Detlev Vogel

Achtsamkeit in Schule und Bildung (E-Book)


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gegeben habe, jedes Wochenende tauchen zu gehen. Diese Auszeit würden sich viele der KollegenInnen nicht nehmen. Und seine besten Ideen seien ihm gekommen, wenn er nicht in der direkten Auseinandersetzung mit der Thematik steckte, sondern einen Abstand dazu hatte.

      Der Begriff der Bildung wurde im Mittelalter vom Philosophen und Theologen Meister Eckhardt (1260−1311) eingeführt, der als dessen Ziel das Erlernen von Gelassenheit sah (vgl. Bechthold-Hengelhaupt 1990). Der mittelhochdeutsche Begriff «gelāʒen» bedeutet gottergeben im Sinne von «das Schicksal annehmend», aber auch sich niederlassen (Wahrig, 1986), welches an das Niederlassen im Moment, in der Meditation erinnert.

      Gelassenheit, die aus Akzeptanz resultiert, ist aber nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit, die ein Nichtagieren impliziert. Im Sichniederlassen im Moment und Akzeptieren, dass es jetzt genau so ist, wie es ist, und nicht so, wie ich es mir wünschen würde, liegt die Basis, die adäquates Handeln ermöglichen kann. «Komme ich in eine Klasse und ziehe dort ganz nach Plan meinen Unterricht durch, ohne überhaupt zu beachten, dass die SchülerIinnen vollkommen desinteressiert und unruhig sind, kann ich mir zwar vorgaukeln, dass ich eine gute Stunde gehalten habe, aber mit der Realität hat das nichts zu tun. Die SchülerInnen werden vom Inhalt der Stunde kaum etwas abspeichern. Nehme ich die Situation von Anfang an wahr und akzeptiere den momentanen Zustand der Schülerinnen und Schüler als ‹nicht in der Lage, weiteren Stoff aufzunehmen›, dann werde ich in der Lage sein, genau mit dieser Situation umzugehen, eine aktivierende Methode an den Beginn zu stellen, eine kurze Bewegungseinheit oder auch eine Achtsamkeitsübung» (Krämer, 2019, S. 27).

      Neben der Musse und Gelassenheit gilt es eine dritte Qualität zu berücksichtigen. 1890 benannte der amerikanische Psychologe William James in seinem Werk «Principles of Psychology», die Schulung einer fokussierten Aufmerksamkeit als weitere Grundvoraussetzung von Lernen: «Das Vermögen, eine wandernde Aufmerksamkeit willentlich zurückzubringen, wieder und immer wieder, ist die eigentliche Wurzel von Urteilskraft, Charakter und Wille. Eine Erziehung, die das Vermögen ausbildet, wäre die Erziehung par exellence. Doch ist es leichter, dieses Ideal zu definieren, als praktische Anleitungen zu seiner Verwirklichung zu geben» (1910, S. 424).

      Wie sieht es nun, unter Betrachtung einigen Daten aus der Schweiz, mit diesen drei Voraussetzungen in der gegenwärtigen Situation an den Schulen aus?

      Situation von Schülerinnen und Schülern und Lehrpersonen

      Die Internationale HBSC-Studie (2014) befragte Schweizer Jugendliche im Alter von 11−15 Jahren, wie stark sie den Stress durch die Arbeit in der Schule einschätzen. Die Studie wird seit 1998 alle 4 Jahre durchgeführt und dabei konnte ein kontinuierlicher Anstieg des Levels beobachtet werden (Eichenberger et al., 2017).

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      Abbildung 2: Stress durch die Arbeit für die Schule

      Quelle: http://www.suchtschweiz.ch

      Dabei bezeichneten sich bei der zuletzt 2014 durchgeführten Befragung 12−22 Prozent als «einigermassen gestresst» und 6−12 Prozent als «sehr gestresst».

      Diese Ergebnisse werden in der Juvenir-Studie der Jacobs Foundation (2015) bestätigt, die zuletzt 2014 die 15- bis 21-Jährigen befragte: «Insgesamt ist Stress also für knapp die Hälfte (46 Prozent) der jungen Frauen und Männer in der Schweiz in den Jugendjahren prägend. Nur 14 Prozent der Befragten geben an, sich nie oder selten gestresst zu fühlen» (Ebd., S. 8). Gefragt nach den Hauptbelastungen liegt die Schule klar an erster Stelle, sogar vor den «Anforderungen» von verschiedenen Seiten. Interessant ist hierbei auch die Aufteilung nach Geschlechtern, wobei die Mädchen deutlich stärker belastet sind (66 Prozent weiblich, 45 Prozent männlich). Die Folge von permanenten Stresserfahrungen sind psychische oder psychosomatische Erkrankungen. Nun der Blick nach Deutschland: Fast jedes zweite Kind zeigt Symptome von Schulstress wie Kopf- oder Magenschmerzen, Schlafstörungen, fast jede/-r dritte Schüler/-in leidet unter depressiven Stimmungen, wie eine Befragung von 11- bis 18-Jährigen der DAK (2011) zeigt. Hierbei ist der Anteil der männlichen (29 Prozent) und weiblichen Betroffenen (29 Prozent) ausgeglichen.

      Ein weiteres besorgniserregendes Feld sind die Zahlen des Verdrängungskonsums durch die gesellschaftlich anerkannte Droge Nr. 1: des Alkohols. Laut einer DAK-Studie (2010) liegt das Einstiegsalter bei 11 Jahren, wobei die Jungen tendenziell höhere Werte zeigen als die Mädchen. Geben 10 Prozent der 12-jährigen Jungen an, wöchentlich zu trinken, sind es mit 15 Jahren schon 44 Prozent und ab 16 Jahren 70 Prozent. Dabei berichten 50 Prozent, sich an «monatlichen Rauschtrinken» zu beteiligen. Entgegen häufiger Vorurteile ist der Anteil in beiden Kategorien an Gymnasien höher als an Haupt- und Realschulen. «Ein Risikofaktor dafür ist offenbar der erlebte Schulstress», erklärt Projektmanagerin Silke Rupprecht von der Leuphana Universität Lüneburg. An Gymnasien geben 46 Prozent der regelmässigen Alkoholkonsumenten an, dass sie unter einem «hohen Leistungsdruck» stehen (DAK 2010).

      Gefragt nach den Gründen für den Stress geben die Schülerinnen und Schüler neben dem äusseren Grund «Zeitdruck» (41 Prozent) hauptsächlich ihren «eigenen inneren Druck» (40 Prozent) an: «‹Auch unter Druck möchte ich alles gut machen› (41 Prozent)» (Juvenir, 2015). Dagegen fällt der Druck durch die Erwartungshaltung der Eltern relativ gering aus (16 Prozent). Das ist ein immer häufiger zu beobachtendes Phänomen. Der Hamburger Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Michael Schulte Markwort beschreibt in seinem Buch «Burnout-Kids», wie immer mehr Eltern «hochgradig besorgt und ratlos» einem Leistungsdruck gegenüberstehen, den sie selbst nicht explizit setzen (2015, S. 11).

      Es ist unsere Gesellschaft, die einen immanenten Leistungsdruck vorgibt, so dass die Schülerinnen und Schüler den Druck bereits internalisiert haben und der «innere Antreiber» die Führung übernimmt. Die Beschleunigung der Gesellschaft – wie sie u. a. Hartmut von Rosa (2011) beschreibt – führt zu immer mehr Ängsten, den Anforderungen nicht standhalten zu können, aus dem sich immer schneller drehenden System «zu fliegen». Ebenfalls in der Juvenir-Studie (2015) geben 40 Prozent der Befragten an, Angst um ihre berufliche Zukunft zu haben. Die Auswirkungen spüren Lehrpersonen in ihrem täglichen Umfeld. So berichtet die Schulleiterin eines Leipziger Gymnasiums in einem Interview: «Ich erlebe jetzt oft Kinder, die weinen, wenn sie eine Zwei haben, traurig sind, denken, dass sie nichts können, und man denkt, wie kann man den Kindern irgendwie helfen, dass sie da nicht solchen Druck haben» (in Krämer 2019, S. 111). Und sie ergänzt mit derselben Schlussfolgerung, dass sie Kinder sieht, «die gar nicht wissen, wie man sich einfach mal hinsetzt und relaxt. Aber ich kenne das, ich kann das ja auch nicht! Aber dass das Kinder schon nicht wissen, fand ich total verrückt. Ich denke schon, dass dieses Verhalten mit der Schnelllebigkeit der Gesellschaft zu tun hat, dass die Eltern auch gestresster sind, und dies auf Ihre Kinder ganz leicht übertragen.»

      Wie ein ironischer Kommentar dazu wirkt ein Zitat Jean Pauls: «Es hat keinen Sinn, die Kinder zu erziehen, sie machen einem doch alles nach.»

      Aus diesen Aussagen ergibt sich eine Forderung an die Lehrerschaft, denn wie können Kinder und Jugendliche gesundheitsförderndes und selbstfürsorgliches Verhalten lernen, wenn nicht durch das Beobachten der Personen, die nach dem Elternhaus die größte Wirkung auf ihre Psyche haben: ihre Lehrpersonen. Das Erlernen dieser grundsätzlichen sozialen Kompetenzen erfolgt, wie es die Hirnforschung bestätigt hat, durch Beobachtung und Nachahmung und nicht durch einen theoretischen Diskurs (vgl. Bauer, 2010, S. 6−9). Ralph Waldo Emerson bringt es auf den Punkt: «What you are speaks so loudly that I can’t hear what you say you are» (2017). Daher ist es spannend, sich zu den benannten Aspekten das LehrerInnenverhalten anzuschauen, denn wie es schon Einstein sagte: «Es gibt keine andere vernünftige Erziehung, als Vorbild zu sein.»

      Um nicht das breite Feld der Lehrerinnen- und Lehrergesundheit komplett aufzurollen, hier nur einige ausgewählte Zahlen. In der Schweizer Nationalfondstudie (Kunz et al., 2015) der Fachhochschule Nordwestschweiz gab jeder fünfte Pädagoge an, «ständig überfordert» zu sein, jeder dritte gab an, einmal im Monat an «depressiven Stimmungen zu leiden» und wird als Burnout-gefährdet eingestuft. Verschiedene Gründe werden in der Studie für die hohe Belastung der Lehrpersonen verantwortlich gemacht: eine hohe Arbeitsmenge,