Kontemplation und dem inneren Lernen. Tag und Nacht haben hier symbolische Bedeutung: Der „Tag“ ist die Gottgegebene Fähigkeit des Menschen, Einsicht durch bewusstes vernünftiges Denken zu gewinnen. Die „Nacht“ ist die Intuition, die aus der stillen ruhevollen Ergebenheit gegenüber der Stimme des eigenen Herzens kommt.
„Denn waren sie nicht gewahr, dass Wir es sind, die die Nacht für sie gemacht hatten, auf das sie darin ruhen mögen, und den Tag, um sie sehen zu lassen.“
Koran Sure 27: Vers 86 (27:86)
Die ersten Schritte, der Auszug vom Übel des selbstgefälligen, selbstsüchtigen Ich zum Göttlichen, sind oft von herzzerreißender Einsamkeit begleitet. Es ist eine Trennung vom Vertrauten, aber auch oft ein Abschied von bestehenden Beziehungen.
„Und wer den Bereich des Übels um Gottes Willen verlässt, der wird auf Erden manch einsame Straße wie auch Leben in Fülle finden.“
(4:100)
Um diesen Weg zu gehen, braucht der Suchende eine/n LehrerIn, jemanden, der diesen Weg gegangen ist und die komplexen Fallen des Egos kennt und von der Liebe zu Gott durchtränkt ist, aber auch unterstützende, beistehende, aufmunternde, weiterhelfende GefährtInnen.
Der Weg und das Ziel ist Schönheit „iḥsān“. Iḥsān kommt von ḥusn „Schönheit, Anmut“ und bedeutet: „Alles auf die für uns höchstmögliche Art und Weise schön angehen, leben und ausführen“, denn iḥsān bedeutet gemäß der prophetischen Überlieferung „dass du Gott verehrst, als wenn du Ihn sähest, und wenn du Ihn nicht siehst, so sieht Er doch dich“. Iḥsān ist die vollkommen aufrichtige Anbetung Gottes, die vollständige Verschmelzung der Erkenntnis und des Willens mit dem Göttlichen.
Der Sufismus besagt: Der Mensch ist das perfekte Ebenbild des Universums! Betrachten wir das Universum, die Natur, so finden wir Harmonie, Ausgewogenheit und Frieden vor. Wieso finden wir also keine Harmonie, keine Ausgeglichenheit und vor allem keinen Frieden unter den Menschen?
Beschenkt mit einem freien Willen und einem Verstand verwendet das Ich diese, um seine Wünsche und Begierden zu erfüllen und auf bestmögliche Weise zu befriedigen. In seiner Ich–bezogenen Einstellung lehnt das Ego–Nafs das wahre heilige Gleichgewicht ab und ist bereit, für seine Begierden nicht nur unsere persönlichen und sozialen Beziehungen, sondern auch die Natur und den ganzen Planeten zu zerstören. Obwohl wir alles tun, um diese Befriedigung zu erreichen, haben wir stets das Gefühl, dass etwas fehlt, und dieses Gefühl lässt uns immer weiter nach noch mehr „Fortschritt“ hinzielen.
Doch die wahre Identität des Menschen ist nicht ein Konglomerat seiner Begierden und Verhaltensweisen. Wir sind zwar in unserer Konstellation den Steinen, den Pflanzen und den Tieren sehr ähnlich, doch es gibt da einen Kern, eine Essenz, ein inneres Licht, ein Sein, das uns Menschen von allen unterscheidet und das der Mensch mit seinem Verstand und seinem Herzen bewusst erreichen kann.
Es ist dieses Sein, an das sich alle Propheten und großen Meister wenden. Je nach Zeit und Raum, mit stets anderen Einsichten, zeigen sie alle die Eine Realität auf. Sie wenden sich nicht an unsere Gefühle, unsere Verhaltensweisen oder unsere Intelligenz. Ihre Worte sind stets an unsere Essenz gerichtet, die ewig und anhaltend von Anbeginn bis zum Ende existiert. Alles verändert sich: unser Körper, unsere Gedanken, unsere Ideen, unsere Beziehungen, unsere Neigungen und Ziele, doch dieses wahre Selbst ist ewig und immerwährend.
Uns auf dieses wahre Selbst einzuschwingen bedeutet, uns für unsere wahre Bestimmung bereitzustellen. Dafür müssen wir uns mit unserer wahren Natur verbinden, erst dann beginnen sich die höheren Energien klar und unverzerrt in uns zu manifestieren. Das isolierte Ich–bezogene Ego, das uns so oft zu Sklaven unserer scheinheiligen und engherzigen Bedürfnisse und Triebe macht, ist ein träges, sich langsam drehendes Gebilde. Sich vom Ego–Selbst zum wahren Selbst zu öffnen bedeutet, vom schnelldrehenden Wirbel der Liebe gepackt zu werden, der alles Schwere abprallen lässt und das Göttliche Licht anzieht. Es bedeutet, im Herzen eine Verpflichtung für die Menschheit und diesen Planeten, ja das ganze Universum zu tragen. Es bedeutet, sich in sich selbst zu verlieben, in diese ewige Göttliche Natur, die in unserer Mitte pulsiert, und die uns mit ihrer unendlichen Güte und Gnade durch das Leben führt, wenn wir es zulassen. Es ist ein täglicher Kampf für das Licht, die Liebe, die Güte, die Harmonie, die Toleranz und den Frieden.
Im Wesen sind die Botschaften aller Propheten zu allen Zeiten gleich: Erkenne dich selbst! Auch der Prophet Muhammad, Allāhs Friede und Heil seien mit ihm, hat gesagt:
„Wer auch immer das wahre Selbst erkennt, der hat Gott erkannt!“
Es ist unser Schicksal in unserer Endlichkeit – wir, die wir dem Wandel der Zeit unterstellt sind – uns auf den Weg zu begeben, die Ewigkeit, die auch in uns pulsiert, zu erfahren.
Das Ziel des Sufismus ist, den Menschen dorthin zu leiten, ihn zu erleuchten und zu seinem Heiligtum, zu den Göttlichen Energien zu führen. Der Weg ist die Liebe, die durch spirituelle Praktiken und Aufrichtigkeit genährt wird, bis das Herz und der Geist den Sinn der Existenz erkennen.
Rumi sagte: „Das Ergebnis meines Lebens kann man in drei Worten zusammenfassen: Ich war unreif, ich reifte, und ich wurde verzehrt!“
Die Weisheitslehre der Sufis taucht in die Religionen durch die ma‘rifa, die Erkenntnis, ein. Sie benutzt die Unterscheidung zwischen dem Absoluten und den Manifestationen, der Essenz und der Form, dem Inneren und Äußeren, um zu verbinden, um zwischen Wahrheit Ḥaqq und Welt dunya zu vereinen. Der Ort dieser Einung ist das menschliche Herz.
DIE GÖTTLICHEN NAMEN UND QUALITÄTEN
Dieses Buch soll als Arbeitsbuch dienen, dazu beitragen, einen Raum in den Herzen der Menschen zu öffnen und darin die Samen der Sehnsucht und Liebe für die Schönheit und Majestät dieser Namen zu pflanzen, um so letztendlich die Schönheit und Würde dieser Welt zu kosten, die majestätische Schönheit des Schöpfers zu sehen und den Mitmenschen nahezubringen.
Alle Göttlichen Namen bzw. Eigenschaften widerspiegeln die verschiedenen Aspekte des Einen, der einen allumfassenden Liebe, Allāh. Durch die Göttlichen Namen versuchen wir die Gegenwart des Unendlichen im Endlichen zu kosten. Sie beschreiben uns den Weg der Annäherung an Gott. Da sie aber selbst von Gott erschaffen sind, können sie Ihn nicht enthalten, dennoch geben sie uns die Möglichkeit, Ihn durch sie zu erkennen. Doch es wird immer eine Erkenntnis nach menschlicher Bewertung sein. Die einzige Möglichkeit, uns Ihm zu nähern, ist, wenn wir uns mit Seinen Qualitäten „färben“, uns also zu unserer eigenen Vollkommenheit begeben und Seine Qualitäten auf uns anwenden, bis das Göttliche Licht, aus dem wir geformt wurden, durch unsere irdische Hülle hindurchstrahlt und wir das werden, was wir vor unserer irdischen Existenz waren und sind.
Die Wiederholung der Göttlichen Namen ist, wie die Sufis es nennen, „das Einkleiden der Triebseele nafs mit den Göttlichen Eigenschaften“. Es ist der Akt, das ewig Heilige in uns zum Erblühen zu bringen. Dafür muss das nafs, das Ego, jener selbstgefällige, egoistische Teil in uns, zunächst die Mängel, die Vorurteile und auch die negativen Gewohnheiten ablegen bzw. transformieren. Die Öffnung des Herzens, das Erwachen des Herzens, führt zu einer Ausdehnung, die uns erlaubt, die Verbundenheit zu spüren und damit die Schöpfung zu berühren und zu vereinen.
In jedem Augenblick erschafft Gott die Welt, täte Er dies nicht, bräche sie in sich zusammen und so wirkt Er in jeder Erscheinung. Es gibt keinen anderen Ursprung, kein Naturgesetz, nichts was zwischen Gott und den Ereignissen wirksam werden könnte, außer durch den Menschen, diesem einenden Wesen zwischen Himmel und Erde. Der Mensch als Vertreter Gottes auf Erden wurde mit der himmlischen Fähigkeit der Erkenntnis und der irdischen Willensfreiheit beschenkt und kann durch sein Dasein Harmonie und Disharmonie in diese Welt bringen.
Gott schuf die Welt aus Gegensätzen, Er schuf ein Gottgewolltes Ungleichgewicht, damit ein Miteinander und eine Erkenntnis möglich werden.
So sind auch die verschiedenen Auffassungen und Ideen der Menschen nicht zufällig, sondern ein Gottgewollter, grundlegender Aspekt der menschlichen Existenz. Wenn Gott gewollt hätte, dass wir Menschen alle einer Auffassung sind, wäre jeder