Michael Weger

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Du hast mir gar nichts zu erlauben. Ich treffe meine eigenen …“

      „Dann werde ich mit Jerome sprechen. Er ist mir noch einen Gefallen schuldig. Wollte er nächste Woche nicht euer Verhältnis öffentlich machen? Zeit wäre es.“

      Die beiden hatten also miteinander gesprochen. Jerome war zudem einer der Wenigen, der um die Verwandtschaft zwischen ihrem Vater und ihr wusste. Sie wollte stets vermeiden, dieser familiären Beziehungen wegen bevorzugt behandelt zu werden. Und dem Vater war es ebenso recht, dass die junge, linke Journalistin, die mitunter lauthals gegen das Militär wetterte, nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden konnte.

      „Lass Jerome aus dem Spiel!“

      „Spiel?!“ Ihr Vater stand auf und beugte sich über den Schreibtisch. „Genau das ist es für dich, nicht wahr?! Das spiegelt deinen ganzen infantilen Gemütszustand wider! Ein verträumtes Kind, das der Realität entflieht und seine Zeit mit Pseudojournalismus verschwendet! Dafür habe ich dich nicht an der Sorbonne studieren lassen!“

      Nun erhob sich auch Claire. Doch wie immer, wenn ihr Vater sie mit seinen Angriffen ins Herz traf, versickerten die Worte in ihrem Kopf, bevor sie die Lippen erreichten.

      „Ich werde nicht zulassen, dass ich auch noch die dritte Frau“, er korrigierte sich, „die zweite Frau in meinem Leben an Hirngespinste verliere! Du bleibst hier! Und wenn ich die Staatssicherheit einschalten muss! Das ist mein letztes Wort!“

      Claire war zu gekränkt und außer sich, um den wirren Versprecher zu bemerken. Sie spürte, wie nun der verbitterte Geist der alten Wahrheit aus seinem Kerker hervorbrach. Sie kämpfte dagegen an, doch der aufgestaute Zorn bahnte ihm den Weg und bevor sie es verhindern konnte, schrie sie ihrem Vater ins Gesicht:

      „Für deren Tod du allein die Verantwortung trägst!“

      Nun war am Licht, was ihr ihm gegenüber so viele Jahre die Kehle zugeschnürt hatte.

      Im selben Moment bereute sie es zutiefst.

      Wie in Zeitlupe sank der alte Mann auf seinen Sessel und starrte mit leeren Augen vor sich hin.

      Die Stille im Raum hallte ohrenbetäubend.

      Sekunden verstrichen.

      „Das ist es also“, sagte er schließlich mit gebrochener Stimme. „Geh. Aus meinen Augen. Lauf in dein Verderben.“ Er schüttelte den Kopf. „Wie deine Mutter.“

      Claire konnte sich nicht rühren. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wollte etwas erwidern, wollte sich entschuldigen, doch bevor sie dazu kam, wies der Vater mit einer energischen Geste Richtung Tür.

      Claire löste sich aus der Erstarrung, ging zur Tür und als sie noch einmal über ihre Schulter blickte, sah sie den alten Mann bereits wieder dem Einsatzplan um Gibraltar zugewandt. Bewegungslos blickte er auf das virtuelle Relief, gab einen Befehlscode ein und setzte damit ein Szenario in Gang, das dem Terror einmal mehr die Gewalt europäischer Einsatztruppen entgegenstellte. Auge um Auge. Als wäre kein Tag vergangen. Leise verließ Claire das Zimmer, in das sie so bald nicht wieder würde zurückkehren sollen.

      Sie trat aus dem Haus, blieb unter dem Portalbalkon stehen und blinzelte in die Nacht.

      Durch die weißen Strahlen der Scheinwerfer, die das Anwesen beleuchteten, schnitt dichter Regen, wie scharfe Klingen ein Blatt Papier.

      Sie ging weiter. Die harten Tropfen schlugen ihr ins Gesicht und vermochten nicht die Tränen wegzuschwemmen, die nun aus ihren Augen schossen – einer tiefen Quelle entspringend, die zu lange versiegelt geblieben war.

      7

      Claire blickte dem jungen Mann nach, der wie ein schwarzer Engel in der Nacht verschwunden war. Es war still auf dem Platz. Der Wind streifte lautlos über ihre Wangen und als sie sich dem kleinen, toten Körper näherte, war ihr, als hätte sie den kupfernen Geschmack des Blutes im Mund, das sich in einer Lache um den Kopf des Mädchens ausgebreitet hatte. Sie wandte sich zitternd ab und sah wieder dem jungen Mann nach.

      Nach der Ankunft in Rom, am frühen Abend, hatte sie ihre Pension aufgesucht und war, da ihr der Besitzer versichert hatte, dass in diesem Viertel keinerlei Gefahr drohte, noch zu einem kurzen Erkundungsgang aufgebrochen. In dem Moment, als der Bauer auf das kleine Mädchen eingeschlagen hatte, war sie um eine Ecke getreten und hatte unter Schock das weitere Geschehen beobachtet.

      Sie hatte gesehen, wie der junge Mann zu dem Mädchen gelaufen war, sie aufgenommen und geborgen hatte und schließlich, mit einem seltsam leuchtenden, gelösten Gesicht, in den Himmel gelächelt hatte. Wäre sie nur wenige Sekunden später auf den Platz getreten, sie hätte bestimmt angenommen, auf einen Geisteskranken gestoßen zu sein. So aber hatte er einen Eindruck in Claire hinterlassen, den sie nicht zuordnen konnte, da es sich mit nichts, was sie bislang erlebt hatte, vergleichen ließ.

      Als würde sie etwas zu ihm ziehen, setzte sie sich nun in Bewegung und lief dem Mann hinterher.

      Die Nacht war warm und schon nach wenigen Metern spürte Claire einen Schweißfilm auf der Haut. Der Himmel leuchtete zwischen den Häuserfronten herab, weder Smog noch die Lichtkuppel einer Großstadt trübten das klare Licht der Sterne. Sie lief über eine Treppe, folgte dem geraden Weg zu ein paar weiteren Stufen, dann durch eine Gasse, die sich jedoch bald darauf teilte. Der junge Mann war nirgendwo zu entdecken. Sie musste sich entscheiden, blickte in die eine, dann in die andere Richtung und für einen kurzen Moment glimmte am Ende der einen Gassen etwas auf – als hätte ein mystisches Wesen einen Lichtschweif hinter sich hergezogen, der gerade noch sichtbar war.

      Claire blinzelte die optische Täuschung weg, folgte aber dem flüchtigen Eindruck und lief in diese Richtung weiter. Beinahe wäre sie an der nächsten Nebengasse vorbeigelaufen, hätte sie nicht ein weiterer, schemenhafter Eindruck im Augenwinkel gestoppt. Sie spähte vorsichtig um die Ecke und sah den Schatten des Mannes vorne im Dunkel verschwinden. Sie rannte ihm, so leise wie möglich, weiter hinterher.

      Ohne zu wissen, warum, wollte sie nicht von ihm entdeckt werden.

      Kurz darauf stieß sie auf einen kleinen Platz, blieb jedoch, bevor sie ihn betrat, im Dunkel der Gasse stehen. Auf der gegenüberliegenden Seite legte der Mann gerade die letzten Schritte über den Platz zurück.

      Claire beobachtete fasziniert, wie der weiche Stoff des Mantels über den athletischen Körper floss. Sie wartete eine Sekunde, bis er wieder im Dunkeln verschwunden war, und folgte ihm. Plötzlich war er da. Keine zwanzig Meter entfernt und kam mit großen Schritten auf sie zu. Claire erschrak und ihre Hand schnellte vor den Mund, um den Schreckenslaut abzufangen. Mit etwas Abstand blieb er direkt gegenüber stehen. Sie sahen einander in die Augen.

      Der junge Mann blickte sie gelassen an.

      Langsam löste sich Claires Hand von ihrem Mund. Sie neigte den Kopf zur Seite und ohne dass sie wusste, woher, stieg ein Lächeln in ihr hoch und lief über ihre Augen, ihre Mundwinkel und Wangen und einen kleinen seligen Augenblick lang fiel ihr Herz aus dem Rhythmus. Der junge Mann spürte diesen Puls. Fühlte, wie, nur einen Schlag versetzt, sein Herz nun in ihren Rhythmus einstimmte.

      Die Seelen begannen ihr Gespräch.

      „Bonjour“, sagte er mit sanfter Stimme, dem Impuls folgend, es mit Französisch zu versuchen.

      „Bonjour“, hauchte Claire erstaunt, „woher …?“ Die Stimme versagte ihr. Sie musste schlucken. „Warum …?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wer sind Sie?“

      Er kam auf sie zu und sah sie weiterhin gelassen an.

      „Ajan. Mein Name ist Ajan.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Und Ihrer?“

      „Claire“, erwiderte sie langsam und legte ihre Hand in seine. Was für unglaubliche Hände. Er stand nun ganz nah vor ihr und noch immer konnte sie ihren Blick nicht von ihm lösen.

      Er nickte.

       Reiß dich zusammen!

      Sie zog ihre Hand zurück.

      „Und? Was machen wir jetzt?“, fragte sie,