Ortrud Grön

Traum und Evolution


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Reifeprozess auch die Gesetze der Natur widerspiegeln. Die Schriftstellerin Ulla Hahn sagt dazu in einem Kommentar zu Gröns Standardwerk Pflück dir den Traum vom Baum der Erkenntnis: »Der Traum nutzt die Entwicklung der Evolution als Gleichnis für die Entwicklung des Menschen«.

      In ihrem neuen Buch geht es ihr vor allem um die Entschlüsselung dieser gleichnishaften bzw. metaphorischen Bedeutung der Trauminhalte. »Träume nutzen alle Bilder der Welt als Metaphern, um unser Leben zu spiegeln« (Ortrud Grön). Bei dieser Gleichsetzung von Gleichnisdenken und Metaphernbildung nimmt sie Bezug auf Aristoteles, der in seiner Rhetorik auf die besondere Eignung der Metapher verweist, um sich etwas »vor Augen zu führen«, indem man Beseeltes für Unbeseeltes verwende, um sich die Dinge in »Wirksamkeit« (energeia) zu vergegenwärtigen und ähnlich wie in der Philosophie das Ähnliche in weit auseinanderliegenden Dingen zu erkennen. Er verwendet in diesem Zusammenhang auch schon den Begriff des Gleichnisses und betont: »Es ist aber auch das Gleichnis eine Metapher; denn der Unterschied zwischen beiden ist nur gering«. Dass sich die Phänomene und Gesetze der Natur geistig nicht anders erfassen lassen als in Form von Metaphern oder Gleichnissen, spiegelt sich auch in den Lehrbüchern der Naturwissenschaften wider, bis hin zur Physik und zur Kosmologie. Wahrscheinlich ist die Fähigkeit zum Denken in Gleichnissen bzw. Metaphern evolutionär bedingt und somit ein Merkmal der geistigen Reifung des Menschen. Nach Karl Eibl besteht die evolutionäre Bedeutung dieser Fähigkeit darin, dass sie einen Beitrag zur Strukturierung unseres Denkens leistet, indem sie es uns ermöglichen, »Strukturen vertrauter Bereiche auf (noch) unvertraute Bereiche zu übertragen.« Aus dieser Perspektive lässt sich der Ansatz von Ortrud Grön gut nachvollziehen, die Traumbilder als naturbezogene, gleichnishafte bzw. metaphorische Versinnbildlichungen geistiger Strukturen und Prozesse zu verstehen, die uns auf den ersten Blick unvertraut erscheinen. Dieser Ansatz lässt sich in der praktischen Traumarbeit gut prüfen und ist nicht in gleichem Maß von komplizierten psychologischen Erklärungsmustern abhängig, wie es beispielsweise in den psychoanalytischen Theorien zur Traumsymbolik der Fall ist.

      Des Weiteren geht Ortrud Grön hier wesentlich ausführlicher als in früheren Veröffentlichungen auf den spirituellen Bezug ihrer Traumarbeit ein. Dass sie sich diesbezüglich lange im Zwiespalt befand, hat sie nie in Abrede gestellt. Stets trieb sie die Sorge um, dass sie sich damit im wissenschaftlichen Diskurs einer Kritik stellen müsste, die eine öffentliche Anerkennung ihrer Arbeit infrage stellen könnte. Jetzt erläutert sie ausführlich, weshalb es aus ihrer Sicht unsinnig wäre, ein unüberwindbares Nebeneinander von geistiger und materieller Welt zu postulieren, und betont ausdrücklich, dass es »keine Welt des Stofflichen gebe, die nicht ihre Entsprechung auf spiritueller Ebene« habe; »Der schöpferische Geist des Lebens (habe) die Natur erschaffen, damit wir die Gesetze erkennen, durch die allein wir die Schönheit von Leben auch in uns selbst erkennen können«. Die Entwicklung des Geistigen und der Natur unterliege daher denselben evolutionären Gesetzen und basiere auf denselben Grundprinzipien. In der gleichnishaften, metaphorischen Bedeutung der Traumbilder fänden beide Seiten eine gemeinsame Sprache.

      Ortrud Gröns Befürchtung, sich mit einem Bekenntnis zur Spiritualität möglicherweise ins Abseits des naturwissenschaftlichen Diskurses zu begeben, erscheint mir unbegründet. Sie zitiert selbst renommierte Philosophen und Naturwissenschaftler, die sich klar zu ihrer spirituellen Überzeugung bekennen. Aber auch in der Psychotherapie hat die Spiritualität stark an Bedeutung gewonnen, weil sie alle wichtigen Grundthemen des Lebens berührt. Henning Freund und Werner Gross haben dazu im vergangenen Jahr Ergebnisse umfangreicher Umfragen bei Ausbildungsinstituten für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Deutschland durchgeführt und festgestellt, dass die Mehrzahl der Institute der Integration den religiösen, spirituellen und existenziellen Fragen besondere Bedeutung beimisst und diese Themen auch in den Lehrplan aufgenommen hat, wobei nicht nur auf die salutogenetische Relevanz dieser Themen eingegangen wird, sondern auch ausführlich erläutert wird, wie wichtig die Berücksichtigung des religiös-weltanschaulichen Hintergrunds sowohl des Patienten als auch des Therapeuten für die psychotherapeutische Arbeit und die Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen sei.

      Ortrud Grön weist darauf hin, dass die Entwicklung zur Selbstbefreiung nie zu Ende sei. Ihre eigene Entwicklung auf diesem Weg war äußerst beschwerlich, weil er geprägt war durch starke Belastungen in der Herkunftsfamilie, schwierige Lebenssituationen und die enormen Anforderungen, die sich für sie aus der Gründung, dem Aufbau und der Leitung ihrer Herz-Kreislauf-Klinik ergaben. Dieses neue Buch markiert einen weiteren Meilenstein auf ihrem ganz persönlichen Weg zur Selbstbefreiung und liefert einen unverzichtbaren Beitrag zum tieferen Verständnis ihrer Arbeit mit Träumen.

      Prof. Dr. phil. Uwe Tewes

      Lüneburg, im Juni 2017

      Vorwort

      »Wie kommt es eigentlich, dass Sie in Ihrem Alter mit 64 Jahren und am Ende ihrer beruflichen Tätigkeit als Allgemeinarzt noch diese Weiterbildung machen?« So wurde ich von der Prüfungskommission der Bayerischen Landesärztekammer im Februar dieses Jahres nach erfolgreichem Abschluss meiner fünfjährigen Ausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie gefragt. Auf meine Antwort, »Ich möchte wissen, warum wir so ticken, wie wir ticken und was wir tun können, wenn es nicht mehr klappt«, registrierte ich zustimmendes Schmunzeln.

      Allzu oft erlebte ich mich als Hausarzt bei der Begleitung meiner Patienten in Grenzsituationen, in denen ich gerne mehr über die inneren und seelischen Zusammenhänge der Erkrankungen gewusst hätte. Dabei beschäftigten mich vor allem die Fragen, wie wir einerseits die Behandlung optimieren und andererseits wie wir unsere Patienten im Umgang mit ihrer Krankheit unterstützen können. Trotz vieler segensreicher, wissenschaftlicher und medizinischer Fortschritte in der Diagnostik und Behandlung körperlicher und psychischer Erkrankungen erkannte ich immer deutlicher, wie hochkomplex das ›Wunder Mensch‹ funktioniert und wir immer wieder vor neuen Fragen und Herausforderungen stehen, die mit unserer ›ärztlichen Kunst‹ alleine nicht zu beantworten und zu bewältigen sind.

      Meiner Neugier und meinem Bedürfnis nach tieferem Verständnis der menschlichen Entwicklung folgend, besuchte ich vor zehn Jahren mein erstes Traumseminar bei Ortrud Grön. Hier war ich sozusagen mitten im ›Operationssaal‹ der Traumarbeit und konnte miterleben, wie behutsam, aber auch klar, unmissverständlich und konsequent Ortrud Grön die Träume im Dialog mit dem Träumer bearbeitet. Es geht im Wesentlichen darum, sich mit der Gleichnissprache des Traumes vertraut zu machen. Gleichnis bedeutet hier konkret, dass es zu allen Phänomenen der materiellen Welt eine Entsprechung in unserer seelisch-geistigen Entwicklung gibt. So wie z. B. der Baum die Sonne zum Wachsen braucht, so benötigen wir in uns einen Harmonisierungsprozess, der uns die Energie für gesundes, kreatives Leben gibt. Ein knorriger Baum ohne Blätter gleicht deshalb einem anderen seelisch-geistigem Zustand in uns als ein lichtdurchfluteter Laubbaum, dessen gesunde Blätter sich dem Windspiel hingeben. Dass es sich beim Verständnis der Gleichnisse wirklich um Arbeit handelt, die erlernbar ist, und nicht um Deutungen, beeindruckte mich dermaßen, dass ich mich bei Ortrud Grön in Traumarbeit weiterbildete und mittlerweile zu ihrem Ausbildungsteam gehöre.

      Ortrud Grön befasste sich im Laufe von 50 Jahren bei der Analyse von Tausenden von Träumen mit der Evolution und ihren Gesetzmäßigkeiten. Über die konventionelle Traumanalyse mit freier Assoziation hinausgehend, hat sie die für ihre Traumarbeit spezifischen Zusammenhänge von Evolution und unserer seelisch-geistigen Entwicklung konstatiert. In den vier Basiskräften der Natur, Wasser, Luft, Erde und Sonne, liegen wertvolle Hinweise auf unser Potenzial im Fühlen, Denken, Handeln und in unserer Suche nach Harmonie. Es gilt, das Wesentliche des Traumes, seine Bilder, Szenen, Pflanzen, Tiere und alle möglichen Phänomene dieser Welt zu erkunden und zu klären. Wie in der Medizin gilt auch hier der Leitsatz: ›Man muss viel wissen, um wenig zu tun!‹ Je größer der Erfahrungsschatz eines Arztes ist, desto gezielter und rascher kann er sich an das Krankheitsbild heranarbeiten, um die korrekte Diagnose und die dazu passende Therapie zu finden. Dasselbe gilt für die Traumarbeit. Je genauer wir den Inhalt eines Gleichnisses verstehen, umso klarer wird uns gespiegelt, welchem Geist unser Denken, Fühlen und Verhalten entspricht. Der Traum konfrontiert uns mit unserer inneren Wirklichkeit, damit wir lernen, unsere subjektive Identität mit ihren Beziehungen zu unseren Mitmenschen zu erkennen. Wir kommen unseren tiefsten,