Lothar Kuschnik

Therapie in Aktion


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Du musst immer mit einer Entgegnung rechnen, die witzig aber auch verletzend sein kann. Ich habe es aufgesaugt.“

      Joops Augen glänzen, als er uns die alten Geschichten erzählt. Der Mann, der die „Geleitete Phantasie“ bekannt gemacht hat, taucht jetzt in seine inneren Bilder ein. Er ist wieder der kleine Junge und erzählt die folgende Geschichte von Onkel Huub mit einem kernigen Lachen:

      „Onkel Huub hatte den Spitznamen ,Menschenretter‘. Er wohnte an einem der vielen Kanäle (Grachten), die Amsterdam durchziehen wie Adern den Körper des Menschen. Viele der Grachten haben zum Bürgersteig keine Absperrung, und deshalb fallen häufiger Betrunkene oder Kinder hinein. Dann riefen die Leute nach Huub. Und der kam angerannt in seinen Turnschuhen, die er ,für alle Fälle‘ immer trug. Ohne zu zögern sprang Huub dann in das schmutzige Wasser der Gracht und tauchte bald mit dem Ertrinkenden wieder auf. Dann zogen ihn die anderen mit einem langen Haken an Land.“ Jetzt kommt Joop glucksend richtig in Fahrt: „Einmal rettete Huub ein Kind. Er kam aus dem Wasser und tastete mit fragendem Gesicht alle seine Taschen ab. Nichts. Er rief: ,Meine Uhr, wo ist meine Uhr‘. Und die Eltern des Kindes konnten nichts anderes tun, als ihm eine neue Uhr zu kaufen.“

      Wir schauen Joop irritiert an. Wo ist der Witz? „Das alte Schlitzohr hatte in seinem ganzen Leben keine Uhr“, lacht Joop.

2. Kinderbilder einer versunkenen Zeit

      Bis zu seinem zwölften Lebensjahr lebt Joop mit seiner Familie ganz in der Nähe des Jordaans. Joop spielt in seinem Viertel gern mit seinen Freunden auf der Straße. Man spielt Räuber und Gendarm oder Fußball mit einem Tennisball. Für einen richtigen Fußball fehlt das Geld. In der „Knickerzeit“ wird mit Murmeln gespielt. Ein besonderes Vergnügen ist es, am Samstag sechs Wochen nach Ostern den „Faulpelz zu wecken“. „Luilak“ heißt der Tag. Ab morgens um 5 Uhr ziehen Jungs durch die Straßen des Jordaans und pochen mit ihren Stöcken an die Türen. Dabei singen sie: „Faulpelz, bist ein Bettsack, stehst erst um 9 oder 10 auf. Hat jemand den Faulpelz gesehen?“ Natürlich ist der Spaß groß, wenn jemand Tür oder Fenster öffnet und die Jungs mit einem Eimer Wasser vertreiben will. Anschließend gibt es um 7 die „Faulpelz-Brötchen“ beim Bäcker.

      „Ich hatte eine gute Kindheit“, beschreibt Joop diese Zeit. „Die Umstände waren schwer, aber trotzdem stellten meine Eltern unsere Armut niemals besonders heraus.“ Als die Familie ein WC mit fließendem Wasser bekommt, ist das ein großes Ereignis. Die Gasbeleuchtung der Wohnung war damals selbstverständlich. Als der kleine Joop losgeschickt wird, um einen neuen Glühstrumpf für die Lampe zu kaufen, können ihm die Eltern kein Geld mitgeben, und so bittet er darum, dass „angeschrieben“ wird. Das ist eine auch in Deutschland zu der damaligen Zeit in Arbeiterkreisen verbreitete Methode, das knappe Familieneinkommen etwas zu strecken.

      Nach kurzer Zeit werden elektrische Kabel durch die Gasrohre verlegt, und die Familie hat elektrisches Licht. Wenn man ein „Kwartje“ (niederländische 25 Cent-Münze) einwarf, schien das Licht. Immer musste ein Kwartje auf dem Zähler liegen. Die Wohnung der Krops hat ein sonniges Wohnzimmer, ein Schlafzimmer für die Eltern und einen Alkoven ohne Fenster, in dem Joop schläft. Lebendig ist die Erinnerung in Joop, wie er seinem Vater beim Schreinern zuschaut, denn auch die kleine Werkstatt findet in einer Mansarde über der Wohnung noch Platz. Joop fühlt sich sicher und geborgen in seiner kleinen Welt. Nur wenn er Kohlen von der Mansarde holen muss, pfeift er vor Angst, sammelt die Kohlen und rennt wieder runter.

      Jede Woche wird die Miete von einem Mann kassiert, der klingelt und ruft: „Die Miete, Frau Krop.“

      Die Mutter von Joop geht weiterhin putzen, und weil der Vater häufig arbeitslos ist, schreinert er zu Hause oder kümmert sich um den kleinen Joop. Zusammen gehen sie zur öffentlichen Bücherei, wo der Vater populärwissenschaftliche Sciencefiction-Bücher ausleiht. Joop schaut sich begeistert die Bilder der „Reisen durch das Universum“ an. Der Vater erfindet bei diesen Gängen zur Bücherei viele Spiele für Joop.

      „Siehst du die Spielkarte dort auf dem Bürgersteig? Berühr sie nicht mit deinen Fingern. Dreh sie vorsichtig mit einem Streichholz um. Das ist eine Botschaft. Was ist es?“ „Sieben Spaten.“ (Pik Sieben) „Gut. Das heißt, wir werden sieben Dinge finden. Pass gut auf.“ Wenn sie „Dinge“ finden, beginnt die Diskussion, ob eine leere Zigarettenschachtel ein „Ding“ ist. Unweigerlich geht Joop irgendwann an einem Cent vorbei. „Hey, pass auf, was da liegt.“

      „Ich brauchte sehr lange, um zu begreifen, dass mein Vater immer wieder einen Cent deponiert hatte, damit ich ihn fand. Er war wunderbar kreativ.“ Diese Art, mit wacher Aufmerksamkeit durchs Leben zu gehen, hat sich Joop bis heute bewahrt. Sie ist auch bezeichnend für sein Verständnis von Therapie.

3. „Die Essenz des Lebens ist die Suche“,

      wird er später formulieren. Vielleicht wurden Spuren zu dieser Haltung in eine Kinderseele auf den Straßen von Amsterdam durch einen liebevollen Vater gelegt.

      Der kleine Joop verdient sein „erstes Geld“, als er bei einem seiner Spaziergänge mit dem Vater von einem Mechaniker gebeten wird, mit seiner kleinen Hand eine Schraube aus einem Gastank zu holen. Er findet Schraube und Mutter und ist so stolz, als er zwei „Kwartjes“ als Lohn bekommt. Umso mehr schmerzt es, als er einige Zeit später eben diesen Lohn abgeben muss, weil er beim Fußballspielen eine Scheibe zerschossen hat. „Dabei hat sich der Mann noch nicht einmal eine neue Scheibe gekauft“, empört sich Joop noch nach 80 Jahren mit blitzenden Augen über diese Ungerechtigkeit. Auch solche Erlebnisse hinterlassen Spuren in unserer Seele.

      Manchmal, wenn der Vater genug Geld hat, kaufen die zwei auf dem Markt in Scheiben geschnittene Stücke Rinderherz. „Ein paar Stücke mit Salz und scharfem Senf direkt von einem Pappteller gegessen, treiben dir das Wasser in die Augen,“ erinnert sich Joop.

      Joop wächst im Kreis seiner Verwandten auf. Die Tanten kümmern sich um ihn, denn seine Mutter ist das jüngste von neun Kindern der Familie, sein Vater das 7. von ebenfalls neun Kindern. Oma Krop wohnt auf der anderen Straßenseite. Opa Krop, nach dem Joop benannt ist, ist bereits verstorben, als Vater Rinus neun Jahre alt war.

      Joop erinnert sich heute noch mit einem Gefühl der Dankbarkeit an seine Kindheit. Obwohl die Familie zeitweise von der „Fürsorge“ leben muss, empfindet Joop durch die Armut keine Belastung. „Nur einmal, als ich schwarze Strümpfe mit roten Zehen anziehen musste, die wir vom Sozialamt bekommen hatten, dachte ich, jeder müsste mir ansehen, dass sie vom Sozialamt wären. Die meisten meiner Erinnerungen sind von einem sicheren Gefühl geprägt, die Unterstützung der engeren und weiteren Familie war tragend für mich.“

      „Zu Nikolaus“, erinnert sich Joop, „gab es einmal eine besondere „Überraschung“: „Ich bin zu Besuch bei Oma Krop, Tante Nel und Tante Riek. Mitten in der Feier plötzlich ein heftiges Klopfen an der Tür. Tante Nel öffnet und ruft in gespieltem Entsetzen: ,Oh, schau dir das an‘. Sie trägt eine lebensgroße Puppe herein. Einen Mann mit einer schrecklichen Maske. Ich bin total erschrocken und schreie mir die Seele aus dem Leib. Jetzt bin ich der Mittelpunkt: ,Gib ihm ein Glas Wasser. Bring das Ding in die Küche. Jopie, es ist doch nur eine Puppe. Nichts vor dem du Angst zu haben brauchst.‘ Alle haben ihre Ratschläge und Lösungen. Meine Mutter bringt mich ins Schlafzimmer. Als ich ruhiger geworden bin, kann ich zusehen, wie die Puppe auseinander genommen wird. Sie enthält Geschenkpakete. Jeder Empfänger muss das Gedicht vorlesen, das er mit seinem Päckchen bekommt. Das Gedicht beschreibt in humorvoller Form die Eigenarten des Beschenkten.“

      Joop ist fünfeinhalb Jahre alt, als er für einige Tage zu Oma Krop gebracht wird. Auf dem Rückweg zu den Eltern erzählt ihm die Oma, dass er eine Schwester bekommen habe. Joops erste Frage ist: „Wo kommt die her?“ Jetzt muss seine Tante Riek helfen. Sie erzählt ihm die Geschichte vom Storch. „Aber warum muss meine Mutter dann im Bett bleiben?“ - „Der Storch hat sie gebissen, deshalb muss sie ein paar Tage im Bett bleiben.“ - „Wo hat er sie gebissen?“ - „Ins Bein.“