war vermutlich nicht der Typ für trotzige Ideen und radikale Schritte. Sie war mit 18 aus dem mazedonischen Skopje nach Berlin gekommen, hatte im Eiltempo Wirtschaft studiert und bei einer Schweizer Bank Karriere gemacht, die sie schließlich als Risikomanagerin in ihrer Londoner Niederlassung eingesetzt hatte. Nicht nur die Partys, die sie besuchte, waren brav. Ihr schwarzer Rock war nicht zu kurz und nicht zu lang, ihre Schuhe hatten genau die richtige Höhe und ihr Lachen blieb auch während der zweiten Flasche Wein professionell dezent.
Sie wohnte in der Portobello Road in Notting Hill, am nordwestlichen Ende des Hyde Park. Im Taxi dorthin verlor ihre Stimme das dunkle, weiche Timbre wieder. Als wir vor einem zweistöckigen Haus hielten, wirkte sie nervös. Ich wusste nichts über ihre privaten Verhältnisse und vermutete, dass darin der Grund lag. „Wir können auch zu mir ins Hotel fahren“, sagte ich.
Sie nickte.
Als das Taxi weiterfuhr, fing sie mit ihren Fragen an. Ob ich Geschäftsbeziehungen zu ihrer Bank unterhielte. Ob ich oder Mitglieder meiner Familie Aufsichtsratsfunktion in einer der Bank nahestehenden Firma hätte. Ob ich politisch exponiert sei, also ein Naheverhältnis zu Regierungen oder Behörden hätte. Allmählich dämmerte mir, worum es hier ging.
Im Hotelzimmer war dieses weiche Timbre noch immer nicht in ihre Stimme zurückgekehrt. Sie öffnete das Fenster, lehnte sich einen halben Meter hinaus und zündete sich eine Zigarette an. Nach drei nervösen Zügen hielt sie die Kippe zuerst unter die Wasserleitung und warf sie hinterher ins Klo. „Entschuldige bitte“, sagte sie.
Sie deutete auf das Schild an der Tür.
Smoking or permitting others to smoke is a criminal offense.
Sie hatte mit der Zigarette nicht nur selbst eine Regel überschritten, sondern mich zum Mittäter gemacht. Was ernsthaft ein Thema für sie zu sein schien. Ich sah in der Minibar nach. „Whisky?“, fragte ich.
Dann trug sie auch noch diesen hautfarbenen Slip. Als ich den sah, wurde mir klar, dass zwischen uns nichts laufen würde. Nicht an diesem Abend und nicht an einem anderen.
Zuerst das berufliche Verhör, mit dem sie sicherstellen wollte, dass unser Treffen gegen keine Verhaltensregel ihres Arbeitgebers verstieß. In Banken wie ihrer gab es so viele dieser Regeln, dass niemand alle auswendig kannte. Weshalb sich viele Mitarbeiter angewöhnt hatten, doppelt vorsichtig zu sein. Eine private Verabredung mit einem Investmentbanker, der Geschäfte mit der Bank machte, besonders wenn das ganze politische Implikationen hatte, hätte besondere Vorsicht vorausgesetzt.
Man kann nie wissen.
Es brauchte sie bloß ein missgünstiger Kollege dabei zu beobachten und einen Eintrag auf der internen Verpetz-Plattform ihrer Bank zu machen, und schon würde sie unangenehme Fragen beantworten und umfangreiche Berichte schreiben müssen.
Und nun dieser Slip. Ich betrachtete Liljana und hatte das Gefühl, dass ich im Begriff war, das System zu vögeln, und zwar nicht auf die „Fuck the System“-Art, die mir irgendwie noch Spaß gemacht hätte. Denn Liljana entsprach nicht nur mit ihrem Rock und ihren Schuhen den 38 Seiten umfassenden Bekleidungsvorschriften, die ihr Arbeitgeber einmal für seine Mitarbeiter erlassen hatte.
Bei diesen Bekleidungsvorschriften hatten sich die Verhaltensbeauftragten der Bank ordentlich ins Zeug gelegt. Männern verboten sie darin Drei-Tages-Bärte, das Tragen dicker Brieftaschen im Sakko, gefärbte Haare oder Schuhsohlen aus billigem Plastik. Frauen mussten dezent geschminkt sein, Seidenstrümpfe tragen und auf rote Büstenhalter verzichten. Frauen, die alles richtig machen wollten, mussten fleischfarbene Unterwäsche tragen.
Als ich das Kondom auspackte, dachte ich daran, dass die EU Kondome als medizinische Vorrichtung einstufte, weshalb das Europäische Komitee für Normung 1996 eine Größenordnung festgelegt hatte. Das Komitee hatte unter anderem festgelegt, dass „die Länge nicht weniger als 160 Millimeter“ betragen sollte. Es handelte sich nur um eine Empfehlung, aber ich überlegte, ob Liljana womöglich immer ein Maßband dabei hatte, um Kondome, die sie nicht selbst gekauft hatte, zu kontrollieren. Das erschien mir möglich. Sogar wahrscheinlich. „Tut mir leid, Liljana“, sagte ich. „Das wird nichts.“
Als sie weg war, las ich meine Mails. Benjamin, eifrig wie schon immer, hatte mir kurz vor acht geschrieben, als seine Kollegen bestimmt schon alle gegangen waren. „Interessantes Angebot, aber es ist leider ein Nein heraus gekommen“, schrieb er. „Ich kann da nichts machen. Ich halte mich nur an das System.“
Ich erinnerte mich an einen Firmenverkauf, bei dem Benjamin und ich im Verkaufsteam gewesen waren. Ich hatte telefoniert, einen Interessenten gefunden, war zu ihm geflogen und hatte einen Termin zwischen dem Interessenten und dem Verkäufer arrangiert. Womit ich mir eine schwere Rüge eingehandelt hatte. Der Teamleiter hatte mir erklärt, dass ich nicht die erforderlichen Powerpoint-Präsentationen angefertigt und nicht den richtigen Prozess angewandt hätte, ganz zu schweigen von meiner Frisur. Und natürlich hätte ich in meiner Position als Analyst den Kunden nicht einfach selbst anrufen dürfen. Benjamin hingegen hatte eine Belobigung bekommen. Er hatte in der Zwischenzeit zwar keine Käufer gefunden aber dafür genug Unterlagen produziert, um eine Altpapiertonne zu füllen.
Ich halte mich nur an das System.
Das war schon damals einer von Benjamins Stehsätzen gewesen. Ich hätte ihm gerne geschrieben, wer aller in der Geschichte sich schon mit diesem Satz für schreckliche oder schrecklich dumme Taten zu rechtfertigen versucht hatte, aber das hätte keinen Sinn gehabt. Stattdessen schrieb ich David, der Benjamin wie ich von früher kannte.
Sieht so aus, als hätten die Weicheier Rückenwind.
Ich wollte nicht im Hotel bleiben und rief Jonathan an, der mit unserem gemeinsamen Bekannten Huang Tsang und ein paar anderen Freunden gerade unterwegs ins Underworld war, um einen Karriereschritt zu feiern. Bis drei Uhr morgens ließen wir uns in der Bar in Camden Town von harten Bässen die Eingeweide massieren. Ich trank nur wenig, trotzdem kam mir das System, an das sich Benjamin so artig hielt und das mir eben noch den Abend vermiest hatte, bald nur noch wie die Gegenwelt von ein paar abgehobenen Bürokraten vor.
Gegen vier Uhr morgens standen wir zu fünft an der Haltestelle einer Londoner Nachtbuslinie in Westminster. Wir waren ziemlich gut aufgelegt und wollten noch zu einer Party. Ein Polizeiwagen hielt und ein Polizist kam zu uns herüber. Er machte uns darauf aufmerksam, dass wir uns an einem „enclosed public space“ befanden, was Rauchverbot bedeutete. Wir hatten uns beim Warten Zigaretten angezündet.
Die Haltestelle war ungefähr so „enclosed“ wie ein Fußballtor. Trotzdem erklärte uns der Polizist, dass gemäß der geltenden gesetzlichen Regelung alles, was zwei Wände und ein Dach hatte, „enclosed“, und eine Bushaltestelle in jedem Fall ein „public space“ sei. Rauchen war dort verboten, auch wenn niemand da war, den es störte.
Huang machte auf Tourist und wir folgten seinem Beispiel. Der Polizist wies uns trotzdem darauf hin, dass unser Verhalten ein „serious offense“ darstellte. Als der ziemlich betrunkene Jonathan ungläubig grinste, sagte der Polizist, dass wir es mit den Paragraphen für organisierte Kriminalität zu tun bekommen könnten, weil wir zu fünft seien. Wir hatten außerdem nicht nur selbst geraucht, sondern jeweils auch vier anderen das Rauchen gestattet, womit wir nach meiner Rechnung miteinander auf 25 Vergehen kamen.
Als der Polizist endlich weiter fuhr, dämmerte mir, dass wir nur knapp einer Verhaftung entgangen waren. Wäre er fünf Minuten früher gekommen, wäre er Zeuge geworden, wie ich ein Kanalgitter einem wahrscheinlich ebenfalls nicht gesetzeskonformen Zweck zuführte. Vermutlich hätte er mich wegen „pissing in public“ in Handschellen abgeführt und für mindestens zwei Wochen eingebuchtet.
Ich hatte danach keine Lust mehr auf die Party.
Faule, träge Suppe
In meinem Hotelzimmer roch es noch immer nach Liljanas so verdammt dezentem Parfum. Ich las Davids Antwort in Sachen Rückenwind für Weicheier. „Scheint ein Systemfehler zu sein“, schrieb er. „Es ist nicht nur in der Wirtschaft so. Auch in der Politik sind die Weicheier auf dem Vormarsch.“
Er schickte mir einen Link zu einem Interview mit