zu spüren und zu steuern. Aufmerksamkeit ist das kostbarste Gut des Menschen. So hat es der Philosoph Wilhelm Schmid formuliert (Schmid 2007). Aber sie stellt keine Eigenschaft oder besondere Fähigkeit dar. Sie ist ständig vorhanden, ob man will oder nicht. Aufmerksamkeit ist die Grundeinheit der Lenkung der mentalen und aktionsbezogenen Kräfte des Menschen (Mohr 2006). Dort, wo die Aufmerksamkeit hingelenkt wird, findet die Welt für einen Menschen statt.
Achtsamkeit ist das Gewahrwerden der Aufmerksamkeit ohne Wertung bei gleichzeitig gutem und sinnvollem Steuern. Steuern bedeutet ein Einladen und Schaffen von Bedingungen, die Achtsamkeit ermöglichen. Achtsamkeit wird dadurch zum Schritt auf dem Weg zur inneren Ruhe und zu einem integrativen Selbst. Die Erkenntnisse westlicher Wissenschaft sowie östlicher und westlicher Weisheitslehren lassen ein Konzept entstehen, das insgesamt sechs Perspektiven der Aufmerksamkeit unterscheidet. Es übt den Blick auf das Zusammenwirken dieser verschiedenen Ebenen und lässt sie in guter Weise nützlich werden. Vor allem der »nondualen« (nicht trennenden, nicht wertenden, sondern verbindenden) Ebene der Aufmerksamkeit, auf der die Gedanken ruhen und innere Stille entsteht, kommt vor dem Hintergrund einer immer stressigeren und komplexeren Lebensgestaltung eine zentrale Bedeutung zu. Sie birgt entscheidende Kräfte wie Kreativität und Lösungsstärke. Und sie lässt die körperliche Aufmerksamkeit, die Gefühle, das Denken, das eigene Persönlichkeitsselbstbild ebenso wie die transgenerationale Ebene, die familiären, kultur- und milieubezogenen Wurzeln, zur guten Entfaltung kommen. Das Wissen um die verschiedenen Ebenen hilft Menschen, ihre Persönlichkeit zu erkennen und Wege zur Veränderung zu finden.
1. Die Treppe der Aufmerksamkeit
Abb. 1: Die Treppe der Aufmerksamkeit
Ich möchte die Ebenen der Treppe der Aufmerksamkeit kurz von unten nach oben erläutern, da sie sich in der menschlichen Entwicklung normalerweise in dieser Reihenfolge zunehmend offenbaren und damit der stetigen Erweiterung der Bewusstseinsperspektive dienen. Später im Buch werden die Möglichkeiten der einzelnen Ebenen detailliert dargestellt.
Das körperliche Bewusstsein ist entwicklungspsychologisch die erste Wahrnehmung im Leben eines Menschen. Dieses Bewusstsein bleibt in der Regel das ganze Leben lang erhalten. Vielleicht unterscheiden wir zunächst nur kalt und warm, schmerzhaft und schmerzlos, hungrig und satt. Das körperliche Bewusstsein differenziert sich weiter aus und begleitet uns unser ganzes Leben.
Körperliche Aufmerksamkeit
Aufwachsen, Ernährung, körperliches Befinden, Krankheiten, Schmerzen, Sport, Altern, …
Der Körper ist die biologische Grundlage des menschlichen Lebens und damit wesentliche Voraussetzung für Aufmerksamkeit. Der Körper ist vor allem am Beginn und am Ende des Lebens sehr zentral. Und die gesamte Art, wie die Spezies Mensch ihre Welt erfasst, ist durch ihre spezifischen Sinnessorgane und die typische Informationsverarbeitung des Gehirns, beides körperliche Bedingungen, bestimmt. Unsere Welt existiert in dieser Form nur für uns Menschen.
Emotionale Aufmerksamkeit
Differenzierung der Gefühle, Stimmungen aus persönlichen, biografischen Erlebnissen, aktuelle Gefühlsreaktionen, …
Als zweites folgt die emotionale Aufmerksamkeit, die Gefühle. Aus der anfänglich noch von der körperlichen Verfassung bestimmten Einordnung »angenehm« und »unangenehm« differenziert sich die weitere Aufmerksamkeitsebene, die der Gefühle wie Freude, Trauer und Ärger heraus. Einzelne davon werden uns mehr vertraut als andere. Dies macht bald einen Teil des Typischen im Ausdruck des jeweiligen Menschen aus.
Denkerische Aufmerksamkeit
Logik und Regeln, Rollenebene, Auftreten auf den Alltagsbühnen des Lebens wie Beruf, Partnerschaft oder Erziehung nach deren jeweiligen Spielregeln, …
Mit der Sprache entwickelt sich rationale, denkerische Kompetenz. Denken ist dann die Verknüpfung einzelner Ereignisse und Aspekte miteinander. Das Verbinden gemachter Erfahrungen mit aktuell anstehenden Aufgaben bildet den Kern dieser Aufmerksamkeitsebene.
Ich-Konstrukt-Aufmerksamkeit
Selbstbild, Persönlichkeitsausdruck, Bezugsrahmen, Lebensskript, …
Durch wachsende Erfahrung mit sich selbst und mit dem, wie andere auf einen reagieren, werden bald Schlussfolgerungen über das Leben gezogen. Der Ich-Gedanke ist die große Zäsur. Die Eltern freuen sich, wenn das Kind nicht mehr in der dritten Person von sich spricht, sondern »Ich« sagt. Es beginnt der entscheidende Prozess der Schlussfolgerungen über die eigene Person und andere. Der kleine Mensch macht sich einen fundamentalen Reim auf die Welt, auf alles, was er erlebt. Alfred Adler spricht von der »Lebensleitlinie« (Adler 1966), Eric Berne vom Lebensskript (Berne 1972). Das erste Ich-Konstrukt entsteht. Dies geschieht zunächst emotional durch die bedingungslose Liebe zu denen, die ihm das Leben ermöglichen, in der Regel zu den Eltern, und kognitiv mit den kindlichen Fähigkeiten, die noch anders sind als bei Erwachsenen. Sie sind durch vielerlei kind-typische Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen wie das magische Denken geprägt, wie der Entwicklungspsychologe Jean Piaget es hervorragend beschrieben hat (Piaget 1948). Es entstehen Grundlagen einer Selbstbildprägung, die dem Menschen für sein gesamtes Leben ein Strukturmuster für die eigene Person geben: ein erstes Ich, das sich weiterentwickelt und Teile im Unbewussten parkt. Dieses Ich ist eine Konstruktion, ein Lernergebnis, noch strenger ausgedrückt ein Konditionierungsergebnis, und entsteht aus dem Erleben häufiger Zusammentreffen bestimmter körperlicher, emotionaler, denkerischer Reaktionen und der Kommentierung durch die anderen. Somit ist es ein Gewohnheitsergebnis. Man erkennt sich jeden Morgen beim Blick in den Spiegel wieder. Daraus etwas Besonderes, die eigene Identität Beschreibendes zu konstruieren, ist verständlich, aber eigentlich nicht zwingend. Denn die Eltern kennen das Kind genauso wenig wie es sich selbst kennt. Das Geniale, Einzigartige wird häufig unter Schablonen des Funktionierens verborgen. Die Eltern definieren mit dem, was ihnen als Vergleich zur Verfügung steht, eher wild herum und das Kind hört zu. Denn das Ich-Konstrukt befriedigt das Strukturbedürfnis des Menschen (Berne 1963), bleibt aber ein Provisorium, das später achtsame Überprüfung braucht.
Transgenerationale Aufmerksamkeit
Aus der eigenen Sippe, der Kultur, der Familie übernommene Aufträge im Leben, Archetypen, Bezug zu früheren Generationen und nachfolgenden, Kindern, Enkeln, …
Die nächste Aufmerksamkeitsebene geht über das eigene Ich hinaus, ich nenne sie die transgenerationale Ebene. Sie enthüllt sich einem Menschen erst bewusst, wenn er sich aktiv mit ihr beschäftigt. Das Interesse, die Achtsamkeit für diese Ebene kommt den meisten erst in der zweiten Lebenshälfte. Natürlich ist sie von Anfang an virulent, weil die Eltern und andere Familienangehörige sie verkörpern und vermitteln. Sie ist aber meist unterschwellig von Beginn an wirksam. Sie besteht aus Impulsen und tieferen Prägungselementen aus der eigenen Familie, der Sippe (Weber 1993), dem Milieu (Schmid 2011) und der Kultur, wie die indische Wissenschaftlerin Pearl Drego und der italienische Arzt Marco Mazzetti belegen (Drego 2005; Mazzetti 2010). Selbst wenn Menschen sich von ihrer Familie abwenden und deren Werte ablehnen, ist diese mehrgenerationale Ebene vorhanden. Die Ergebnisse der modernen Familienforschung zeigen dies. Die Therapeuten Iván Boszormenyi-Nagy und Geraldine Spark (1973) nehmen eine Art »Hauptbuch der Familie« an, in dem durch Unrecht und Nichtbeachtung immer wieder buchhalterisch offene Posten entstehen, die von späteren Generationen ausgeglichen werden. Der Psychiater Helm Stierlin (1978) prägte die Vorstellung der »Delegate« in den Familien, der emotionalen Vermächtnisse, die über die Generationen weitergegeben werden. Der wegen seiner wenig einfühlsamen Ansprachen umstrittene Familientherapeut Bert Hellinger (2003) und seine Schüler konnten eindrucksvoll die Kraft des Mehrgenerationalen zeigen. Jeder Mensch besitzt ein tiefes Bewusstsein über Familiensysteme, das sich in der teilhabenden Beobachtung in den Familienaufstellungen beweist. Die Mexikanerin Gloria Noriega (2004) belegte die psychische Wirksamkeit der Themen der vorvorgehenden Generation in ihren Studien. In asiatischen Ländern wird dieses Bewusstsein noch um ein weiteres Element ergänzt, das über Familie, Sippe und Kultur hinausgeht, den Glauben an die Reinkarnation (Lama Govinda 2007; Ricard 2007). Reinkarnation ist etwa in Indien ein ganz selbstverständlicher Bestandteil des kollektiven und individuellen Bewusstseins.