist der Lehrer immer auch Gastgeber (nicht Dienstleister). Der Respekt und das Wohlwollen den Schülern gegenüber ist grundsätzlicher Natur. Hingegen zu erwarten, beides komme vonseiten der Lernenden der Lehrperson gegenüber ebenso natürlich, entspricht einem Missverständnis, sitzt dem Fehlschluss auf, es handle sich bei einer Schulklasse um eine Gruppe ausgewachsener Menschen. «Jeder pädagogische Prozess, selbst wenn er das nicht will, beinhaltet einen Moment von Paternalismus. Das heißt, dass es in der Erziehung eine Art von Bevormundung gibt, die das Gute für das Kind will, auch wenn es gegen seinen Willen durchgesetzt wird» (Rosa).
Die Differenz, die es zwischen jungen Menschen und Erwachsenen gibt, geben muss, gilt es auszuhalten. Niemand kommt zur Welt und steigt am nächsten Tag in einen Formel-1-Wagen, und kein Kind ist in der Lage, einem älteren Menschen einen Zahnersatz zu implantieren. Ob man sich alltägliche Fähigkeiten in Erinnerung ruft oder eine neurologische Studie darüber liest, wie sich das Gehirn eines Menschen in jungen Jahren entwickelt (und derweil zunehmend an Plastizität verliert), die Unterschiede sind mannigfach, und sie sind offenbar. Wäre dem nicht so, der Pädagoge wäre nie erfunden, die Ideen von Erziehung und Lehre schon immer als Hirngespinste abgetan worden. Schon im Einstieg zu seiner berühmt gewordenen Schrift Emile oder Über die Erziehung (1762) legte Jean-Jacques Rousseau dar: «Man beklagt den Kinderstand, aber man sieht nicht, dass die Menschheit zugrunde gegangen wäre, wenn der Mensch nicht als Kind begonnen hätte.» – Ohne den hier diagnostizierten Unterschied wäre eine Entwicklung weder möglich noch nötig. Im herausgehobenen Kinderstand steckt freilich eine Reihe von bedenkenswerten Implikationen, die ich hier nicht weiter kommentiere. Es reicht fürs Erste aus, daran festzuhalten, dass Entwicklung sowohl möglich als eben auch nötig ist.
Die richtige Mischung
Die ideale Klassengröße umfasst ein gutes Dutzend. Sie ermöglicht ein Gespräch im Plenum sowie alle Formen von Gruppen- oder Einzelarbeiten. Niemand taucht ab, alle haben einander im Blickfeld. Die Gruppe kann und soll nicht aus Klonen bestehen, die alle exakt auf demselben Wissensstand sind. Noch weniger aber kann eine solche Gruppe willkürlich zusammengesetzt sein. Um Intensität und Diskurs sinnstiftend zu gestalten, bedarf es einer grundlegenden Homogenität, einer gemeinsamen Schnittmenge.
Schule ist per se elitär. Es geht um Auswahl. Und das ist nun mal nicht zu vergleichen mit Ausgrenzung oder gar einer Verletzung der Menschenrechte. Lange dachte ich, Ausführungen diesbezüglich seien unnötig, weil die Fakten allzu klar offenliegen. Doch in einer Zeit, in der so etwas wie Inklusion (aller für alles) ernsthaft gefordert wird, muss eigentlich jede Lehrkraft opponieren: Denn die Menschen sind nicht alle gleich. Es gibt unterschiedliche Talente, das genetische Dispositiv aller Menschen ist zwar zu einem sehr hohen Grad dasselbe, doch es ist nicht identisch. Soll das, was wir leicht schon bei der Geburt an unterschiedlichen körperlichen Eigenheiten erkennen, für die ersten Prägungen des Gehirns nicht gelten?
Manche Unterschiede mögen sich während der ersten Lebensjahre nivellieren, andere gewiss aber auch verstärken. Es steht außer Frage: Schon im Kindergarten werden die unterschiedlichsten Menschen in Empfang genommen. Sich deswegen in Schuldzuweisungen an die Adresse der Eltern zu ergehen, sie hätten ihren Kleinen nie Mozart vorgespielt, seien mit dem Nachwuchs nie in einem Naturschutzgebiet gewesen, solche Erklärungsversuche erscheinen doch allesamt ein wenig hilflos (und dienen nicht selten dazu, Verantwortung zuzuweisen, eben Ursachen benennen zu können, wenn doch die Wirkung so offensichtlich ist). Die Idee dahinter ist verführerisch: Wäre alles ideal abgelaufen, hätte man es beim Empfang der Kleinen mit lauter Hochbegabten zu tun und müsste sich erst gar nicht mit Problemen der Heterogenität auseinandersetzen.
Eine Klasse setzt sich also aus unterschiedlichen jungen Menschen zusammen, deren unterschiedliche Leistungsniveaus aber nie so weit auseinanderdriften, dass kein gemeinsamer Nenner mehr vorhanden wäre: «Es gibt keine voraussetzungslosen Lerngruppen, weil es kein voraussetzungsloses Lernen gibt» (Türcke).
Als ich Anfang der 1990er-Jahre die Gelegenheit bekam – damals noch als Student –, Deutschzusatzunterricht für frisch in die Schweiz eingewanderte Kinder an einer Grundschule zu unterrichten, traf es sich, dass zur selben Zeit die «integrative Schulform» als Pionierprojekt an jener Schule eingeführt wurde. Auch wenn das Projekt zu jener Zeit nachweislich in den Kinderschuhen steckte, so zeigten sich doch schnell Schwierigkeiten, die auch mit den noch zu machenden Erfahrungen nie ganz zu überwinden sein würden.
Ich selbst war auf zweierlei Weise in das Projekt involviert: Zum einen als unterstützende Lehrkraft im regulären Unterricht, den ein Kollege erteilte, zum andern erhielt ich in meinem Kurs (er umfasste fünf bis acht immigrierte Kinder im Alter zwischen sieben und elf Jahren) Unterstützung von einer Kollegin. Der Nutzfaktor war oft kleiner als der Störfaktor. Der Grund dafür ist banal: Es kann nur einen geben. Ansonsten