Unterrichtspraxis in der Schule, aussehen könnten.
2.3 Weiterentwicklung der Schulentwicklung
Schulentwicklung als Organisationsentwicklung
Büeler (2005) bezeichnet die zweite Hälfte der 1990er-Jahre als «das goldene Zeitalter der Schulentwicklung der Einzelschule» (ebd., S. 15). Der Begriff verdankt seine Entstehung vor allem dem «semantischen Nachbarbegriff Organisationsentwicklung» (ebd., S. 16) und wurde in diesem engen Sinn häufig auch entsprechend definiert. So schlagen zum Beispiel Vögeli-Mantovani und Grossenbacher (1993) nach einer eingehenden Literaturanalyse vor, Schulentwicklung als Organisationsentwicklung in Schulen zu verstehen. Büeler (2005) folgt mehr als zehn Jahre später nach einer kurzen Rekapitulation der Begriffsgeschichte diesem Verständnis, weil die Attraktivität dieses Ansatzes nebst dem Anschluss an die Entstehungsgeschichte insbesondere auch darin liege, «dass er als Gegenbegriff zu Schulreformen verwendet werden kann, die von aussen respektive von oben gesteuert werden» (ebd., S. 16).
In der Folge haben Schulentwicklungstätigkeiten zugenommen. Ein Indiz dafür ist die Erfahrung in den 1990er-Jahren, dass viele Schulen begonnen haben, Leitbilder zu entwerfen, mit dem Ziel, die Grundsätze, Normen und Ideale der eigenen Schule als eine Art Kompass für die eigene Tätigkeit festzuschreiben. Dabei wurden sie häufig nicht von inhaltlichen Experten begleitet, sondern von externen Beratenden, die sich auf eine Prozessrolle beschränken sollten (vgl. Dalin & Rolff, 1990, S. 67). Zu diesen ersten Praxen der Schulentwicklung können auch Massnahmen der Teamentwicklung und Schulprogrammarbeit gezählt werden. Aber auch die Forschungstätigkeit hat diesbezüglich zugenommen. Federführend dabei war im deutschsprachigen Raum das von Hans-Günter Rolff gegründete Institut für Schulentwicklungsforschung in Dortmund.
Das «erste einschlägige Buch im deutschen Sprachraum» (Technische Universität Dortmund, 2015), «Institutionelles Schulentwicklungs-Programm» (Dalin & Rolff, 1990), beschreibt in Anlehnung an skandinavische Praxen Schulentwicklung als systematisch geplanten und geführten Prozess von Veränderungen oder Neuerungen mit dem Ziel, «die ‹Problemlösefähigkeit von Schule› zu erweitern, das heisst die Fähigkeit der Schule, intern oder von aussen kommenden neuen Anforderungen in der Weise zu begegnen, dass sie die tatsächlichen Bedürfnisse treffen und die Entwicklungskapazität der Schule stärken» (ebd., S. 34). Wesentlich bei diesem – historisch gesehen – Gegenkonzept gegenüber den Top-down-Schulreformen sind die folgenden Aspekte:
systematischer Prozess: systematisch, weil er geplant und geführt wird, und prozessual, weil die Entwicklung der Qualität der Schule in Anlehnung an Konzepte der Organisationsentwicklung bestimmte Phasen aufweist;
kooperativ, weil «Veränderungen ohne Partizipation auf breiter Basis nicht möglich» (ebd., S. 35) sind;
die Institutionalisierung der Veränderung, damit ein Schulentwicklungsprojekt längerfristig wirkt: «[…] die neue Praxis [muss] institutionalisiert werden. Institutionalisierung bedeutet hier Veralltäglichung von Neuerungen» (ebd., S. 216). Das bedeutet aber auch, ein Unterstützungssystem als festen Bestandteil der Schulorganisation aufzubauen, weil eine Veränderung zu implementieren und zu institutionalisieren umso schwieriger wird, «je näher sie der Ebene des unterrichtlichen Handelns kommt» (ebd., S. 217).
Der Begriff «Schulentwicklung» hat auch eine Ausweitung erfahren und dient dabei «als Sammelkategorie für verschiedenste Innovationsprozesse auf der Meso- wie auch Mikroebene des Schulsystems» (Oelkers & Reusser, 2008, S. 402). Ein Unterscheidungsmerkmal ist der Ansatzpunkt der Entwicklung. Bastian (2007) zum Beispiel unterscheidet historisch deren zwei, nämlich einerseits Programme, die in Anlehnung an Konzepte der Organisationsentwicklung die Schule als soziale Organisation, ihre Strukturen und Prozesse weiterentwickeln wollen, wie es Dalin und Rolff (1990) beabsichtigten. Am Ende des Entwicklungsprozesses soll letztlich auch der Unterricht profitieren. Auf der anderen Seite stehen Konzepte, die an der Veränderung des Unterrichts ansetzen, indem die Lehrpersonen systematisch bei Veränderungsprozessen unterstützt werden. Bastian (2007, S. 23) bezeichnet sie als «pädagogische Schulentwicklung».
Die Konzepte haben sich angenähert. Rolff (2006) als einer der Protagonisten des ersten Ansatzes gibt zu, dass er die Bedeutung der Unterrichtsentwicklung anfänglich unterschätzt habe, während auf der anderen Seite Bastian (2007) anerkennt, dass Unterrichtsentwicklung an Grenzen stösst: «an Grenzen des Stundenplans, des Zeittakts, der Kooperationsbereitschaft, der Fähigkeiten der Schüler und der eigenen Fähigkeiten – an individuelle und institutionelle Grenzen» (ebd., S. 25), weshalb Unterrichtsentwicklung die Entwicklung anderer Aspekte in der Schule braucht. In der angelsächsischen Diskussion wird schon früher die Verbesserung des Schulerfolgs der Schülerinnen und Schüler als das «ultimate aim» von Schulentwicklung (van Velzen, 1985, S. 48; zitiert nach Hopkins, 1989, S. 185) herausgestellt sowie die wechselseitige Bedingtheit von Veränderungen der Lernbedingungen der Schülerinnen und Schüler und der Veränderung der Schule als Organisation betont (Hopkins, 1989). So wird Schulentwicklung als doppelte Strategie verstanden: «[…] as a strategy for educational change that enhances student outcomes as well as strengthening the school’s capacity for managing change» (Hopkins, Ainscow & West, 1994, S. 3).
Fokusverschiebung auf Unterricht und Lehrperson
Auch die eher dürftige Befundlage zur Wirksamkeit von Massnahmen, welche vor allem auf die organisatorische Entwicklung von Schulen zielen, hat dazu geführt, den Fokus vermehrt auf unterrichtliche Innovation zu legen (Oelkers & Reusser, 2008, S. 402). Oelkers und Reusser meinen, dass mittlerweile Konsens darüber besteht, «dass es sich bei Massnahmen, die der Weiterentwicklung des Unterrichts dienen, um den Kern der Schulentwicklung handelt» (ebd.), auch weil der Unterricht als das Kerngeschäft der Lehrpersonen angesehen werden kann (Meyer, 2015; Klippert, 2013). Damit rückte der Begriff der Unterrichtsentwicklung in den Vordergrund.
Die empirische Begründung für diesen Fokus war eigentlich schon in den Ergebnissen der früheren Schuleffektivitätsstudien angelegt gewesen: Nicht nur spielen Strukturmerkmale der Schulen für den Schulerfolg eine kleinere Rolle als Prozessmerkmale wie die neun erwähnten Merkmale von Teddlie und Stringfield (2007; siehe Kapitel 2.1), dabei ist auch der Effekt des Unterrichts am grössten (ebd.; Creemers, 2007; Scheerens & Bosker, 1997).
Die grossen internationalen Vergleichsstudien wie TIMSS4 und PISA zeigten, dass sich nicht nur Schulsysteme, Schulen und die Leistungen der Schülerinnen und Schüler erheblich unterscheiden. In der Öffentlichkeit wurde wahrgenommen, dass insbesondere PISA die Ergebnisse schulischer Bildung, verstanden als «Kompetenzen», erhebt. Dahinter steht ein funktionales Bildungsverständnis, das den Schwerpunkt auf die Anwendung von Kenntnissen in unterschiedlichen Kontexten legt (Bauer & Ramseier, 2011). Zur Diskussion stand verstärkt die Erwartung, dass Schülerinnen und Schüler das im Unterricht erworbene Wissen und Können miteinander vernetzen und in unterschiedlichen alltagsorientierten Problemzusammenhängen anwenden können sollten. Zudem zeigten die Studien auch Erklärungsansätze für die Ergebnisse auf und bestätigten, dass die Unterschiede in den Leistungen der Schülerinnen und Schüler viel stärker innerhalb der Schulen als zwischen den Schulen ausfallen und auch mit dem Unterricht zusammenhängen (Hattie, 2015). Die Studien strukturierten die öffentliche und die professionelle Aufmerksamkeit neu (Baumert, Klieme & Bos, 2001). Sie hatten Einfluss auf nationale Bildungspolitiken der Länder (Breakspear, 2012; Lewis & Lingard, 2015) und verschiedene Bildungsreformen, in der Schweiz etwa auf die Harmonisierung der Volksschulbildung in den Kantonen und das nationale Bildungsmonitoring (Criblez, 2008; vgl. auch Bieber & Martens, 2011). Zudem bestärkten sie den Blick auf die Bedeutung des Kompetenzerwerbs der Schülerinnen und Schüler und des dazu notwendigen Unterrichts. Auch die Unterrichtsforschung und dabei ein vermehrtes Zusammengehen von fachdidaktischer, erziehungswissenschaftlicher und pädagogisch-psychologischer Forschung wurde befördert. Bis in die 1990er-Jahre dominierte eine eher psychologische Unterrichtsforschung, welche das Fach oder Themengebiete, in denen Wissen generiert wird, meist ignorierte. In den vergangenen Jahren hat sich die Einsicht durchgesetzt, «dass empirische Unterrichtsforschung als enge Kooperation zwischen Fachdidaktik, Erziehungswissenschaft und Psychologie durchgeführt werden sollte» (Köller, 2014, S. 112).