Raimund Allebrand

Die Burnout-Lüge: Ganz normaler Wahnsinn


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von sich reden macht, kann hier mithilfe einer saftigen Gage seine Privatinsolvenz hinauszögern, indem er Ekelgefühle niederkämpft und sich unter den konstruierten Bedingungen eines exotischen Dschungelcamps endgültig lächerlich macht.

      Der Reiz des Formats besteht im schnellen Aufstieg in die Prominentenriege, wie er etwa im hautengen Kontakt mit Spinnen oder Kröten erreicht werden soll. Die Sendung wird im Durchschnitt von fünf bis acht Millionen Zuschauern verfolgt. Der Psychiater Mario Gmür erläutert dazu in der Frankfurter Allgemeinen, die Sendung künde von einer regrediert-infantilen Verfassung. Das Sadistische werde längst nicht mehr sozial geächtet: Die Zuschauer wollten bei der Geburt und der Hinrichtung von Helden dabei sein. Wer aber für ein Honorar von 50.000 Euro Maden und Mäuse verzehrt – was wird der wohl für die doppelte oder die zehnfache Summe tun?

      Auf anderen Frequenzen zelebriert man die Einladung zu einem vorgeblich privaten Dinner, dessen Tischgenossen unter dem Vorwand vermeintlicher Bekanntheit vor die Kamera gezerrt werden (Zur Erläuterung: Die Teilnehmer eines so genannten Promi-Dinners sind Prominente, weil sie am Promi-Dinner teilnehmen – Tautologie, die uns sagen will: Eigentlich sind wir alle Promis). In langen Sequenzen wird der Zuschauer Zeuge eines häuslichen Ablaufs vom Erwerb der Zutaten bis zur Zubereitung der Speisenfolge, vom Tafeldecken und Kredenzen des Menus über ein animiertes Tischgespräch (Thema ist das Dinner selbst) bis zur abschließenden Bewertung der gastronomischen Leistung durch die illustren Teilnehmer eines Gastmahls, die ihrerseits demnächst ihre lukullischen Qualitäten offenbaren sollen; womit die nächste Folge einer nicht enden wollenden Gastgeberstory bereits programmiert ist (Das perfekte Dinner seit 2006 auf VOX).

      Aber nicht allein Alltagsrituale des Lifestyles unter besser Verdienenden sind den Sendern lieb und teuer, auch die gegenteilige soziale Dimension verdient großformatige Beachtung. Ein wachsender Kreis von Deutschen kehrt seiner gewohnten Umgebung den Rücken auf der Suche nach wirtschaftlich lukrativeren Horizonten. Folglich finden sich abendfüllende Fernsehformate, die hoffnungsvolle deutsche Emigranten auf dem Weg in die neue Heimat (SAT1 ab 2007) begleiten und deren ungewohnte Alltagserfahrung detailverliebt per Kamera dokumentieren. Situationen mithin, die man von zu Hause bestens kennt, die allerdings jetzt unter veränderten Bedingungen einer fremden Auslandsumgebung neu inszeniert werden: Von der Jobfindung oder der Eröffnung des eigenen Restaurants über die Einschulung des Nachwuchses bis hin zur Suche nach einer neuen Bleibe, entsprechender Papier- und Behördenkrieg inbegriffen.

      Wer hätte gedacht, dass man es ohne entsprechende Sprachkenntnis in Kanada oder Südspanien anfänglich und womöglich auf Dauer schwerer hat als zuvor in Wanne-Eickel? Mit der Generalbotschaft Alles nicht so einfach! binden entsprechende Serien in der Endlosschleife das Publikum ganzer Fernsehabende. Falls man nicht zum konkurrierenden Nachbarsender umschaltet, der mit dem neu erfundenen Berufsbild eines Finanzcoachs (WDR ab 2007) näher bleibt an der neuen deutschen Realität.

      Die finanziell prekäre Situation wachsender Bevölkerungsgruppen, die sich durch Arbeitslosigkeit, Schicksalsschläge oder eigene Unfähigkeit in der Überschuldung finden und ein Leben auf Hartz-IV-Niveau gewärtigen, wird hier zum Anlass einer voyeuristischen Inszenierung. Gezeigt werden kleinere und größere Probleme von Zeitgenossen, deren Haushaltsbudget nicht bis zum Monatsende reicht. Dabei spekulieren die Macher derartiger Pseudo-Dokumentationen und Unterhaltungsshows (Raus aus den Schulden seit 2007 bei RTL) weniger auf die Solidarität einer Zuschauergemeinde, der es durchweg besser geht als den porträtierten Opfern der Wohlstandsgesellschaft. Man baut eher auf den sogenannten Underdog-Effekt: Angesichts brüchiger sozialer Realitäten scheint es zumindest tröstlich, wenn anderen widerfährt, was man für sich selbst nicht als wahrscheinlich erachtet, aber insgeheim doch befürchtet.

      Gott sei Dank braucht man ja nicht selber einen Trödel-King, wie er auf dem benachbarten Kanal (WDR ab 2007) ins heimische Wohnzimmer dringt. Wenn man ihn ruft, durchforstet dieser robust tätowierte Herr mit Lederweste in Begleitung eines Sendeteams die Keller und Garagen seiner Mitmenschen auf der Suche nach vermeintlichem Sperrmüll, den man bei souveräner Kenntnis entsprechender Absatzmärkte im Trödlerumfeld noch zu Geld machen kann. Anlass genug zu wöchentlichen und gleich mehrstündigen Expeditionen durch die Rumpelkammern der Nation, die bei aller Banalität reichlich Gelegenheit bieten zu persönlicher Ansprache des Zuschauers: Hand aufs Herz, horten wir nicht alle irgendwo auf dem Dachboden neben Omas Truhe auch des verstorbenen Onkels Briefmarkensammlung, die womöglich ungeahnte Werte birgt – wer weiß das schon so genau wie unser medialer Trödelberater?

      Unser kleiner Streifzug durch einschlägig bekannte Sendeformate eines Reality-Programms, wie es etwa seit dem Jahre 2005 in zahlreichen Varianten flächendeckend verbreitet ist, er ließe sich beliebig fortsetzen. Wir wollen uns freilich nicht länger langweilen, begegnen wir doch dabei wenig Neuem, sehen uns vielmehr zurückgeworfen auf den Umkreis einer sattsam bekannten und täglich erlebten durchschnittlichen Erfahrung, die unseren Horizont nicht erweitern kann. Eher schon bestätigt die mediale Inszenierung das täglich Gewohnte in seiner Durchschnittlichkeit. Weil es aber im Fernsehen kommt und ein Millionenpublikum erreicht, kann es ganz banal nicht sein: Abend für Abend wird der gewöhnliche Alltag auf dem Bildschirm zum Event.

      Freilich, ein elektronisches Medium, das einerseits unterhalten will, seinen ebenfalls erhobenen Informationsanspruch aber fortwährend disqualifiziert, indem es längst Bekanntes zelebriert, macht sich damit seine Existenzberechtigung als Informationsquelle selbst streitig. Doch liegt hier ein entscheidender Vorteil: Eine verdoppelte Realität, die sich sozusagen gleichzeitig auf dem Bildschirm und vor dem Bildschirm abspielt, bestätigt uns in unserer Durchschnittlichkeit, die jetzt paradigmatisch wird.

      Früher oder später werden sich alle Zuschauer in gleich welcher privaten Pose symbolisch auf der Mattscheibe abgebildet sehen: Beim Versuch, ein gebrauchtes Auto zu erwerben oder zu verkaufen, bei der Wohnungsanmietung, bei einer Kleiderprobe in der Boutique, in der Tiefkühlabteilung des Lebensmittel-Discounters etc. Wer da noch an sich und seiner Lebenssituation zweifeln mag, dem ist nicht zu helfen.

      In den Erfolgsserien zurückliegender Jahrzehnte konnten die Zuschauer, ähnlich dem Genre Ärzteroman, ihr eigenes Leben in einem veredelten Ambiente wiederfinden und ihre Träume medial verwirklicht sehen. Wenn Professor Brinkmann seinerzeit in einem luxuriös umgebauten Schwarzwälder Bauernhaus vor der idyllischen Kulisse des Glottertals vom Herzinfarkt bedroht ist, während sein ebenfalls als Erfolgsmediziner eingeführter Sohn nicht helfen kann, weil er soeben nach einem dämlichen Streit mit dem Vater heimlich in Begleitung einer attraktiven Blondine mit einem Porsche voller Golfschläger nach Freiburg aufgebrochen ist (Mobiltelefone gibt es noch nicht), so konnten wir hier unseren emotionalen Schaltkreis direkt aktivieren.

      Zwar sind wir im Regelfall nicht Professor der Schwarzwaldklinik (ZDF ab 1985), nennen kein entsprechendes Landhaus unser eigen und der betreffenden Blondine wären wir vermutlich zu alt oder zu jung, aber die Dramatik einer familiären Notlage, die das Vater-Sohn-Verhältnis betrifft, lässt uns nicht kalt. In einer traumhaften landschaftlichen Kulisse und erträumten sozialen Umgebung können wir unseren Gefühlen Raum geben, indem wir uns mit den dargestellten Figuren identifizieren und nebenbei symbolisch einen höheren sozialen Status erlangen: Chefarztgefühle sind attraktiver als jene eines Pförtners oder Sachbearbeiters, weil sie in der Regel von einer Chefarztvergütung alimentiert werden.

      Ähnlich steht es, wenn man seine immer schon ersehnte Traumfrau nicht zufällig an einer Trambahnhaltestelle in Ostwestfalen kennenlernt, sondern auf einem Boot nach Capri, das soeben vom Traumschiff (ZDF ab 1981) abgelegt hat. Zwar ist der erste Fall nicht minder unwahrscheinlich als der zweite, aber wenn schon geträumt wird, können wir der attraktivsten Variante den Vorzug geben und uns mit strahlendem Sonnenschein, schicken Uniformen und luxuriösen Buffets einer Kreuzfahrt identifizieren. Warum eigentlich nicht – zumal bekannte Reedereien an der Ausstrahlung solcher Serien höchstes Interesse zeigen?

      Im Gegensatz zu traditionellen Fernsehprojekten, die Traumwelten vor aufwendig konstruierter Kulisse präsentieren – sich damit dem Zuschauer als Projektionsfläche seiner Wünsche anbieten, aber klugerweise Bezüge zu dessen Realität offen lassen – dokumentiert das Reality-TV allerdings mit einfachsten Mitteln einen Alltagsvollzug, der sich selbst