darauf hin, dass unser Abenteuer unter einem guten Stern steht.“
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Als Paul eine Stunde später sein Zimmer betrat, brachen jedoch unversehens wieder Zweifel und Furcht über ihn herein.
So sehr ihn der Abend berührt hatte und es ihm schien, als wäre er bei alten Freunden zu Besuch gewesen, erschreckten ihn jetzt, umgeben von der kargen, farblosen Einrichtung, die vielen fremden Geräusche, Gerüche und das Fehlen jeglicher Vertrautheit.
Diese Kultur war in ausnahmslos jedem Detail so ganz anders als alles, was er zuvor erlebt hatte. Seine Sinne waren überflutet von Tausenden kleinen Eindrücken, die sich nicht einordnen ließen. Was übrig blieb, war ein Gefühl der Ohnmacht und Einsamkeit.
Am liebsten hätte er seine Sachen gepackt, ein Taxi gerufen, sich zum Flughafen aufgemacht und die nächste Maschine Richtung Heimat genommen.
Er setzte sich vornübergebeugt auf die Bettkante und stürzte sein Gesicht in die Hände. An der Grenze zur Verzweiflung erstarrte er förmlich.
Zwischen den Fingern fiel sein Blick auf den Shila, dessen goldener Einschluss gerade von einem Lichtstrahl, der durch eines der Vorhanglöcher ins Zimmer drang, hell erleuchtet schimmerte.
Er hob erstaunt den Kopf und verharrte so einige Augenblicke in die Betrachtung des Steines versunken.
Erst wenn objektiv sinnvolle Entscheidungen durch Synchronizitäten bestätigt werden, erweist sich ein Lebensweg als der richtige.
Der kleine Lichtstrahl reichte aus, um Paul tief zu berühren. Er dachte an Manishas Bericht und erinnerte sich an das Bild, das er vor sich sah, als sie von der alten nepalesischen Meisterin erzählte.
Bei dem Gedanken an die, in seiner Vorstellung, erleuchtete Gestalt hellte sich seine Stimmung plötzlich auf. Als würde der Lichtstrahl, der auf den Shila traf, bis in sein Herz reichen, ging mit einem Mal eine Leichtigkeit von seiner Mitte aus, die er sich nicht erklären konnte.
Eine Träne lief über seine Wange. Er wischte sich über die Augen, erhob sich und stand für eine Weile völlig aufrecht da. Der leichte Zustand breitete sich in seinem ganzen Körper aus.
Er fühlte nichts Bestimmtes und war doch zugleich von einer liebevollen Klarheit durchflutet, die ihm jede Furcht nahm und ihn sanft, wie von Flügeln umarmt, aus sich selbst heraus behütet trug. Etwas Ähnliches hatte er nie zuvor erlebt. Er hielt einfach still und genoss den Zustand.
Auch später noch, nachdem er sein Gewand abgestreift, die Zähne mit Mineralwasser geputzt und den Mund mit Whisky gespült hatte, hielt die Ruhe in seinem Inneren an.
Er kroch unter die Bettdecke und schlief bald darauf frei von Zweifeln friedlich ein.
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Am darauffolgenden Tag zogen die fremden Eindrücke der über siebenhunderttausend Einwohner zählenden Metropole an Paul vorbei.
An der Seite von Arjun besuchte er Swayambhunath, den großen Tempelkomplex im westlichen Stadtteil, der zugleich eine buddhistische und hinduistische Heiligenstätte war. Auf einem Hügel gelegen, galt die Anlage als eines der ältesten religiösen Bauwerke der Welt. Das Alter der inneren Heiligtümer, im besonderen der Stupa, die mit ihren zwei Türmen von nahezu ganz Kathmandu aus zu sehen war, wurde auf über zweieinhalbtausend Jahre geschätzt.
Bevor Paul jedoch die Treppe zum Tempel emporstieg, die, wie Arjun ihm erklärte, ebenso viele Stufen wie ein Jahr Tage hatte, bewunderte er an ihrem Fuße auf einer Steinplatte die Fußabdrücke Buddhas.
Im Inneren des Tempels traf er auf Hunderte Gläubige, die in traditionellen Ritualen mit monotonem Gesang im Gebet versunken ihre Religion praktizierten. Die Verankerung der Bevölkerung mit ihrem Glauben schien Paul auf geradezu beängstigende Weise intakt. Schrieb er doch jeder Form der Abhängigkeit von religiöser Verklärung eine proportional entgegengesetzte Entwicklung des individuellen Bewusstseins und der Eigenverantwortung zu. Während seines weiteren, ausgedehnten Rundgangs durch die Anlage verschenkte Paul zahllose Ein-Dollar-Scheine an völlig verarmte Ausgestoßene, die ihn immer wieder um Almosen bettelnd umlagerten.
Nicht minder staunte er über die vielen Affen, die den Touristen verspielt und frech ihre Lunchpakete stahlen. Aufgrund der großen Population der drolligen Säugetiere war der Anlage auch der Beiname Affentempel verliehen worden.
Am Rückweg ins Stadtzentrum erlebte Paul am Ufer des Bagmati, einem Fluss, der durch die Stadt dem Ganges zuströmte, eine weitere Szene des ihm so fremden gesellschaftlichen Kodex: die öffentliche Beisetzung eines Verstorbenen. Von Angehörigen auf einen flachen, rechteckigen Scheiterhaufen gebettet und mit nassem Stroh bedeckt, wurde der Körper unter den Blicken zahlreicher Schaulustiger verbrannt. Danach wurde seine Asche in den Fluss gekehrt.
Wenige fünfzig Meter flussaufwärts badeten ausgelassene Kinder mit Bällen spielend im selben Wasser und Frauen in bunten Saris wuschen ihre Wäsche darin.
Paul enthielt sich jeder Beurteilung des Erlebten, hätte er doch gleich welche Form der Einschätzung als anmaßend und fehl am Platz empfunden.
Am frühen Nachmittag ließ ihn Arjun eine Weile in einem der Straßencafés warten, um mit Pauls Reisepass von den zuständigen Ämtern noch die letzten Genehmigungen für die Weiterreise ins Landesinnere einzuholen.
Wie im Flug verging die Stunde mit der Beobachtung einzelner Männer- und Frauengruppen, die in den angrenzenden Cafés unter steter Trennung der Geschlechter wild miteinander diskutierten oder entspannt erzählten, aßen, tranken und lachten. Später am Tag schlängelte er sich, wieder begleitet von Arjun, durch den von lärmenden Touristen und Einheimischen völlig überlaufenen Bazar. Paul fand sogar einen Stand, an dem Shilas verkauft wurden, bekam jedoch keinen mit gold-gelbem Filament zu Gesicht.
Da er sich vorgenommen hatte, die Eindrücke seiner Reise in Notizform festzuhalten, erstand er ein kleines in Leder gebundenes, mit Prägedruck verziertes Büchlein.
Gegen Abend aßen die beiden Männer dann in einem Restaurant, das für seine nepalesischen Spezialitäten bekannt war. Der vielen ausländischen Gäste wegen, waren die Speisen, wie Arjun beschwor, schonend zubereitet.
Den abschließenden Drink nahmen sie in einem der zahlreichen Internetcafés zu sich. Nebenher verschickte Paul eine kurze Mail an seinen Vater auf La Gomera und auch an Carl. Zuvor musste er sich allerdings etwas gedulden, da der Strom bald nach dem Betreten des Cafés wieder ausgefallen und das zugehörige Notaggregat defekt war.
Die Mail an seinen Vater löste unerwartet Traurigkeit aus. Sein alter Herr schien ihm plötzlich viel zu fern und die Zeit, die ihm blieb, um das eine oder andere Gespräch zu führen, bedenklich kurz.
In den letzten Jahren war Carl ihm zum zweiten Vater geworden. Auch wenn beiden bewusst war, dass es sich dabei um eine klassische Übertragung handelte, minderte das nicht die Qualität ihrer innigen Beziehung.
„Das hat Kathmandu so an sich“, unterbrach Arjun, der geduldig gewartet hatte, feinfühlig seine Gedanken. „So viel geballte spirituelle Kultur wühlt einen mitunter auf. Kommen Sie, wir trinken ein Glas heißen Roksi. Der wärmt die Seele.“ Gern ließ Paul sich dazu überreden, den nach verdünntem Korn schmeckenden Schnaps zu probieren, und tatsächlich gingen ihm die Zeilen seiner Mails danach leichter von der Hand.
Kurz nach zehn Uhr abends saß er schließlich mit angezogenen Beinen und der Stirnlampe am Kopf auf dem Bett. Mit den ersten Notizen über die vergangenen Tage wollte er noch sein neues Schreibbuch einweihen.
Er hatte Carls Rat, den einen oder anderen feuchtfröhlichen Abend zu verbringen, nicht vergessen. Und da er nun schon vorgebaut hatte, beschloss er, noch etwas mehr zu trinken und sich direkt aus der Whiskyflasche, die auf dem Nachtkästchen neben dem Bett ihren Platz gefunden hatte, den einen oder anderen weiteren Schluck zu genehmigen.
Zudem hielt er diesen Akt, um etwaig noch anstehenden seelischen Nöten vorzubeugen, für dringend angebracht.
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