Erich Wimmer

Original Linzer Tortur


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schlussfolgerte Korab, »die drei sind in deiner Stadtwohnung abgestiegen?«

      »Genau«, bestätigte Isonzo, »aber treffen wollten sie dich hier draußen in der Jurte. Ist gemütlicher.«

      »Und anonymer«, sagte Korab so leise, dass Isonzo es unmöglich hören konnte.

      2

      Isonzos Jurte stand auf einem fünf Hektar großen Augrundstück zwischen Traunmündung und Donau. Dieses Areal hatte sein früh verstorbener Vater, der durch eine Fleischhauerei reich geworden war, vor Jahrzehnten billig gekauft. Damals waren die Baumarten im Auwald – vorwiegend Pappeln und Weiden – wirtschaftlich uninteressant gewesen, ebenso wie der Wert eines Rückzugsgebietes für bedrohte Tierarten und die Bedeutung einer immobilienfreien Überschwemmungszone.

      Nachdem er den Auwald und ein Zinshaus in Linz geerbt hatte, war Isonzo in die Mongolei gefahren und hatte so lange bei den Einheimischen gelebt und von ihnen gelernt, bis er eine Jurte selbst bauen konnte. Dann war er wieder zurückgekommen und hatte sich durch die Mitarbeit als Wildfütterer bei den hiesigen Jägern so beliebt und unentbehrlich gemacht, dass die nichts anderes als Ja sagen konnten, als er ihnen den Plan von der Aufstellung seiner Jurte vorlegte. Offiziell war die exotische Rundhütte ein transportables Futtermitteldepot für Rehe. Diese Funktion seines Bauwerks war das Bollwerk gegen den immer und überall drohenden Einfall von Beamtenhorden aus der Linzer Baubehörde, die den Hunnen und Hussiten an Abrisswut in nichts nachstanden.

      »Moment«, rief Korab, als die Jurte schon in Sichtweite gekommen war, »mein Schuhband ist offen.«

      Er kniete nieder und zwirbelte so langsam und ausführlich an den Bändern, als sollte er anstelle der Schlaufe eine Lotosblüte knüpfen. Um sich zu beruhigen, verdrängte er den Kraken und seine Truppe und klammerte sich an die Aura der Gegenstände in Isonzos rundem Heim. Das erdweiche Ocker und das krustige Blutrot der Nomadenteppiche, der kleine, mit feinen Ziselierarbeiten versehene Ofen, auf dem immer irgendein Fischeintopf vor sich hin köchelte, der gläserne Bücherkasten, der die Quintessenz von Isonzos papierenen Freunden enthielt, sowie die beiden einzigen Bilder an den Jurtenwänden. Auf einem war Dostojewski mit Ölfarben verewigt. Er stand in einem dunklen Keller, der sich in eine unüberschaubare Zahl von immer noch dunkler werdenden Abteilen verliert. Das zweite Bild war eine DIN-A3-Fotografie von Anna Politkowskaja. Auch sie war eine von Isonzos Heldinnen. Zwei Russen, zwei Seelen so tief wie der Baikalsee, unbeugsam und ohne Angst vor den großen Dämonen. Borgt mir etwas von eurem Drachentötermut, bat Korab im Stillen, erhob sich neu motiviert, ging noch die paar Schritte und trat endlich ein.

      »Howdy, Pius«, hörte er jemanden sagen. Ein Cowboygruß. Wie sollte er diese transkontinentale Grußvariante beantworten? Wieder einmal stand ihm sein Vorausdenken so sehr im Weg, dass er sich für seinen Notgruß entschied: »Ahoi.«

      Im Nachklang fand er diesen maritimen Ton gar nicht so unstimmig. Kuhbuben und Seebären. Grüne Weide und blaue Weite.

      »Fein von dir, dass du dir Zeit nimmst für uns«, sagte ein fleischig-muskulöser Mittdreißiger, der entspannt auf den Teppichen lümmelte und auf dessen Kopf ein totgegrillter Oktopus lag, mit verkohlten Tentakeln, die über Schläfen, Nacken und Schultern hingen. Dreadlocks, hörte Korab seinen inneren Modefachmann flüstern, dessen Stimme von den vielen vergeblichen Beratungen ganz heiser geworden war, das sind Dreadlocks, kein toter Oktopus, du modischer Totalausfall.

      »Ja«, antwortete Korab ausufernd. Es war nicht der Anblick des Kraken oder gar seine zwanglos freundliche Begrüßung, die Korab verwirrten. Es war auch nicht der erstaunlich normalhaarige, ein wenig dehydriert wirkende Seinfreund, der im Hintergrund der Jurte in seinem Laptop versunken war, als wäre der Bildschirm seine aufgeklappte Bauchhöhle. Es war Molly Müller. Diese Frau, diese junge Frau hatte Korabs innerem Teufelandiewandmaler mit ihrem Anblick glatt die Kehle durchgeschnitten. Nicht einmal ein kleines Röcheln war noch zu hören in der umfassenden Stille, die Korabs Staunen immer weiter in die Unendlichkeit dehnte. Molly Müller war nackt. Zumindest vom Nabel aufwärts. Mit gekreuzten Beinen saß sie auf einem der Teppiche, zwischen dem Kraken und Seinfreund, und bemalte ihre linke Brust mit Henna. Im Gegensatz zur Weichheit des feinen Pinsels waren ihre Brüste so hart und voluminös wie zwei mit Haut überzogene Sturzhelme für Hochgeschwindigkeitsschirennen. An der Spitze dieser mammagenen Haubitzen wirkten die Warzen wie zwei Zyklopenaugen, weil Molly feine Adern malte, die von einem dieser Augen weg ins Innere der milchschweren Berge führten. Aber das alles war noch harmlos verglichen mit dem eigentlichen visuellen Ereignis: Molly Müller trug einen kapitalen Nasenpflock und Ohrringe, die ihre Läppchen zu kleinen Lassos dehnten. Damit kannst du mindestens ein Kalb einfangen, sollten den Cowboys einmal die Schnüre ausgehen, kam endlich wieder eine halbwegs pragmatische Einflüsterung aus Korabs Innerem. Und außerdem, sinnierte sein innerer Prähistoriker weiter, freut sich jedes Pfahlbaudorf, sollte Molly einmal die Lust an ihrem Nasenpflock verlieren und ihn spenden wollen. Der Krake und Isonzo wechselten ein paar verständnisinnige Blicke, die Korabs beredtem Schweigen galten, während Molly weitermalte und Seinfreunds Finger wie Hagelschauer auf die Tastatur niedergingen.

      »Wir haben da ein kleines Problem«, setzte der Krake frisch an, obwohl sich die Halbwertszeit von Korabs Staunen noch nicht einmal halbiert hatte, »bei dem wir deine Hilfe benötigen.«

      Wobei, fragte sich Korab, kann eine Blattlaus drei ausgewachsene Nilpferde unterstützen?

      »Wir brauchen dein Museum«, wurde der Krake konkreter. »Du hast da einen unauffälligen Zugang. Sollst was deponieren. Vorübergehend …«

      »Was denn deponieren?«, brachte Korab eine Rückfrage zuwege.

      »Bloß ein Bildchen«, antwortete der Krake. »Braucht aber perfekte Lagerbedingungen. Du weißt schon, richtige Luftfeuchtigkeit, staubfrei und immer schön gleichmäßig temperiert. Sowas hat’s nur im Museum.«

      »Aber …«, begann Korab, wurde aber von Molly Müller unterbrochen, die mit ihrer Malarbeit innehielt und ihm plötzlich mit voller Aufmerksamkeit ins Gesicht sah.

      »Soll ich dir’n Safd ausbrrressn?«, fragte Molly schneeflockenweich, mit flappenden Labiallauten, blubbernden Lippenwülstchen und Augen, die sich immer weiter vergrößerten, wie zwei über einem Bergrücken nebeneinander aufgehende Vollmondscheiben. Korabs Seele zerfloss in einem See voll heißem Kakao.

      »Ich … na ja … was …«, stammelte er.

      »Du gefällst mir«, sagte der Krake trocken, »bist ein Scherzkeks.«

      »Museumsmäßig betrachtet bin ich sogar noch weniger«, ergänzte Korab, »ich bin sowas wie das letzte Segment vom Enddarm. Freiberuflicher Kunstvermittler. Ich hab’ zwar ein Kunstgeschichtestudium abgeschlossen und sogar eine Diss geschrieben, über Stahlskulpturen und die ästhetische Bedeutung von Rost, falls ihr es genau wissen wollt, aber das hilft mir überhaupt nichts. Ughde, das ist die Abkürzung für Unser geliebter Herr Direktor Ebner, der Oberboss des LinzMuseums, also Ughde, mein Herr und Gebieter, kennt noch nicht einmal meinen Namen. Kunstvermittler wie ich, die durch sein Museum schwirren, haben für ihn den gleichen Stellenwert wie die Bakterien, die durch seine Darmzotten wandern. Wir freien Mitarbeiter haben null hoch minus null Befugnisse. Ich kann nicht einfach den Direktor fragen, ob ich etwas in seinem Depot abstellen darf.«

      »Du sollst auch niemanden fragen«, erklärte der Krake. »Stellst das Bild einfach unauffällig ins Eck, zwischen die anderen Bilder. Dort, wo garantiert kein Mensch nachschaut. Ist ja zeitlich beschränkt.«

      Der fleischige Kopf des Kraken machte einen Schwenk Richtung Tisch. Beim Anblick der dort abgestellten schmalen, aber professionellen Klimakiste sprangen Korab die letztwöchigen Zeitungs-Schlagzeilen wie eine bösartige Affenbande vor den inneren Projektor: Wertvolles Schiele-Bild aus dem Lentos gestohlen. Professionelle Kunstdiebe stehlen Schieles Gemälde »Frau mit Katze«. Unersetzlicher Verlust für Linz. Profibande raubt den teuersten Schiele.

      Korab räusperte sich. Dieses Bild, das da so ruhig und unsichtbar in seiner Holzverschalung lag, war mit grässlicher Wahrscheinlichkeit eine Ikone der Moderne. Eine der Ikonen. Unbezahlbar, einzigartig und von dubiosen Kunstsammlern sicherlich begehrt wie ein reifer Apfel von der Schwerkraft. Daran