Ortrud Grön

Traum und Evolution


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Wir erleben im Traum, ob und wie wir uns mit einem »falschen Selbst« (Winnicott) durch den Alltag mogeln. In den Träumen stecken Lösungsmöglichkeiten für ein – im Sinne der Salutogenese – gesundes und zufriedenes Leben.

      Seit nun zehn Jahren intensiver Arbeit mit Träumen (den eigenen und denen vieler Patienten) entwickelte ich immer mehr Respekt und Staunen vor den Träumen und den in ihnen liegenden Hilfsangeboten für gelingendes Leben. Gleichzeitig wuchs mein Mut, mich an die Arbeit mit Träumen heranzuwagen. Als wesentliches und hilfreichstes Element der Traumarbeit nach Ortrud Grön erscheint mir ihre spezielle Kunst des am Gleichnis orientierten Fragens. Je näher wir der Bedeutung eines Gleichnisses kommen, umso präziser und feinfühliger können wir empathisch relevante Fragen stellen, mit denen der Patient selbst die für ihn stimmigen Antworten finden kann. Und ich kann sagen, dass mir diese Art von Traumarbeit aufgrund ihrer Effektivität immer mehr Freude bereitet.

      So bin ich zuversichtlich, dass Sie durch dieses Buch Gelegenheit haben werden, die Kostbarkeit der Gleichnissprache in den Träumen zu entdecken. Wie der Naturwissenschaftler die der Natur immanenten Gesetze nicht erfinden, sondern allenfalls entdecken kann, so bemüht sich Ortrud Grön, die in den Bildern und Szenen eines Traumes steckenden Inhalte als Gleichnisse unserer seelisch-geistigen Reifung zu entdecken und zu verstehen. Sie macht uns speziell in diesem Buch darauf aufmerksam, dass in der Natur alle Gesetzmäßigkeiten vorhanden sind, um zu mehr Lebendigkeit zu kommen. Die Natur lebt und führt es uns in unseren Träumen vor, wie wir lernen können, mit mehr Leichtigkeit und Zufriedenheit durch das Leben zu gehen. In Grenzsituationen unseres Lebens, aber auch bei längerer Unzufriedenheit oder unklaren Krankheitssymptomen, kann durch diese Traumarbeit bisher unbekanntes, in uns schlummerndes, individuelles, authentisches Lösungspotenzial erschlossen werden. Letztendlich geht es darum, mit sich selbst, mit unseren Mitmenschen und unserer Umwelt achtsam und mit mehr Liebe und Respekt umzugehen. Dann, so würde ich jetzt sagen, ticken wir richtig!

      Dr. med. Karl-Wilhelm Deiß

      Seeshaupt, im Juni 2017

      1. Träume, eine Lehre zum Sinn von Leben: Die Natur als Wegweiser

      Träume zeigen, dass die Prozesse in der Natur den geistigen Werdeprozessen im Menschen gleichnishaft entsprechen.

      Meinen Betrachtungen möchte ich Erkenntnisse der beiden chilenischen Biologen Maturana und Varela voranstellen, weil ihr Buch Der Baum der Erkenntnis meine Gedanken befruchtet hat. Die beiden Wissenschaftler haben mich durch ihre Studien zur Natur dazu angeregt, den biologischen Wurzeln des Erkennens nachzugehen. Die Betrachtungen von Maturana und Varela gipfeln in der Erkenntnis, dass alle Lebewesen sich dadurch charakterisieren, dass sie sich buchstäblich andauernd selbst erzeugen. Somit entwickelt jedes Lebewesen seine Identität, die ihm von Natur aus als eigene Gesetzmäßigkeit mitgegeben wurde.

      Maturana und Varela sagen dazu, jedes Lebewesen werde an einem besonderen Ort geboren, in einem Milieu, in dem es sich verwirklichen kann. Dieses Milieu unterscheidet sich in seiner strukturellen Dynamik von der Struktur des Lebewesens. Milieu und Lebewesen werden dadurch zu einer Quelle wechselseitiger Störungen. Damit das Lebewesen die Störungen kreativ bewältigen kann, muss es zu einem Wandel in seiner Struktur kommen. Das Wesentliche dabei ist, dass nicht die Störungen aus dem Milieu entscheiden, was mit dem Lebewesen geschieht, sondern dass vielmehr das Lebewesen bestimmt, zu welchem Wandel es infolge der Störung in ihm kommt. Erkennen und Tun sind die beiden Lebenskräfte, die neues Leben zeugen. Das Milieu, in das wir hineingeboren werden, regt somit die Selbsterschaffung des Menschen an. Soweit Maturana und Varela. Die individuelle Bewältigung von Störungen ist aber auch das Thema aller Träume. Die Bilder der Natur spiegeln unsere geistigen Kräfte auf diesem Weg.

      Aus einem meiner Träume:

      Träume sind dramatische Dichtungen zu unserer Schwierigkeit zu reifen. Träume sind die Werkstatt des geistigen Lebens.

      Schauen wir uns in dieser Werkstatt einmal um, welch verlässliches Handwerkszeug sie uns gibt.

      • Träume nutzen alle Bilder der Welt als Metapher, um unser Leben zu spiegeln

      • Träume beschreiben unsere emotionale Befindlichkeit

      • Träume beschreiben die Widersprüchlichkeit in unseren Gefühlen

      • Träume wecken Erinnerungen, decken dabei die Wurzeln unserer Ängste auf und beschreiben die zum Schutz gewählten Abwehrmechanismen

      • Träume sind Wegweiser zu befreiten Gefühlen und Gedanken

      • Träume zeigen den Weg zur persönlichen Freiheit und zur persönlichen schöpferischen Kraft, d. h. zu unserer Identität

      Wenn Schopenhauer sagt: »Das Leben und die Träume sind Blätter eines und des nämlichen Buches. Das Lesen im Zusammenhang heißt wirkliches Leben«, dann muss ihn diese Sicht der Träume auch erfüllt haben.

      In der Naturphilosophie ist Schelling der Philosoph, der erkannt hat, dass der Natur immer schon Geist zu Grunde lag und die Natur eine Stufenleiter ist, die sich zu immer höheren Gestaltungen ausgeweitet hat.

      In einem Traum hörte ich einmal:

      Wir träumen zwar, aber erst dann, wenn wir die Traumsprache verstehen, begreifen wir, dass wir geträumt werden.

      Das habe ich in 50 Jahren meiner Traumforschung immer neu erfahren dürfen. Darum liegt es mir am Herzen, diese tiefe Erfahrung mit anderen zu teilen. In unserer gegenwärtigen Kultur stößt die spirituelle Suche nach dem Sinn unseres Lebens häufig z.B. auf den Widerstand materieller Bedürfnisse, Gleichgültigkeit, Mangel an Beweisen und missverstandene Bildinhalte in den Religionen. Dazu träumte ich einmal:

      Ich bin in einem Raum und sehe dort plötzlich eine Schar Mücken aufsteigen. Dann nehme ich einen Strauß weißer Pfingstrosen wahr, die etwas rötlich gefärbt sind.

      Und dazu höre ich den Satz: Zwei Zeitgeister stoßen aufeinander.

      Das war damals, als ich anfing, mein erstes Buch zu schreiben. Der Traum konfrontierte mich damit, zu blutleer zu schreiben. Dafür steht der Mückenschwarm. Mücken saugen bekanntlich Blut aus uns Menschen. Ich hatte damals Angst, dem im rein materiellen Denken verhafteten Zeitgeist vielleicht nicht zu genügen, und schrieb um der Sachlichkeit Willen zu blutleer. Die weißen Pfingstrosen in der zweiten Szene mit der leicht rötlichen Färbung aber sagten mir, Pfingsten ist ein hoch spirituelles Fest und du weißt, was Spiritualität ist. Verleugne deine Liebe dazu nicht und schreibe so, wie dir ums Herz ist. Die leicht rötliche Färbung beschreibt meinen noch zögerlichen Aufbruch dahin. Und weiter heißt es dann im Traum: die zwei Zeitgeister – der rein materielle und der spirituelle Denkansatz zum Leben – müssen aufeinander stoßen, damit ein Austausch stattfindet. Nur so können beide zu einer einzigen Wahrheit verschmelzen. Ich bin überzeugt, das Gleichnis-Verständnis von Träumen auf der Basis von Naturgesetzen ist ein Weg zur Lebendigkeit von Leben, die in jedem Menschen auf individuelle Weise entsteht.

      In unserem Leben geht es um den Weg in die Wahrheit von Leben, d. h. um die lebendigen Prozesse, die uns die Natur vorlebt.

      Aus einem meiner Träume:

      Es geht um die Offenbarmachung vom Sinn allen Lebens. Wir alle sind Gottes Kinder, die sich auf den Weg in die Wahrheit begeben können und es aber auch sein lassen dürfen. Sie entscheiden sich jeder für sich allein.

      Und alle gehen den Weg, der in die Wahrheit führt, die in jedem Herzen eine Heimat hat. Jeder Mensch ist im Kern göttliche Liebe.

      Daraus aber ergibt sich für die Menschheit die Frage, wer eigentlich lernen will, sich selbst zu erlösen. Da gibt es Menschen, die haben dazu die Kraft und die Liebe, und da gibt es Menschen, die sind einfach nur unterwegs, ohne sich Gedanken um das Leben selbst machen zu wollen.

      Mit solchen Traumbotschaften beschenkt, habe ich mich voller Vertrauen in die Bildersprache der Träume vertieft und erfahren, wie der Traum das Problem des Träumers, sein Problemverhalten und Problemlösungsschritte in einer Bilderstruktur sichtbar macht.

      Zu den vielen Texten, die ich in Nächten