Rosina-Fawzia Al-Rawi

Der Hauch der Ewigkeit


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und einer spirituellen Kraft zu bereifen.

      Mit dem Entstehen der Welt erwachte auch ihre Sehnsucht nach dem ursprünglichen Zustand der Einheit. Jeder Bär ist stärker als ein Mensch, jeder Gepard schneller, jeder Fisch ein besserer Schwimmer und jeder Vogel kann sich leichter in die Lüfte erheben, doch nur der Mensch ist fähig, die Welt in die Einheit zu führen, Himmel und Erde in Einklang zu bringen.

      Wir Menschen sind Suchende, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: wir wollen verstehen – wir wollen erkennen – wollen erkannt werden. Unsere Suche mag alle möglichen Formen annehmen, doch in ihrer letzten Konsequenz endet die Suche in nichts anderem als der puren Lobpreisung Gottes, selbst wenn das erst nach dem letzten Atemzug kommt. Dieses einzige, was letztlich bleibt, ist allgegenwärtig auf allen Ebenen der Existenz. Die Lobpreisung Gottes, das Erkennen des Göttlichen, ist der eigentliche Sinn der Schöpfung.

      Nichts auf dieser Welt ist dem Menschen fremd. Alle Geschöpfe darauf sind in das Wesen des Menschen eingewoben und durchdringen seinen Geist. Wenn der Mensch erkennt, dass er die Seele der Schöpfung ist, öffnen sich für ihn die Tore des Lebens und in seinen Taten, Worten und Gedanken können sich die Göttlichen Wahrheiten, die in der Schöpfung eingebettet sind, widerspiegeln.

      Das Wiederholen der Göttlichen Namen, der dikr, ist ein äußeres Ritual, das einen inneren Sinn hat, und genauso erhält eine innere Haltung ihren Wert, wenn sie sich in äußeren Handlungen widerspiegelt.

      Das Äußere dient stets der Annäherung an das Innere, denn in der Wiedervereinigung und Zuordnung der äußerlichen Dinge zu ihren inneren Wirklichkeiten liegt der Sinn und die Aufgabe des Lebens. Es ist die Erkenntnis des Herzens, das stets fähig ist zu einen, zu verbinden. Dies ist der Weg der Sufis.

      Die äußeren Taten hinterlassen Erinnerungen, aus denen wiederum innere Werte wachsen. Die regelmäßige Wiederholung äußerer spiritueller Praktiken und Rituale stärkt und stabilisiert die innere Haltung der Einung – bis immer mehr Teile unseres Seins an diesem Weg teilnehmen. Es ist wie das Schwimmen – in der Regelmäßigkeit der Bewegungen entsteht ein gleichmäßiges Vorwärtskommen zu unserem Ziel.

      „Denn es besteht eine Einheit zwischen Sinn und Form;

      solange die beiden nicht zusammenkommen,

      bringen sie keinen Nutzen.“

      (Rumi, Fihi ma Fihi)

      Wir können nicht erst Erkenntnis erlangen und anschließend einen Weg wählen. Der Mensch muss sich zuerst auf den Weg begeben, und dann erst wird ihm Erkenntnis zuteil. Gottes Geschenke sind nicht voraussehbar und nicht planbar. Zuerst das Pflügen, Säen und Bewässern – und dann die Ernte. Wir müssen also ein Risiko eingehen. Es brauchen keine Erleichterungen im weltlichen Leben aufscheinen, wenn spirituelle Regeln eingehalten werden. Doch eine Veränderung findet statt, wenn wir bestehende selbstgefällige Vorstellungen und Bilder loslassen und uns offen und ohne Erwartungen auf einen spirituellen Weg begeben. Neue Räume eröffnen sich, die Denk– und Sichtweise transformiert sich und führt zu einer neuen Haltung. Am Ufer zu stehen und das Meer verstehen zu wollen, geht nicht. Man muss sich hineinbegeben, zu schwimmen beginnen, erfahren, um daraus Erkenntnisse zu erlangen.

      Es wäre zu einfach und nicht der Sinn des Menschseins, zu glauben, indem ich eine Menge Regeln einhalte, kann ich die Verantwortung für mein Tun an Gott zurückgeben. Der Weg des Menschen ist und bleibt ein Unterfangen, eine Mutprobe, eine Herausforderung. Man kann ihn nicht durch Regeln oder verschiedenen Garantien absichern. Wir können nur lernen, uns Schritt für Schritt, Herzschlag nach Herzschlag, bedingungslos in Gottes Hände zu begeben.

      „Das wahre Ziel des Gebets und der Meditation ist aber nicht, dass der Wunsch der Menschen erfüllt wird, sondern vielmehr, dass der menschliche Wille sich wandelt, um sich so mit dem Göttlichen Willen zu vereinigen; denn dann kann der Göttliche Wille die menschliche Seele durchfluten und uns so verwandeln, dass wir das Geschick, das uns bestimmt ist, als eigene Wahl annehmen.“

      (aus einem Gedicht von Iqbal)

      Die 99 Göttlichen Namen dienen als Hinweis, wie Gott in dieser Welt gesehen und erkannt werden kann.

      Muḥiyuddīn Muḥammad´ibn‘Arabī, 1165 in Murcia/Spanien beboren, 1240 in Damaskus gestorben, war einer der bekanntesten Sufis. Er wird wegen seines großen Einflusses auf die allgemeine Entwicklung des Sufismus auch „aš–šayh al–´akbar“, „Der größte Meister“ genannt. Vielen gilt er als Vertreter religiöser Toleranz. Ibn Al–‘Arabi erklärt:

      „Allāh sagte: „Ich war ein verborgener Schatz und Ich liebte es, erkannt zu werden, so schuf Ich die Schöpfung (Menschheit) für Mich, damit sie Mich durch Mich erkennen werden“.

      Die in Ihm verborgenen Namen sehnten sich danach, sich zu manifestieren. So brachen sie infolge ihrer Sehnsucht, erkannt und geliebt zu werden, aus dem verborgenen und niemals zugänglichen Göttlichen Sein hervor, wie zu lange angehaltener Atem aus dem Körper bricht. Das ist es, was als nafas ar–raḥmān, der Göttliche Hauch, bezeichnet wird, jener Hauch, der die ganze Schöpfung durchweht und die Göttlichen Worte wirken lässt. Die Namen trafen auf das Nichtsein, das sie, gleichsam wie Spiegelstücke, reflektierte, und so ist die Welt gewissermaßen eine Spiegelung der Göttlichen Namen. Sie existiert nur, solange ihr Gesicht, die Oberfläche des Spiegels, Gott zugewandt ist, sonst verschwindet sie, denn sie ist absolut von Gott abhängig. Gott aber bleibt unverändert, unberührt von der Welt und ist ausschließlich durch die Spiegelung zu ahnen, und so erkennt Ihn jede/r auf seine/ ihre eigene Weise, je nach dem Namen, der sich in ihm/ihr am stärksten manifestiert“.

      Die 99 Göttlichen Namen polieren den Spiegel des Herzens, um den Schöpfer sowohl transzendent – und damit größer als die erschaffene Welt – zu erkennen, als auch immanent, also in Allem enthalten. Alle 99 Göttlichen Namen sind Liebesausdrücke, die das Herz heilen und somit unser ganzes Sein.

      Die Suchende lernt, innerlich loszulassen und äußerlich festen Fußes mit wachem Herzen auf dem rechten Weg zu gehen. Sie lernt, mit dem sich Widersprechenden umzugehen und die allumfassende Einheit hinter der Dualität zu erkennen. Der Mensch lernt, eine liebende Kriegerin / ein liebender Krieger zu werden auf dem Pfad der bedingungslosen Liebe, dessen äußerer Ausdruck die Güte und das Mitgefühl gegenüber sich selbst und anderen, und dessen innerer Ausdruck die Freiheit ist. Durch die Verwendung der Göttlichen Namen und deren Wiederholung (dikr) wird der Herzensspiegel, der vom Rost weltlicher Gedanken und Beschäftigungen überlagert ist, poliert, damit sich unsere Essenz, das Göttliche Licht unverzerrt und ungedämpft zeigen kann.

      VERWENDUNG DER GÖTTLICHEN NAMEN

      Es ist empfehlenswert, vor allem zu Beginn, die Göttlichen Namen laut auszusprechen. Laut bedeutet, dass man seine eigene Stimme beim Wiederholen hört. Der jeweilige Göttliche Name bewegt sich, schwingt durch unseren Körper, durch unser ganzes System. Langsam beginnt eine Annäherung zwischen unserer Stimme und der innewohnenden Schwingung des wiederholten Namens. Die Essenz dieses Namens beginnt uns zu bewegen. Oft erfahren wir verschiedene Widerstände, aber auch einen intensiven Widerhall in uns. Manchmal berührt ein Göttlicher Name genau den Trennungspunkt in uns, es ist der Trennungspunkt in Bezug zum Bewusstsein um unsere Seele, der Trennungspunkt in Bezug zur Familie, Gemeinschaft und Menschheit, der Trennungspunkt in Bezug zu Gott, zur allumfassenden ewigen Existenz. Der Bereich des Unterbewusstseins wird berührt, da unsere Trennungswunde, die wir mit den komplexesten Mitteln zu beschützen suchen, dort aufbewahrt ist.

      Das stille Wiederholen der Göttlichen Namen wird vor allem dann empfohlen, wenn die oder der Suchende schon klar als murīda bzw. murīd bezeichnet werden kann, also als ein Mensch, der sich ganz klar mit seinem Willen und Streben auf den Weg zu Allāh, zum Absoluten, zur Ewigen Liebe, zum Geliebten begeben will.

      Sich selbst zu vergessen, sich jenseits des Ego–Nafs zu öffnen, um von den Göttlichen Namen berührt zu werden, ist wesentlich, um in die tieferen Schichten des Seins zu kommen.

      Die Göttlichen Namen können so gewählt werden, dass der Mangel, das, was fehlt, berührt wird, um so den Mangel bewusst zu machen und wieder in die Ganzheit unseres Seins einzugliedern. Eine andere Weise wäre, die