Daniel Hunziker

Hokuspokus Kompetenz?


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durch Befehle von oben muss an Schulen dringend eine dialogische Beziehungskultur treten. Auf allen Stufen der Schulhierarchie soll Mitsprache für eigene Arbeits- oder Lernprozesse Sinnhaftigkeit und persönliches Engagement bewirken. Eine Gesellschaft, die lustlose, auf Minimalismus ausgerichtete Arbeitskräfte und Abarbeiter mit Fremdaufträgen beschäftigt, wird nicht das für aktuelle und künftige Herausforderungen notwendige Engagement und die erforderliche Freude am eigenen und gemeinsamen Tun vorfinden.

      Die kriselnde Finanzwirtschaft, die steigende Zahl aus psychischen Gründen arbeitsunfähiger Menschen, der immer breitere Graben zwischen Arm und Reich, das immer teurere Gesundheitswesen, die bedrohte Umwelt, schwindende Energieressourcen bei steigendem Energieverbrauch, die zunehmend unverhältnismäßige Anzahl älterer Menschen gegenüber jener der erwerbstätigen Menschen – dies sind die Herausforderungen, denen sich die heranwachsende Generation stellen muss. Es braucht immer mehr Menschen, die kreativ und konstruktiv querdenken können und die Kraft haben, neue Ideen umzusetzen. Also werden an Schulen Erfahrungsräume notwendig, die Querdenkertum zulassen und dazu animieren. Die Umsetzung eigener Ideen muss möglich werden und eine Fehlerkultur herrschen, in der das Ausprobieren von Neuem erwünscht und ein Scheitern erlaubt ist. Mehrere Hirne können mehr und kreativer denken als eines allein. Eine kooperative statt konkurrierende Arbeitsweise an Schulen verhilft Kindern und Jugendlichen zu wichtigen Erfahrungen, die sie zur konstruktiven Zusammenarbeit in ihrem Erwachsenen- und Berufsleben befähigt. Werden Schülerinnen und Schüler dazu erzogen, sich an äußeren Erfordernissen zu orientieren, verlieren sie den Zugang zu eigenen Impulsen und Ideen. Die moderne Schule braucht eine Ausgewogenheit zwischen Innen- und Außenorientierung, sodass Kinder und Jugendliche autonome Gedanken ausdrücken, Ideen umsetzen und sich dadurch zu engagierten und handlungsfähigen Persönlichkeiten entwickeln können.

      Welche Anforderungen die Gesellschaft an die Schule stellt, ist eine Sache. Was Kinder von ihrer Schule brauchen, eine ganze andere. Darum soll es im Folgenden gehen; um die Frage nach den eigentlichen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen, darum, was ihre Lernprozesse aus neurobiologischer und ihre persönliche Entwicklung in psychologischer Sicht begünstigt, was die Schule diesbezüglich leisten kann und muss.

      Der bekannte Hirnforscher und Autor Gerald Hüther fasst kurz und prägnant zusammen, was Kinder von ihrer Schule brauchen:[1]

      –Aufgaben, an denen sie wachsen können,

      –Vorbilder, an denen sie sich orientieren können, und

      –Gemeinschaften, in denen sie sich aufgehoben fühlen.

      Aufgaben, an denen Kinder wachsen können, sind eine ganz individuelle Angelegenheit. Sie liegen jenseits der Komfortzone, in der Bekanntes und Routinen perpetuiert werden. Sie gehören aber auch nicht in die Angstzone, wo Herausforderungen als bedrohlich erlebt werden. In diesen beiden Bereichen sind nicht wirklich gute Lernprozesse möglich.

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      Abb. 1: Lernzonenmodell

      Dazwischen liegt der Bereich, wo anstelle von Routinen oder sogar Langweile respektive Unterforderung oder Angst eine gesunde Neugierde tritt. In dieser Zone sind die wirklichen Herausforderungen angesiedelt. Nun verlaufen die Grenzen zwischen diesen Zonen bei jedem Menschen anders. Eine Aufgabenstellung kann für den einen in der Komfortzone liegen, während der andere in der Angstzone damit konfrontiert wird. Positive emotionale Verknüpfungen sind eine Voraussetzung für fruchtbare Lernprozesse. Eine Lehrperson kann nur im Dialog mit den Kindern und Jugendlichen herausfinden, wo die individuellen Zonengrenzen verlaufen und wer wann welche Aufgabenstellung als echte Herausforderung erlebt. Dies ist von zwei wichtigen Aspekten abhängig: der individuellen Reife und dem Vermögen, an Vorwissen andocken zu können. Die individuelle Reife – das wissen wir aus den langjährigen Studien des Schweizer Kinderarztes und Autors Remo Largo – differiert beim Schuleintritt bis zu vier, beim Schulaustritt bis zu sechs Jahren. Die Initiierung fruchtbarer Lernprozesse an Schulen ist nur sehr eingeschränkt in jahrgangshomogenen Klassen möglich, wo derselbe Lernstoff gleichzeitig allen Schülerinnen und Schülern vermittelt wird. Bis zu ihrem Schuleintritt würde niemand Kinder unabhängig ihres Alters respektive ihrer Reife mit standardisierten Aufgaben konfrontieren und Unangemessenes verlangen. Man stelle sich ein zweijähriges Kind vor, das mit seiner Mutter auf einem Spielplatz ist, und ein fünfjähriges, Fahrrad fahrendes Kind beobachtet. Es sieht ihm zu und spielt dann weiter. Ist das Kind in derselben Situation aber drei, vier Jahre älter, wird es seine Mutter auffordern, die Stützräder seines Fahrrads wegzunehmen, um selber auf zwei Rädern Fahrradfahren zu lernen. Nun ist seine Gehirnentwicklung und damit einhergehende motorische Entwicklung so weit fortgeschritten, dass es diese Herausforderung erfolgreich bewältigen kann. Maria Montessori hat dies schon vor mehr als hundert Jahren erkannt und ihre Pädagogik entsprechend ausgerichtet: Kinder lernen nur das, wozu sie reif und durch ihre Umgebung inspiriert sind.

      Diese wichtige Erkenntnis lässt sich neurobiologisch begründen. Das Gehirn ist ein Organ, das den Zustand der Kohärenz zwischen inneren Bildern, die sich aus immer wieder ähnlichen Erfahrungen zu Netzwerken von Nervenverbindungen bündeln, und der äußeren Realität sucht. Wenn beispielsweise ein siebenjähriges Kind, das auf einem kognitiven Reifestand eines fünfjährigen eingeschult wird, nun in der 1. Klasse Rechnungsaufgaben lösen soll, hat es zwar das innere Bild, erfolgreich neue Herausforderungen meistern zu können, in der äußeren Realität zeigt sich jedoch, dass es ihm aufgrund seiner Reifeentwicklung nicht gelingt, die mathematischen Anforderungen zu meistern. Um die Inkohärenz zwischen seinen inneren Vorstellungen und der äußeren Realität wieder in Kohärenz zu bringen, versucht es alles, was ihm helfen kann, die Herausforderungen zu reüssieren: Noch mehr Hausaufgaben, sich den Sachverhalt noch einmal erklären lassen, noch mehr üben, sich durch Nachhilfestunden unterstützen lassen und so weiter. Erreicht es den Zustand der Kohärenz nicht, versucht es nach ein paar Jahren nicht mehr, die äußere Realität seinem inneren Bild von sich anzupassen – das ist ihm ja missglückt –, es beginnt statt dessen, ein neues inneres Bild von sich zu kreieren, das zum äußeren Bild passt, das da lautet: Für Mathe bin ich zu blöd. Oder gar: Ich bin allgemein dumm. Wenn es nun wieder erfolglos vor einer Rechenaufgabe steht oder eine schlechte Prüfung zurückerhält, ist das zwar kein Erfolg, aber das hat es ja erwartet, und in seinem Hirn stellt sich endlich wieder der Zustand der Kohärenz ein. Die Folgen davon sind natürlich verheerend: Das Kind wird sich nicht mehr so schnell davon überzeugen lassen, dass es etwas kann, dass es gut und in der Lage ist, Herausforderungen zu meistern.

      Das aktuelle Schulsystem anerkennt die Heterogenität der Kinder in den Schulklassen mehr denn je, in der Unterrichtspraxis ist es aber sehr schwierig bis unmöglich, dem wirklich Rechnung zu tragen. Mit den Integrations- und Inklusionsbemühungen zeigt sich dies in noch verschärfterem Maße, und die Entwicklungsunterschiede fallen umso mehr ins Gewicht. Trotzdem wird an der jahrgangshomogenen Klassenführung, die seit mehr als 150 Jahren Bestand hat, festgehalten. Unterschiedlichkeit wird als belastend erlebt und die Bestrebung nach Gleichheit innerhalb einer Jahrgangsklasse angestrebt. Auf der Stufe Sek I (nach dem Lehrplan 21 der 3. Zyklus; 9. bis 11. Schuljahr) behilft man sich mit der Aufteilung der Schülerinnen und Schüler in Gruppen unterschiedlicher Anforderungsniveaus – dies in der Absicht, den individuellen Bedürfnissen einzelner Jugendlicher zumindest ein wenig nachzukommen, zugleich aber allen dieselben Inhalte (in angepasstem Umfang und nach unterschiedlichen Methoden) vermitteln zu können. In der Fachsprache ist von niveaudifferenziertem Unterricht die Rede. Dieser ist verhältnismäßig aufwendig für die Lehrpersonen und bewirkt einen relativ geringen Effekt, wenn es darum geht, Schülerinnen und Schüler mit auf sie zugeschnittenen Herausforderungen zu konfrontieren.

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      Abb. 2: Es wird trotz der zunehmenden Entwicklungsunterschiede lediglich innerhalb des Jahrgangs differenziert.

      Erstrebenswerter als die Differenzierung innerhalb von Themen wäre echtes Individualisieren, das heisst, dass die individuelle Reife und das Vorwissen