gewesen und fand 2000 mit dem damals erschienen Buch „Leib-Raum-Person” von Thomas Fuchs einen uns überzeugenden philosophischen Boden. Hier und im Gefolge dessen in zahlreichen anderen Werken der Leibphänomenologie, die wir teilweise über die Auseinandersetzung mit dem Leibbegriff Hilarion Petzolds kannten, aber jetzt noch einmal in dem neuen Kontext studieren konnten, fanden meine Frau und ich Ansätze und Begrifflichkeiten, um unsere praktischen Erfahrungen in Worte zu fassen. Diese leidenschaftliche Auseinandersetzung war ein Ringen um Worte, die den inneren Zusammenhang dessen, was wir praktisch-therapeutisch taten, ausdrückten. Wir merkten, dass mit jeder „gelingenden” Begrifflichkeit auch unsere Praxis besser wurde und wir uns Klient/innen wie auch Teilnehmer/innen unserer Fortbildungen verständlicher machen konnten. Parallel beschäftigte ich mich mit der modernen Neurobiologie, der Säuglingsforschung und der sonstigen Entwicklungspsychologie und arbeitete die Erkenntnisse heraus, die für die therapeutische Praxis und Theoriebildung relevant und nützlich waren und sind. Gleichzeitig setzten meine Frau und ich unsere eigenen Untersuchungen zu den Erlebensprozessen künstlerischer Aktivitäten fort, um das Potenzial zu benennen und therapeutisch zu nutzen, das künstlerischen Prozessen innewohnt. All dies fand seinen Niederschlag in den nach 2001 erschienenen Lehr- und Studienbüchern, wobei sich unser Ansatz der „Kreativen Leibtherapie” immer mehr herausschälte.
Im Jahr 2011 entstanden der Wunsch und die Aufforderung, die Modelle und theoretischen Grundlagen der Kreativen Leibtherapie zusammenzufassen und als Lehrbuch zu veröffentlichen, das nun, 2012, erscheint.
Zu Inhalt, Struktur und Gestaltung dieses Lehrbuches ist einiges voranzuschicken:
Da es sich um ein Lehrbuch handelt, das vor allem die theoretischen Grundlagen und Essenzen Kreativer Leibtherapie zur Verfügung stellen soll, sind viele Inhalte knapp dargestellt. Es gibt weniger Praxisbeispiele und methodische Darstellungen als in den bisherigen Veröffentlichungen. Diesbezüglich möchte ich auf unsere anderen Publikationen verweisen.
Ich beginne im Aufbau des Buches mit dem Herzstück, meinem Leibverständnis und dessen Konsequenzen für die Therapie. Üblicherweise entwickeln sich Lehrbücher über Darlegungen zur Wissenschaftstheorie von der Vorgeschichte zu den therapeutischen Quellen allmählich hin zu den Kerninhalten. Wer diesen Weg der Annäherung vorzieht, möge bitte die Lektüre mit Kapitel 7 und 8 beginnen. Ich schlage vor, sich gleich in das Zentrum des Denkens und Geschehens zu begeben, und habe deswegen die Gliederung gewählt, mit dem Kapitel über „Leiblichkeit – Menschenbild und Therapie” zu beginnen, das die weitreichendste Relevanz für die Entwicklung der Kreativen Leibtherapie hat. Beide Wege sind möglich.
Therapie dient der Veränderung von Mustern, unter denen Menschen leiden. Im Kapitel 3 finden Sie unser Verständnis von Musterbildung und Musterveränderung und dabei auch unsere leiborientierten Entwicklungsmodelle, die der Theorie und Praxis Kreativer Leibtherapie zugrunde liegen.
Üblicherweise gibt es in therapeutischen Lehrbüchern getrennte Kapitel über die theoretischen Modelle des Menschen, dann über die Diagnostik, dann über die Therapie. Eine Besonderheit Kreativer Leibtherapie besteht darin, dass in unseren therapeutischen Modellen diese verschiedenen Aspekte miteinander verknüpft sind: Sie sind gleichzeitig Landkarten für Erlebensprozesse, diagnostische Zugänge und therapeutische Pfade. Ich habe deswegen das Bild eines Hauses gewählt, das aus zehn Räumen besteht. In jedem dieser Räume ist ein zentrales Modell der Kreativen Leibtherapie enthalten, und Sie können sich den Räumen dieses Hauses über verschiedene Türen und damit Zugängen nähern, über den theoretischen, den diagnostischen und den therapeutischen. Deswegen folgt auf die Beschäftigung mit der Leiblichkeit und damit den Verbindungen von Menschenbild und Therapie das Kapitel der „Komplexen Theorie-Module: The Big Ten”, das die zehn wesentlichen Modelle der Kreativen Leibtherapie darstellt und dabei gleichzeitig deren theoretischen Hintergrund, den diagnostischen Nutzen und die Bedeutung in der Therapie erläutert.
In Kapitel 5 gehe ich auf einige häufige Pathologien von der Depression bis zu den Traumafolgen ein und beschreibe ein leibphänomenologisches Verständnis und daraus abgeleitete spezifische Wege therapeutischer Begleitung. Diese beziehen jeweils mehrere der Big-Ten-Modelle ein.
Ich werde mich dann in Kapitel 6 mit Wegen der therapeutischen Veränderung und Elementen des therapeutischen Prozesses beschäftigen, um dabei spezifische, kreative leibtherapeutische Erfahrungen, Vorstellungen und Konzepte darzustellen. Dies ist notwendigerweise unvollständig, weil es sonst den Rahmen dieses Buches sprengen würde. Ich habe diejenigen Themen ausgewählt, die wesentlich und charakteristisch für die Kreative Leibtherapie sind.
Zum Schluss, nach dem Kapitel über Quellen Kreativer Leibtherapie, werde ich in Kapitel 8 zusammenfassend darstellen, dass und warum Kreative Leibtherapie ein Verfahren tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie ist. Im Ausblick (Kapitel 9) werde ich mich mit den uns zentralen Themen „Würde und Würdigung” auseinandersetzen.
Was fehlt in diesem Buch zugunsten einer Konzentration auf das theoretisch Wesentliche? Es fehlen Darlegungen der leiborientierten Tanztherapie, Musiktherapie und Kunsttherapie, also der Kreativen Leibtherapie mit unterschiedlichen medialen Schwerpunkten. Dazu sind jeweils leiborientierte Fachbücher erschienen: „Klingen, um in sich zu wohnen” (Musiktherapie), „Gefühlssterne, Angstfresser, Verwandlungsbilder” (Kunsttherapie), „Leibbewegungen, Herzkreise und der Tanz der Würde” (Tanztherapie). Fachbücher zur Poesie- und Theatertherapie sowie zur leiborientierten kreativen Supervision werden folgen. Es fehlt ferner eine zusammenfassende Darstellung der Psychopathologie. Veröffentlichungen über spezifische Pathologien und spezifische Therapien für Themen- und Klient/innengruppen sind zum Teil vorhanden (Demenz: „Innenwelten der Demenz”, Kriegstraumata: „Wo geht’s denn hier nach Königsberg?”, Kinder suchtkranker Eltern: „Hören, was niemand sieht”, ADS/ADHS: „Jetzt reden wir” , Essstörungen: „Das große Verschwinden und die Ge-Wichtigkeit”, Traumatherapie: „Aufrichten in Würde” und transgenerative Traumaweitergabe: „Wie Traumata in die nächste Generation wirken” − die Autor/innen entnehmen Sie bitte der Literaturliste). Weitere werden folgen. Mehrere Forschungsprojekte und Studien sind gegenwärtig in Arbeit.
Ebenfalls fehlt noch eine zusammenfassende Darstellung der leiborientierten kreativen Therapie mit Kindern und Jugendlichen in Theorie und Praxis. Sie ist uns ein besonderes Anliegen und deshalb in Vorbereitung.
Weder vorstellen noch erarbeiten werde ich ein besonderes Indikationssystem für Kreative Leibtherapie oder für besondere Teilverfahren (z. B. als Manuale) für bestimmten Patient/innen-Gruppen. Der phänomenologische Weg besteht immer darin, die Besonderheiten konkreter Probleme zu studieren, ihren Spuren im Erleben der Menschen zu folgen und adäquate Modelle und Methoden zu entwickeln. Diese müssen immer auf die einzelnen Klient/innen angewandt werden. Welche Methode bei welchen Menschen eingesetzt werden sollte, hängt immer von einer Vielzahl von Faktoren ab, wie z. B. der konkreten Lebenssituation und Erlebensbefindlichkeit einer Klientin oder eines Klienten oder – sehr wichtig – der Qualität der therapeutischen Beziehung. Deswegen können wir durchaus Hinweise geben, für welche Menschen welche Teilbereiche Kreativer Leibtherapie in besonderer Weise geeignet zu sein scheinen, werden aber keine festen Zuordnungen im Sinne von Indikationen vorgeben. Stattdessen folgen wir einem Konzept der prozessualen Diagnostik, für das ich in diesem Buch eine Vielzahl diagnostischer Zugänge zur Verfügung stelle. Schon jede Beschreibung einer Qualität der Leiblichkeit (s. Kap. 2.2) gibt Hinweise auf deren Einschränkungen, Fehlen, Störungen und sonstige Beeinträchtigungen bei Klient/innen. Diagnostik heißt im Kern „Einsicht”. Diagnostische Zugänge im Sinne der Kreativen Leibtherapie verhelfen zu Einsichten, lineare Indikationssysteme wie „dieses Symptom = diese Störung mit dieser Ursache” verengen und versperren