evident, die ich vorwegnehmen möchte: Forscher fanden heraus, dass sich gewisse Formen von Autoimmunkrankheiten als sogenannte Autoaggressionskrankheiten interpretieren lassen. Sie entstehen, wenn Zorn oder Wut nicht ausgedrückt werden. Stattdessen sorgen sie dafür, dass sich unsere Physiologie und unsere Biochemie gegen uns selbst richten. Wie eine Strafe, die wir uns selbst auferlegen.22
Die Beichte, wem gegenüber wir sie nun auch ablegen, ist also ein Geständnis, das nur gute Folgen hat. Ein Lächeln, eine Linderung. Belastungen fallen ab, Bürden verschwinden. Trost stellt sich ein. Wir sind erlöst und nun erst recht bereit, gute Menschen zu sein.
Ebenso wie wir dafür aus einem Kreis unterschiedlichen Vertrauenspersonen wählen können, wählen viele Menschen dafür auch besondere Orte aus. Die Kirche, das Sofa eines Psychotherapeuten, die Natur. Besonders beliebt ist der Berg Athos. Er bildet eine orthodoxe Mönchsrepublik mit autonomem Status unter griechischer Souveränität in Griechenland. Mein Arztkollege Prof. Rudolf Likar und ich besuchen ein Kloster, das hoch in den Bergen liegt und in der Dämmerung wie ein Geheimversteck aus einem alten James-Bond-Film wirkt, einmal im Jahr. Der russische Präsident Wladimir Putin selbst ließ es einst revitalisieren und besucht es auch. Die Räume glänzen in Gold und es sind kontemplative Tage, die man dort verbringt, mit Beichte, Fasten, Meditation und Gebet. Erwünscht sind nur Männer, Frauen dürfen den Berg Athos leider nicht betreten. Besucher aus allen sozialen Schichten finden sich dort ein, orthodoxe Büßer ebenso wie Verbrecher aus Russland.
Bei der Beichte sitzt ein Priester vorne im Saal. Alle singen. Jeweils ein Mann steht auf, geht nach vorn und flüstert ihm etwas ins Ohr. Der Priester legt ihm seine eigene Stola um, spricht ihn frei und zieht die Stola wieder weg. Dabei wird vielleicht eine besondere Energie frei, die alle im Saal zu spüren vermeinen.
Beichten als regelmäßige Übung könnte uns sogar vor Krankheit schützen und macht uns als Menschen besser. Probieren Sie’s aus.
Charakterfitness-Trainingsstufe drei:
Pflege den Kompromiss
In unserer von Egomanie geprägten Gesellschaft hat sich der Kompromiss den Ruf als etwas erworben, bei dem beide verlieren. In Wirklichkeit ist er viel mehr als eine Vereinbarung mit wechselseitigen Vor- und natürlich auch Nachteilen. Er ist ein Grundprinzip der Evolution und als Muster tief in unserem Genom eingeschrieben. Denn wir sind nichts anderes als der Kompromiss zwischen den Genen unserer Eltern. Wenn wir uns im Kompromiss üben, üben wir uns in nichts Geringerem als dem Einhalten der Verfassung der Natur.
Lange war ich Mitglied der Bioethikkommission, die der vormalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel eingerichtet hatte. Sechs Jahre davon leitete ich sie auch. Die Essenz aus der schönen Tätigkeit steckt im Wort Kompromiss. Sich einigen auf etwas Gemeinsames, statt stur auf dem Eigenen zu beharren.
Singuläre Kurzsichtigkeit führt immer über eine Einbahnstraße an eine Wand. Sackgasse. Ende. Hier geht es nicht weiter.
Gute Menschen zeichnet das Zugehen auf Menschen mit anderer Gesinnung aus. Annäherung ist ein Zeichen des Verständnisses. Kompromissbereitschaft ist der rote Teppich des Respekts.
Kooperation ist die einzige Verhaltensweise, die immer zum Erfolg führt. Zusammenarbeit auf allen Ebenen macht Individuen, Gruppen, ganze Staaten und Kontinente fitter und erfolgreicher. Wer auf andere zugeht, Wünsche und Vorstellungen respektiert und den Mittelweg der Vernunft sucht, kommt ans Ziel. Vielleicht nicht immer schnell, aber dafür sicher.
Die Evolution ist seit Millionen Jahren voller Kompromisse. Es geht also, wenn wir wollen. Jeder einzelne Mensch ist ein Kompromiss, und zwar der zwischen den Genen seines Vaters und den Genen seiner Mutter.
Die biologische männliche Rolle ist es dabei, das Kind möglichst groß, stark und robust zu machen. Die väterlichen Gene haben den Ehrgeiz, das Baby wachsen zu lassen und nehmen auf die Mutter, die es auszutragen hat, wenig Rücksicht. Bei der biologischen weiblichen Rolle kommt hinzu, dass die Mutter überleben will und muss, damit auch das Kind überleben kann. Das Kind darf also nicht zu groß, zu stark und zu robust für ihren Körper werden. Die mütterlichen Gene versuchen also, den schwangeren Körper der Frau zu schützen.
Die Überlebens-Gene des Vaters und die Schutz-Gene der Mutter bilden also einen Kompromiss zwischen »Das Kind soll groß und stark werden« und »Ja schon, aber überleben möchte ich bitte auch.«
Diesen Mega-Kompromiss gibt es seit 300 Millionen Jahren. Seit damals schlüpfen die Nachkommen einer Art nicht mehr ausschließlich aus Eiern, sondern bei einigen Arten werden sie im Körper groß. Dieser Kompromiss ist in uns verankert, in jeder Zelle, in unserer kompletten DNA. Wir sind sozusagen ein genetischer Überlebenspakt zwischen dem männlichen und dem weiblichen Prinzip in der Evolution der Säugetiere.
Die Evolution entschloss sich auch beim Vorgang der Geburt zu einem Kompromiss. Auf der einen Seite wünscht sie sich möglichst viele Exemplare einer Spezies. Eine Frau soll also möglichst viele Kinder gebären. Dem gegenüber steht der nahezu unerträgliche Schmerz, den Frauen während der Wehen und der Geburt erleben. Einmal und dann nie wieder wäre ihre folgerichtige Entscheidung danach.
Der Kompromiss, den die Evolution hier schloss, ist fast ein wenig unfair. Okay, sagte sie, ich kann dir den Schmerz nicht nehmen, aber ich kann immerhin dafür sorgen, dass du ihn vergisst. Sie schuf ein eigenes Hormon, das die Erinnerungen an die Wehen und an die Schmerzen der Geburt einfach ausradiert.
Obwohl die Fortpflanzung für die Evolution den höchsten Stellenwert hat, geht sie selbst hier Kompromisse ein, bei denen sie notfalls auf Nachwuchs verzichtet. Das tut sie dann, wenn es um altes gegen neues Leben geht. Wenn sie den Eindruck gewinnt, dass die Frau zu wenige Ressourcen hat, um eine Geburt zu überstehen, zum Beispiel zu wenig Energie oder zu wenig Gewicht, stellt sie die Fortpflanzung im Körper der betreffenden Frau bis auf Weiteres ruhig. Die Frau hat keine Regel und keinen Eisprung mehr.
Unser Körper ist voller Kompromisse, ohne die das System Mensch nicht funktionieren würde. Doch der Kompromiss ist nicht nur das grundlegende biologische Erfolgskonzept. Auch innerhalb der menschlichen Gemeinschaft gewinnen auf Dauer immer nur die, die von ihrer Sturheit ablassen, einlenken und mit anderen einen gemeinsamen Weg finden.
Frieden ist immer ein einziger Kompromiss
Der erste Friedensvertrag der Geschichte ist im Gebäude der Vereinten Nationen in New York ausgestellt. Unterschrieben haben ihn am 10. November des Jahres 1259 v. Chr. Pharao Ramses II. und der hethitische Großkönig Hattušili III.23 Beide Herrscher erkannten einander mit dem Vertrag als gleichrangige Partner an. Als solche versprachen sie sich wechselseitig militärischen Beistand gegen innere und äußere Bedrohungen. Somit waren sie gemeinsam stärker. Dass dieser Vertrag an einem so exponierten Ort zu bewundern ist, hat gute Gründe. Kompromisse und die menschliche Fähigkeit dazu schaffen Zuversicht, und Zuversicht gibt Kraft, die Zukunft zu bewältigen.
Ein besonders interessanter Friede war der Westfälische. Er umfasste zu viele und so weitreichende Kompromisse, dass ihm Juristen bis heute hohe historische Bedeutung beimessen. Wobei dieser Friede auch ein erzwungener war. Denn alle Kriegsparteien waren am Boden und konnten einfach nicht mehr. Kompromisse zu schließen war die einzige Möglichkeit, wie es irgendwie weitergehen konnte. Wobei sich angesichts der derzeitigen Entwicklung der Welt der Gedanke aufdrängt: Fangen wir doch besser gleich jetzt zu reden an als später, wenn schon alles kaputt ist.
Erfolgsmodell Kooperation
Die Grundlage für das Schließen von Kompromissen ist die Bereitschaft zur Kooperation. Wer kooperieren will, muss meist Kompromisse schließen, und wer Kompromisse schließt, will meist kooperieren. Interessante Hinweise auf die Erforschung der Kompromissbereitschaft gibt das sogenannte Gefangenendilemma.
Das Gefangenendilemma ist ein mathematisches Spiel aus der Spieltheorie. Es modelliert die Situation zweier Gefangener, die beschuldigt werden, gemeinsam ein Verbrechen begangen zu haben. Ein Staatsanwalt verhört die beiden Gefangenen einzeln. Sie können also nicht miteinander kommunizieren.