Daniel Hunziker

Hokuspokus Kompetenz?


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       Abb. 3: Es wird innerhalb der ganzen Entwicklungsspanne individualisiert.

      Kinder und Jugendliche wenden sich Menschen zu, von denen sie sich wahrgenommen und geliebt fühlen. Dies sind im entwicklungspsychologischen Sinn ihre Vorbilder, die sie unbewusst nachahmen. Soll eine Lehrperson diese Funktion erfüllen, muss zwischen ihr und dem Kind als Voraussetzung eine vertrauensvolle, gleichwürdige Beziehung bestehen. Dabei ist Kommunikation in zwei Richtungen möglich: von den Lehrpersonen ausgehend, die Unterricht gestalten, mitteilen, was sie wollen, und auch ausdrücken können, wie es ihnen geht und wie sie empfinden. In die andere Richtung kommunizieren die Kinder und Jugendlichen, die ebenfalls das Recht dazu haben sollen. Lehrpersonen müssen es ihnen zugestehen und ein aufrichtiges Interesse an der Befindlichkeit ihrer Schülerinnen und Schüler haben. So gestalten sich dialogische Beziehungen auf Vertrauensbasis. Sollen sie aufgebaut werden, müssen sich Lehrpersonen ihrerseits den Herausforderungen stellen, die die Vereinbarung einer solchen Haltung mit der Vermittlung von Inhalten, wie sie im Lehrplan vorgeschrieben sind, mit sich bringt; Konflikte sind vorprogrammiert. Eine dialogische Haltung ist auch die Voraussetzung für eine gute Lehrer-Eltern-Arbeit, für eine erfolgreiche Kommunikation zwischen Schulleitung und Lehrerschaft und zwischen Behörden und Schulleitung.

      Ein Merkmal einer für alle gesunden zwischenmenschlichen Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen ist Gleichwürdigkeit. Der Begriff stammt vom dänischen Familientherapeuten und Autor Jesper Juul. Gemeint ist damit nicht Gleichheit von Groß und Klein. Es geht nicht darum, dass ein Kind in seinem Handeln die gleichen Rechte hat wie Lehrpersonen oder Eltern. Kinder brauchen situativ Grenzen, die ihnen Sicherheit und Geborgenheit geben, damit sie innerhalb dieses Rahmens fruchtbare Erfahrungen machen können. Unter Grenzen sind also nicht starre, von oben verordnete Gesetze oder Regeln zu verstehen. Gemeint ist damit der persönliche Ausdruck von in Beziehung stehenden Erwachsenen, die in der Lage sind, ihren Kindern empathisch zu begegnen und ihnen auch die eigenen Gefühle mitzuteilen. Gleichwürdigkeit ist durch eine Subjekt- Subjekt-, nicht aber durch eine Subjekt-Objekt-Relation gegeben.

      Was sich seit einigen Jahren in vielen Familien und auch in Schulen vor allem zeigt, ist ein Beziehungsverhältnis von Erwachsenen und Kindern, das sich am ehesten als egozentrisches Nichbeziehungsverhältnis bezeichnen lässt. Noch vor fünfzig Jahren waren in unserer Gesellschaft patriarchalische Strukturen etabliert und unumstritten. Im öffentlichen Leben war der Pfarrer, Arzt und Lehrer, in der Familie der Vater, eine unangreifbare Autorität. Schulklassen wurden mit vierzig und mehr Kindern geführt, nach deren persönlichen Bedürfnissen fragte niemand. Begriffe wie Heterogenität oder Individualisierung existierten nicht. Soziologie, Psychologie, Pädagogik und andere wissenschaftliche Disziplinen trugen und tragen zu einem durch konstruktivistisches Denken, durch Gender und neuerdings auch Diversity Studies geprägten gesellschaftlichen Wandel bei. Es brechen traditionelle Muster auf, was etwa in Bezug auf Geschlechterrollen und Familienbilder am augenscheinlichsten ist. Das bringt ungezählte neue Möglichkeiten für alle, handkehrum aber auch viele Unsicherheiten mit sich, gerade auch in Erziehungsfragen. Eltern von heute sind selber in der postantiautoritären Zeit nach den 60er-Jahren aufgewachsen. Sie haben alle nur denkbaren und undenkbaren Erziehungsstile erfahren und experimentieren unter Umständen wild weiter. Es mangelt mitunter an Richtung und Klarheit, die Kinder dringend brauchen würden. Insbesondere in der Autonomie- oder Ich-Entwicklungsphase im Alter von zwei bis fünf Jahren (früher als Trotzphase bezeichnet) ist es wichtig, dass ein erwachsenes Gegenüber da ist, das sich mit seiner ganzen Persönlichkeit authentisch und klar zeigt. Wenn dieses fehlt, kann sich der Blick der Kinder auf sich selbst verzerren. Sie werden egozentrisch, entwickeln vielleicht ein Allmachtsgefühl und haben später möglicherweise Schwierigkeiten, eigene Bedürfnisse zurückzustellen – was eine gleichwürdige Beziehung zwischen Kindern respektive Jugendlichen und den Eltern trotz aller Bemühungen verunmöglicht. Dieses Phänomen ist immer häufiger in Familien mit sogenannten «Helikoptereltern» zu erkennen, wenn meist Mütter – weil die Väter oft abwesend sind – ihr eigenes Leben vergessen und stattdessen das Leben ihrer Kinder zu ihrem eigenen Projekt machen. Dasselbe gilt für die Beziehungskultur an Schulen. Bei den ganzen Anstrengungen um Individualisierung darf die Fähigkeit, sich zugunsten gemeinsamer Interessen auch unterzuordnen, nicht vergessen gehen. Nur wenn Kinder und Jugendliche wie Lehrpersonen zu sozialem und selbstverantwortlichem Handeln fähig sind, ist eine dialogische oder eben gleichwürdige Beziehungskultur möglich – und damit ein Lernprozess, der den Bedürfnissen jedes einzelnen Kindes gerecht wird.

      Zu den Vorbildern, an denen sich Kinder orientieren können, gehören Lehrpersonen, die gerne unterrichten. Denn nur wenn Begeisterung überhaupt da ist, kann der Funke auf die Kinder überspringen. Wenn es einer Lehrperson gelingt, auf allen Stufen Kinder und Jugendliche fürs Singen zu begeistern, jedoch kaum ein Kind fürs Zeichnen, ist das keine Aussage über die Lernmoral der Kinder und keine über Sinn oder Unsinn der beiden Fächer, sondern lediglich eine über die Lehrperson selbst. Wenn Schülerinnen und Schüler in einem Fach schlechte Noten, nach einem Lehrerwechsel aber plötzlich gute schreiben, so zeigt dies, wie wichtig die Überzeugung einer Lehrperson, ihre Begeisterung für die Sache sowie über ihre Unterrichtsqualität für den Lernerfolg sind (wobei dieser ja nicht unbedingt an Noten gemessen wird). Angehende Lehrpersonen, die später an einer demokratischen Schule arbeiten möchten, durchlaufen in Israel, der Hochburg dieser Bewegung, am «Institute for Democratic Education» in Tel Aviv, ein erstes Ausbildungsjahr, während dem ihre eigene Persönlichkeit im Zentrum steht. Es geht darum, herauszufinden, was sie wirklich gut können und gerne machen. Im zweiten Ausbildungsjahr steht dann die Frage im Zentrum, wie sie dies in Bezug zu den Kindern bringen können.

      Kinder lernen in sozialen Kontexten. Ab Geburt bringen sie einen Überschuss an Hirnzellen mit in ihr Leben. Dies hat die Natur so eingerichtet, damit jedes Neugeborene an jedem Ort dieser Welt in jeder möglichen Lebensgemeinschaft aufwachsen kann. Im Verlauf seines Aufwachsens verknüpfen sich jene Hirnzellen, die aktiviert und gebraucht werden, wenn der Mensch in seinem Umfeld und mit dem eigenen Körper bestimmte Erfahrungen macht. Anlagen, die nicht gebraucht werden, bilden sich zurück. So bekommt jedes Kind sein optimales Gehirn, das es in seiner äußeren und inneren Erfahrungswelt benötigt.[2] Wer im Amazonas aufwächst, kann über hundert verschiedene Grüntöne erkennen. Inuits lernen, viele verschiedene Beschaffenheiten von Schnee zu bestimmen. In unseren Breitengraden sind dies unnütze Informationen und Fähigkeiten, also verfügen wir nicht darüber. In diesem Zusammenhang ist es für die Schule bedeutsam zu wissen, dass der Mensch den Großteil aller Fertigkeiten und Fähigkeiten – man spricht von zwei Dritteln – außerhalb der Schule erwirbt. Dies haben die Erziehungswissenschaftler Andreas Helmke und Franz Emanuel Weinert 1997 in einer viel beachteten Studie festgehalten. [3] Die Schule hat keinen Einfluss auf den Kompetenzerwerb in den ersten vier, fünf Lebensjahren, nach der Einschulung nur einen ziemlich beschränkten. Das Hirn eines Fünfjährigen entspricht in seiner Struktur den Anforderungen seines unmittelbaren Umfelds, zu dem die Schule in den ersten Lebensjahren nicht zählt. Also ist es auch nicht darauf zugeschnitten. Deshalb muss es vordringliche Entwicklungsarbeit an Schulen sein, das Umfeld der Schülerinnen und Schüler in die Bildungsbemühungen miteinzubeziehen. Wichtigste Ansprechgruppe sind diesbezüglich Eltern der Kinder aus bildungsfernen und kulturell anders ausgerichteten Familien.

      Aus den Erfahrungen im Mutterleib – der engsten Verbindung zur Mutter, also zu einem anderen Menschen, sowie der rasanten Entwicklung seines eigenen Körpers, den das Kind zunehmend koordinierter gebrauchen und erleben kann – bringt der Mensch zwei Grundbedürfnisse mit auf die Welt; er hat das angeborene Bedürfnis nach Geborgenheit und nach autonomer Persönlichkeitsentwicklung. Weil sich die beiden Bedürfnisse gegenseitig bedingen, kann ein Kind unmöglich erfolgreich lernen, wenn es sich nicht in der Familien- oder Klassengemeinschaft aufgehoben und seiner selbst wert fühlt.

      Erfahren Kinder und Jugendliche auf Dauer diese Geborgenheit nicht oder können sie die an sie gestellten Aufgaben regelmäßig nicht bewältigen, verlieren sie ihren Selbstwert und die Freude am Lernen; sie sind in ihrer Integrität verletzt. Ist das einmal geschehen, wird es sehr schwierig, Kindern erfolgreich zu vermitteln, dass sie etwas können oder wertvoll sind. Ihre Reaktion folgt nach einem von drei möglichen Mustern: Sie greifen an, sie flüchten oder sie erstarren. Dies sind die abrufbaren Notfallprogramme