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Gestalttherapie in der klinischen Praxis


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selbst, innerhalb der Sitzung, »einsetzen« und »sich darauf einlassen« kann.

      Und hier kommen wir zum zweiten Kritikpunkt, dem des hermeneutischen Hintergrunds. Obwohl das Konzept des Essays hervorragend ist, fehlt eine angemessene Berücksichtigung eines spezifischen und wichtigen Aspekts der gestalttherapeutischen Vision vom therapeutischen Prozess. Wenn wir Erleben »denken« und dicht am Erleben sein sollen, dann müssen wir zunächst einräumen, dass die Substanz, aus der das Erleben besteht, die Zeit ist. Ein flexibles Modell zur Verfügung zu haben bedeutet, mit einem diagnostischen Instrument arbeiten zu können, das der TherapeutIn hilft, Sprunghaftigkeit und Blockaden von Erleben im Rahmen eines zeitlichen Verlaufs zu interpretieren. Daher kann sie sich bewusst und kreativ innerhalb der verschiedenen Momente einer therapeutischen Reise verorten. Wenn die beziehungsorientierte und die kontextuelle Perspektive, die der Essay beleuchtet, für eine gestalttherapeutische Diagnose unverzichtbar sind, müssen wir auch darauf hinweisen, dass es keine gestalttherapeutische Diagnose ohne eine passende Theorie der Temporalisierung geben kann (und meiner Meinung nach ohne eine fundierte Interpretation des Kontexts im Hinblick auf Figuren/Hintergrund).

      Meiner Ansicht nach sind dies die beiden Grenzen, auf die die theoretische Forschung zur Diagnose in der Gestalttherapie ausgerichtet sein muss, und dieser Essay stellt einen wichtigen Beitrag dar. Kurz gesagt, unerledigte Geschäfte. Es könnte nicht anders sein …

      Margherita Spagnuolo Lobb

      Wir dagegen versuchen, alle Erlebnisse zu erfassen und miteinander zu verknüpfen – ob nun körperliche oder seelische, sensorische, emotionale oder sprachliche –, denn das deutliche Figur/Hintergund-Verhältnis geht aus dem einheitlichen Zusammenwirken von »Körper«, »Seele« und »Umwelt« hervor (all diese Ausdrücke sind Abstraktionen).

      (Perls / Hefferline / Goodman, 2006, Band 2, 123)

      1. Die Frage der Entwicklungs-Theorie in der Gestalttherapie

      Das Hier-und-Jetzt, das die PatientIn auf körperlicher Ebene erlebt, ist eine kreative Gestalt. Sie fasst die in vorhergehenden Kontakten integrierten körperlichen und sozialen Beziehungsschemata (das Being-with durch den Körper und durch die soziale Definition des Selbst) und die Intentionalitäten zusammen, die den aktuellen Kontakt zwischen PatientIn und TherapeutIn unterstützen. Es ist also von grundlegender Bedeutung, sich auf eine Entwicklungsperspektive zu beziehen, um die Entwicklung der Kontaktmodalitäten mit dem/der signifikanten Anderen und der Umwelt im Allgemeinen zu verstehen.

      Bis in die 1980er-Jahre betrachtete es die internationale Gestaltgemeinschaft jedoch als zwecklos, sich auf eine Entwicklungstheorie zu beziehen, da die psychotherapeutische Arbeit im Hier-und-Jetzt stattfindet. Die Verwendung theoretischer Schemata (diagnostischer und entwicklungsbezogener) wurde als Absurdität angesehen, als eine De-Fokussierung (seitens der TherapeutIn) des aktuellen Erlebens im Kontakt zugunsten einer Deutung der Blockaden der Vergangenheit. Nach dem gestalttherapeutischen Verständnis dieser Zeit wäre das ein Schritt zurück zur Notwendigkeit der Auslegung und damit zu fertigen Interpretationen der PatientIn gewesen. Solche Interpretationen hätten die Unmöglichkeit des lebendigen, aktuellen Kontaktes impliziert, den die PatientIn mit der TherapeutIn und ihrer Umwelt aufbaut.

      In den 1980er-Jahren erzwang dann der soziale Wandel eine Weiterentwicklung dieser humanistischen Konstrukte: Durch die Zunahme schwerer Störungen entstand die Notwendigkeit einer entwicklungsbezogenen Perspektive sowie des Einsatzes von diagnostischen Schlüsseln. Außerdem erkannte man, dass die Lebendigkeit des Kontakts zwischen TherapeutIn und PatientIn eher verbessert als verschlechtert wird, wenn man sie durch die Linse eines theoretischen Bezugsrahmens betrachtet, der im Einklang mit der Methode steht.

      Seitdem hat sich eine gestalttherapeutische Denkweise bezüglich der menschlichen Entwicklung herausgebildet. Die Herausforderung für diesen Ansatz besteht jedoch auch heute noch in der Nutzung eines theoretischen Bezugsrahmens, der von dem Erleben der PatientIn und der TherapeutIn im Hier-und-Jetzt der therapeutischen Situation ausgeht. Gleichzeitig haben sich auch die Entwicklungstheorien grundlegend verändert.

      Von der »Entwicklungspsychologie«, die den Übergang von der Kindheit (unreif und sich verändernd) zum Erwachsensein (reif und ausgeglichen, ohne weitere Veränderungen) untersuchte, gab es in den 1980er-Jahren eine Bewegung hin zum Konzept der »Psychologie des Lebenszyklus«. Sie geht davon aus, dass alle Phasen des menschlichen Lebens von Wandel gekennzeichnet sind. Sowohl Faktoren, die dem Menschen innewohnen (ihn reifen lassen), als auch Faktoren, die von außen auf ihn einwirken (z. B. umweltbezogene Faktoren), schaffen Bedingungen für die Destrukturierung existierender Gleichgewichte und für den Übergang zu neuen Synthesen, die die Ausführung weiterer Entwicklungsaufgaben ermöglichen (wie in Eriksons Prinzip der epigenetischen Stufen, 1982). Das Konzept des Lebenszyklus und das Konzept der epigenetischen Landkarte sind mit der Vorstellung verknüpft, dass das Leben oder jeder beliebige Entwicklungsweg aus Phasen besteht. Sie sind von Bedürfnissen, Fähigkeiten, speziellen existenziellen Themen und Aufgaben gekennzeichnet, die zu einer weiteren Reifung führen. Die auf diese Weise charakterisierten Phasen sind durch einen fortlaufenden und kumulativen Prozess miteinander verbunden, der schlussendlich zur Beziehungsreife führt, mit anderen Worten: zur Fähigkeit, funktionale Kontakte aufzubauen, die nährend für das Individuum selbst und für die Gruppe (oder für die Umwelt im Allgemeinen) sind. Diese Sichtweise der Entwicklung hat Daniel Stern in seinen Studien (1985) gründlich analysiert (vgl. Carroll 1999; Staemmler 2013; Wirth 2012). In Anlehnung an Sterns Entwicklungskonzept nenne ich die gestalttherapeutische Perspektive die »polyphone Entwicklung von Bereichen«, die von der Idee der phasenweisen Struktur abweicht. Während die Phasen kumulativ wirken, sodass jede Phase die Kompetenzen der vorangegangenen Phasen voraussetzt, geht das Konzept der Bereiche von klar differenzierten Kompetenzen aus. Sie entwickeln sich im Laufe des gesamten Lebens kontinuierlich weiter und interagieren, was die Harmonie (wir könnten auch sagen: die Gestalt) der aktuellen Kompetenzen eines Menschen fördert (s. Abb. 2).

      Wenn wir den Beziehungsprozess einer PatientIn und seine Entwicklung betrachten und dabei im Einklang mit der gestalttherapeutischen Epistemologie bleiben wollen, erklärt es sich in Anbetracht dieser Prämissen von selbst, dass wir nicht darüber nachdenken, ob in einem bestimmten Stadium bestimmte entwicklungsbezogene Aufgaben erfüllt sind. Im Vorhinein Entwicklungsziele zu formulieren, birgt das Risiko einer externen Beurteilung des Erlebens des Subjekts. Wenn wir in Entwicklungszielen denken, sind wir gezwungen, unsere PatientInnen an diesen Zielen zu messen. Wir müssen verhindern, dass die Kontaktmodalitäten, auf denen unsere Theorie basiert (Introjektion, Projektion usw.) zu Stadien werden, die es zum Erlangen der Beziehungsreife eines nach dem anderen zu erreichen gilt. Vielmehr sollte man sie als Bereiche betrachten. Der Bereich bezeichnet eine beziehungsorientierte Fähigkeit, die im Hintergrund des Erlebens präsent ist und die an einem bestimmten Punkt der menschlichen Entwicklung zur Figur wird und dabei mit anderen Fähigkeiten oder Bereichen interagiert.

      2. Diachrone und synchrone Ebenen in der Psychopathologie

      Meiner Meinung nach muss ein beziehungsorientierter prozeduraler und phänomenologischer Ansatz wie die Gestalttherapie nicht nur die »gegebene« Situation betrachten – und damit den Hintergrund der entwicklungsbezogenen Erfahrung einer PatientIn (diachrone Ebene) – sondern auch die Figur des aktuellen Unwohlseins und der Kontaktintentionalität, die sie zum Abschluss bringen möchte (synchrone Ebene).

      Nehmen wir den Fall eines Patienten, der sich als Kind immer übergab, wenn er morgens zur Schule gehen sollte. Er hielt die Anspannung nicht aus, die er in diesem Augenblick des Tages in der Familie spürte. Und er bekam keine Unterstützung bei dem, was ihm bevorstand: aus dem Haus und zur Schule zu gehen und dort neue und eventuell belastende Erfahrungen zu machen. Dieses Kind ist inzwischen erwachsen und der Erwachsene, zu dem sich dieses Kind entwickelt hat, kommt zur Therapie, um die Probleme zu bewältigen, die er in seiner aktuellen Familie hat. Die Figur ist das Verlassen des Hauses in einem Moment, in dem er eine Anspannung spürt, die er meint nicht aushalten zu können. Und sie ist der Wunsch, die Übelkeit zu unterdrücken und