Raimund Allebrand

Die Burnout-Lüge: Ganz normaler Wahnsinn


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sucht und findet, nimmt es uns jede Möglichkeit zum Träumen und wirft uns zurück auf die eigene Realität.

      Bleibt die Glotterklinik auch für immer außer Reichweite und kann man sich nach Capri jedenfalls heute Abend nicht mehr einschiffen, so bleiben uns immer noch reichliche Fantasien, die über unsere eigene kleine Existenz hinausweisen. Die mittlerweile flächendeckend verbreitete Doku-Soap jedoch will uns weismachen, dass jenseits des medial symbolisierten eigenen Bauchnabels nichts mehr vorhanden sei: Darin liegt ihr narzisstischer Beitrag.

      Wie kommt man aber von der täglich selbst erlebten Banalität zu einer erträumten Prominenz, die zur Steigerung des Selbstwertes beitragen kann? Den traditionellen Umweg über eine Identifikation mit exotischen Kulissen und teuren Accessoires kann man sich schenken, präsentiert man sich nur in richtiger Begleitung und im angesagten Medium.

      Die nach einem patentierten britischen Vorbild erstmals 2002 von RTL ausgestrahlte Castingshow Deutschland sucht den Superstar (bekannt unter dem Kürzel DSDS) verbucht die bislang größte Zuschauerreichweite dieses Formates und zeitweise ein lebhaftes Publikumsecho. DSDS kombiniert das Konzept herkömmlicher Talentwettbewerbe mit interaktiven Elementen; so wird beispielsweise das Fernsehpublikum nach Qualifikationsrunden in die Abstimmung miteinbezogen. Neben dem Gesang jugendlicher Star-Aspiranten, die sich von ihrer Teilnahme den Aufstieg ins Show-Geschäft versprechen, sind auch Kategorien wie Outfit, Auftreten und andere Präferenzen für die Bewertung ausschlaggebend. Die Finalshow der ersten deutschen Staffel am 8. März 2003 erreichte eine durchschnittliche Einschaltquote von 12,8 Millionen Zuschauern (bei Spitzenwerten von bis zu 15 Millionen), 2012 ging die Show bereits in ihre 9. Staffel.

      Besonderen Zuspruch und auch Widerspruch erfahren die jeder Staffel vorgeschalteten Casting-Termine, in deren Verlauf sich der Chef-Juror Dieter Bohlen derart abfällig über die künstlerische Leistung einzelner Kandidaten ereifert, dass einige der jungen Leute nervliche Zusammenbrüche erleiden. Ein kontroverses Medienecho im deutschen Blätterwald lässt nicht auf sich warten. Norbert Schneider, Direktor der NRW-Landesanstalt für Medien, übt im Februar 2007 harsche Kritik an einem demütigenden Umgangston, der sich einer Gossensprache bediene: Die Casting-Show rücke damit in die Nähe einer Verletzung der Menschenwürde. Demgegenüber lässt der Sender RTL verlauten, die jugendlichen Teilnehmer seien allenfalls Opfer ihres eigenen Ehrgeizes.

      Dass hier ausgerechnet Dieter Bohlen in die Schusslinie gerät, gemeinsam mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin Verona Pooth Spezialist in Sachen einer lediglich für ihre Berühmtheit bekannten Prominenz, ist kein Zufall. Seine verbalen Entgleisungen im Rahmen von DSDS lassen ahnen, was junge Menschen in der vagen Hoffnung auf eine künftige Starkarriere zu investieren bereit sind, um aus der Anonymität ihrer Existenz auszubrechen. Beobachter der Medienszene sprechen vom sogenannten Aschenputtelprinzip. Neben dem Bedürfnis nach Anerkennung, Ruhm und Geld sind die Teilnehmer nicht zuletzt auf der Suche nach einer sozial akkreditierten Identität, die sich am erfolgreichsten durch mediale Beachtung und Bestätigung erreichen lässt.

      Angesichts einer komplizierten gesellschaftlichen Realität, die mangelnde Ausbildungsplätze mit hohen Kosten, langen Laufzeiten und der Perspektive auf eine ungewisse berufliche Zukunft offeriert, spekuliert man gerne darauf, durch die Entdeckung eines vermeintlichen künstlerischen Potenzials über Nacht berühmt zu werden. Schließlich gibt es Vorbilder in Gestalt vereinzelter Erfolgsstorys, die diesen Weg symbolisieren können: neben Dieter Bohlen selbst etwa der junge Mark Medlock, der über DSDS vom verschuldeten Jungarbeitslosen zum singenden Medienstar wurde, sie schüren unrealistische Hoffnungen, die mit aller Energie verfolgt werden.

      Der Ich-Bezug von Adoleszenten und ihre irrtümliche Selbsteinschätzung, sich als unentdeckten Star zu wähnen, werden von der medialen Inszenierung zementiert. Im programmierten Fall einer Ablehnung bereits im Vorcasting, das in öffentliche Demütigung ausufern kann, bricht das Kartenhaus einer auf jugendlichen Narzissmus gebauten Staridentität abrupt zusammen.

      Umfragen zufolge sieht jedoch ein nicht geringer Teil des adoleszenten Publikums in Dieter Bohlen, ungeachtet der Fragwürdigkeit seiner Rolle, eine ideale Vaterfigur, wie man sie für das eigene Leben wünscht. Die in seiner Person auftretende widersprüchliche Mischung aus kumpelhafter Distanzlosigkeit und harter Ablehnung wird offenbar von Jugendlichen auf ihrer nicht selten vergeblichen Suche nach herausfordernden Vorbildern als attraktiv empfunden.

      Dennoch: Ein alter Herr steht auf der Bühne und regt sich auf über das Fernsehen. Mit dieser Art von Programm will er nichts gemein haben! Als Marcel Reich-Ranicki die Annahme des Deutschen Fernsehpreises 2008 verweigert und es weit von sich weist, in einer Reihe mit Sendungen wie dem bei dieser Gelegenheit ebenfalls ausgezeichneten DSDS zu firmieren, entfacht er einen Sturm im Wasserglas.

      Weithin wohlwollend beachtet ist bei dieser Gelegenheit die selbstdarstellerisch glänzende Medienschelte des Literaturpapstes, aber ebenso ergebnislos sein als Sondersendung platzierter Schlagabtausch mit dem Entertainer Thomas Gottschalk. Mit ihrer erstaunlich naiven Argumentation über Niveau und Geschmack der Zuschauer beweisen beide Fernsehstars lediglich, dass sie in ein und demselben Boot des Massenevents ihren Platz längst gefunden haben und zu verteidigen wissen. Kollektive Hintergründe einer programmierten Langeweile kommen in ihrem Show-Dialog über die Qualität des deutschen Fernsehens nicht zur Sprache.

      Die postmoderne Medienlandschaft soll uns dennoch auf den folgenden Seiten noch eine Weile beschäftigen. Eine seltsame Lust an der Demontage, die zuweilen masochistische Züge trägt, wird hier zum herausragenden Merkmal der elektronischen Medienkultur.

      Einerseits werden im Reality-TV Alltagsvollzüge zum Event erhoben und durchschnittliche Leistungen als Erfolge gefeiert; so wird man etwa mit etwas Glück durch die Beantwortung von mehr als simplen Quizfragen zum Millionär. Der Zuschauer – wer wollte sich da ausnehmen? – quittiert dies mit dem bedauernden Gefühl, seine Teilnahme am Ratespiel versäumt zu haben: Diese Herausforderung hätte er ebenfalls mit Bravour gemeistert. Andererseits befleißigen sich manche Sender in einschlägigen Show-Formaten eines Umgangsstils und kommunikativen Niveaus, wie es im realen Leben bestenfalls als peinliche Entgleisung in alkoholisierter Umgebung vorkommen kann.

      Unter dem Vorwand einer sogenannten Quiz-Comedy (Genial daneben seit 2003) präsentieren ganze Rateteams serienweise das pubertäre Verhalten einer pseudo-humoristischen Selbstbespiegelung und gegenseitigen Anfrotzelei unterhalb der Gürtellinie. Erfolgreiche Selbstdarsteller mit dem zum Markenzeichen avancierten Nonsens-Profil einer Hella von Sinnen oder eines Dirk Bach wissen Witzelsucht mit Blödelei erfolgreich zu kombinieren und setzen Maßstäbe eines respektlosen Umgangs – den es als normal zu akzeptieren gilt, weil er vor Millionenpublikum zelebriert werden darf.

      Vermeintliche Prominenz, die auf inszenierter Berühmtheit beruht, wird hier zur Legitimation für alles und jedes. Weil man der eigenen Medienpräsenz ohne Seriosität gegenübersteht, darf man auch sein Gegenüber unter diesem Aspekt behandeln. Folglich zieht man das Publikum in einen Strudel unterdurchschnittlichen Klamauk-Verhaltens, das vor denkbaren Niederungen der Primitivität nicht halt macht und gleichwohl honoriert wird. Alles ist blöd!, lautet die Generalbotschaft – mein eigenes Niveau fällt da kaum noch auf!

      Eine besondere Rolle in dieser illustren Umgebung spielt der zur Kultfigur stilisierte Entertainer Harald Schmidt. Vom Schauspiel und politischen Kabarett kommend, macht er sich durch jahrelange abendliche Präsenz als Comedian unentbehrlich (vor allem in seiner Late-Night-Show). Während die Sender wechselseitig um seine Gunst buhlen, perfektioniert Harald Schmidt das – zuvor im Angelsächsischen beheimatete und ihm nachträglich auf den Leib geschneiderte – mediale Profil eines standortlosen Zynikers, der sich bald geistreich, bald kalauernd, aber immer verbal souverän zu jedem Thema äußern darf, solange er die Grenze des strafrechtlich Relevanten nicht überschreitet.

      Eine schrankenlose Selbstironie dient als Legitimation, alles nur Erdenkliche durch den Kakao zu ziehen. Trotz einer Hundertschaft an Ghost-Writern und Gag-Findern im Hintergrund, die den Sendeverlauf komödiantisch alimentieren, hinterlässt die stereotype Machart