Michael Weger

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es nicht aufhalten. Sie rieb sich die Augen und entdeckte am Fußboden ein vergilbtes Kuvert mit ihrem Namen darauf. Jemand musste es unter der Tür durchgeschoben haben. Nach den wenigen Stunden unruhigen Schlafes zerrte die Müdigkeit noch an ihren Gliedern. Sie streckte sich, ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und spähte in den leeren Flur. Sie nahm das Kuvert hoch und fand eine Skizze mit einem Brief darin:

       Verehrte Claire Claudel!

       Verzeihen Sie, dass ich mir erlaube, Ihnen diese Zeilen zu übermitteln.

       Ich verfolge seit Langem Ihre „Rebellen der Menschlichkeit“. Sie haben mir, und vielen anderen aus unserer Gemeinschaft, stets Mut gemacht und unsere Hoffnungen genährt.

       Ihrem letzten Post auf Newsground war zu entnehmen, dass Sie Ihr Weg nach Rom führen würde. Nun ist es uns gelungen, Sie über die Security-Files der Hotelmeldungen ausfindig zu machen. Bitte verzeihen Sie noch einmal!

       Ich möchte Sie einladen, uns zu besuchen! Unter den Ärzten, Lehrern und Helfern unseres Teams finden sich viele außerordentlich engagierte Menschen, die es verdienten, in einem Ihrer Artikel Erwähnung zu finden – sie leisten tagtäglich wahrhaft Großes.

       Anbei eine Skizze mit dem Weg zu meinem Büro und falls Sie mich dort nicht vorfinden, fragen Sie einfach nach mir.

       Mit herzlichen Grüßen,

       Jana Scharé

       Dolmetscherin

       PS: Ich darf Sie vorweg bitten, sollten Sie uns besuchen, mich selbst in Ihren Berichten jedenfalls unerwähnt zu lassen. Die Gründe dafür kann ich Ihnen gerne persönlich erläutern.

      Claire überflog, nicht wenig erstaunt, noch einmal die Zeilen und warf einen Blick auf die Zeichnung mit der Wegbeschreibung. Das Büro schien ganz in der Nähe zu liegen. Der Brief musste aus jenem Viertel stammen, das sie ohnehin geplant hatte, als Erstes aufzusuchen. Sie öffnete ihr Pad und überflog die Liste mit Namen, die sie während des Fluges recherchiert hatte. Eine Jana Scharé war nicht darunter. Jana Scharé.

      Plötzlich überrollten sie die Erinnerungen an den vorherigen Abend. Sie setzte sich auf die Bettkante. Der Brief wäre ihr beinahe aus der Hand geglitten. Mit einem Mal war ihr Ajan vor Augen, das sterbende Mädchen, das Straßenlokal, die Insel, wie er sie beschrieben hatte, und Seelenfelder und Prüfungen und Zufälle.

       Jana Scharé. Ajan. Share. Mehr Zufall kann es ja wohl nicht geben?! Und dass sie mein Post auf Newsground erreicht hat und sie mich bereits erwarten? Gleich mehrere Zufälle auf einmal? Prüfung schon bestanden?

      Doch wollte sie das überhaupt? Wollte sie Ajan wieder begegnen? Oder irgendwelche Prüfungen bestehen?

      Alles, wovon sie in den letzten Stunde des Vorabends so überzeugt gewesen war, lag nun hinter einem Schleier aus Zweifeln und Ängsten.

      Sie blickte erneut auf den Brief in ihrer Hand und besann sich der Aufgabe, die vor ihr lag und derethalben sie nach Rom gekommen war.

      Sie stand auf, wusch sich, zog ihr Journalistenkostüm an, verstaute ihren Reiserucksack im Schrank, nahm das Neopad und machte sich auf den Weg.

      Die Straße vor dem Hotel war noch menschenleer. Sie ging los und wenig später begegnete ihr ein Junge, der einen Handkarren voll bauchiger Wasserflaschen zog und sie höflich grüßte. Eine Frau schloss ein Geschäft auf und winkte. Ein alter Mann trat aus einer der Haustüren und stolperte über eine Stufe. Claire wollte ihm zu Hilfe eilen, doch er war schon wieder auf den Beinen, nahm lächelnd ihre Hand und tätschelte sie anerkennend. Die Menschen wirkten unbeschwert. Das erstaunte Claire; widersprach es doch den dramatischen Ankündigungen ihres Vaters.

      Sie hielt sich weiter an die Skizze, verglich sie laufend mit den Angaben ihres Pads und bog schließlich in die Gasse zur Piazza del Popolo ein. Ohne es zu wissen, ging sie denselben Weg entlang, auf dem Ajan den Platz am Vorabend verlassen hatte.

      Durch die Gasse drangen geschäftige Stimmen, die mit jedem ihrer Schritte lauter wurden. Als sie um die Ecke bog, blickte sie erstaunt auf das bunte Treiben. Bereits so früh am Morgen war der riesige Platz von Menschen übersät. Sie kauften und verkauften, feilschten, lachten miteinander und freuten sich. Überhaupt schien Freude die vorherrschende Stimmung zu sein. Vielleicht war es die Dankbarkeit, die ihre Herzen so erstarken ließ. Oder sie hatten sich entschieden, den Nöten und Ängsten des Daseins eine neue Kraft entgegenzusetzen.

      Claire blickte sich um und war gerührt von so viel greifbarer Hoffnung.

      Ganz in der Nähe vernahm sie ein Lachen, wandte sich dorthin und sah eine muslimische Frau mit einer Burka bekleidet, deren unverhülltes Gesicht über die Komplimente eines jungen Italieners strahlte. Gerne ließ sich Claire von ihrer Stimmung anstecken.

      Gut gelaunt folgte sie weiter der Wegbeschreibung und erreichte nach wenigen Minuten die angegebene Adresse. Auf der Glasscheibe des straßenseitigen Büros stand mit breiten Pinselstrichen geschrieben: Adminstration District 4 – Jana Scharé.

      Die Dolmetscherin schien demnach so etwas wie die hiesige Bürgermeisterin zu sein.

      Die Eingangstür öffnete sich und eine große, strahlende Frau mit rot gelockter Mähne erschien.

      „Sie sind es wirklich!“, sprach die Frau sie auf Französisch an und kam ihr mit offenen Armen entgegen. „Was für eine Freude!“ Ihre Stimme hatte einen tiefen, runden Klang. Claire war beeindruckt.

      In den folgenden Stunden wurde Claire von Jana herumgeführt. Mitunter ließ die beherzte Frau ihre Hand gar nicht mehr los und Claire überkam nach kurzer Zeit das Gefühl, sie wäre ihrer lang vermissten großen Schwester begegnet.

      Sie erfuhr, dass Jana sechs Sprachen fließend beherrschte, die Tochter eines hochrangigen Schweizer Diplomaten war und sie ein ähnliches Schicksal teilten: Auch Janas Vater wollte ihr Engagement in Krisengebieten mit Gewalt verhindern. Deshalb war sie bemüht, ihren genauen Aufenthaltsort, so gut es ging, zu verschleiern, und mochte darum auch keine Erwähnung in Berichterstattungen finden.

      „Was mir hier an Wertschätzung und Dankbarkeit widerfährt, ist Lohn genug“, erklärte sie schlicht, während sie die Tür zum Hospital öffnete, das zugleich Waisenhaus und Armenküche für das ganze Viertel war. Kaum hatten sie die Aufnahmehalle betreten, schallte Janas Namen durch die Gänge und ein Junge kam auf sie zugestürmt. Sie ging etwas in die Hocke und der Kleine sprang ihr in die Arme.

      „Darf ich vorstellen: Das ist Amid. Er ist so etwas wie mein Ziehsohn.“ Sie küsste ihn auf die Wange.

      „Freut mich, Amid. Ich bin Claire.“ Sie streckte ihm eine Hand entgegen, die der Junge ohne Scheu ergriff.

      „Seine Muttersprache ist Farsi. Mittlerweile ist aber auch sein Englisch schon ganz gut.“

      „I speak English. My name is Amid. You are a beautiful woman“, stellte er lachend sein Können und seinen Charme unter Beweis. Claire lächelte überrascht und nickte Jana voll Anerkennung, über das offene Wesen des Kleinen zu.

      „Komm, runter jetzt“, sagte Jana liebevoll zu Amid, „du weißt, du bist schon zu schwer für mich“, und erklärte zu Claire gewandt: „Er hat mich schon vor drei Jahren in den Stand einer Mutter erhoben und wir geben ein ganz gutes Team ab. Mittlerweile hilft er hier in der Küche. Er ist ein begabter kleiner Koch.“ Sie fuhr ihm durchs Haar und streifte seine dunklen Locken aus der Stirn.

      „I am a good cook“, strahlte er zu Claire hoch, stellte sich zwischen die Frauen, nahm sie an den Händen und zog die beiden, ihnen voranschreitend, in die Gänge des Hospitals.

      Claire lernte an diesem Vormittag so viele Ärzte, Schwestern und Pfleger kennen, dass ihr kaum Zeit für ausreichende Notizen blieb. Wem sie von all den engagierten Helfern in ihrem Bericht den Vorzug geben sollte, wusste sie beim besten Willen nicht zu sagen. Noch dazu hatte Jana über jeden eine ganze Reihe von Heldentaten zu berichten. Ihre täglichen Bemühungen galten, neben der