und auch Suizidgedanken tauchen auf. Mit ihm erlebt der Therapeut Schwere, Hilflosigkeit und eine Art von Irritation, ein Gefühl wie »Oh nein, es ist wieder da!« Als der Therapeut sich seines Erlebens bewusst wird, sieht er, dass es ihm wertvolle Informationen liefert. Ja, er hat diesen Zustand mit dem Patienten schon einige Male erlebt. Das letzte Mal war vor ungefähr einem Jahr. In diesem Moment sammelt der Therapeut die Information, die ihm seine gegenwärtige Achtsamkeit, seine lange Erfahrung mit dem Patienten und seine aktuelle Beobachtung des Patienten liefern. Eine psychiatrische Kategorie einer rezidivierenden, saisonal bedingten Depression kommt ihm in den Sinn. Er überlegt, was er darüber weiß, und wägt ab, wie relevant dieses Wissen für die aktuelle Situation mit dem Patienten ist. Er erinnert sich, was ihm in ähnlichen Situationen in der Vergangenheit geholfen hat: Ansprüche und Erwartungen an sich selbst und den Patienten auf ein Minimum herunterzuschrauben, die Situation mit einem Psychiaterkollegen zu diskutieren; und vor allem dranzubleiben, weiter in Kontakt mit dem Patienten zu sein. Eine depressive Phase hört auch irgendwann wieder auf!
Eine extrinsische Diagnose hat ihm hier als Anker gedient, als »Dritter« in seiner Beziehung zu dem Patienten. Sie hat dem Therapeuten geholfen, ruhig zu werden und geerdet und konzentriert zu bleiben. Er kann wieder voll anwesend und für einen guten Kontakt mit dem Patienten verfügbar sein.
3.6. Es gibt verschiedene Landkarten
Wie wir schon mehrfach betont haben, bewegt sich der laufende Prozess einer Diagnosestellung auf den Horizont des beziehungsorientierten Paradigmas zu, wo er ko-kreierte Phänomene und nicht das Individuum betrifft. Diese Orientierung ist wesentlich für einen gestalttherapeutischen Ansatz. In ihrer täglichen Praxis nutzen GestalttherapeutInnen jedoch auch diagnostische Werkzeuge, die in anderen Paradigmen verwurzelt sind. Wie soll man mit diesem Dilemma umgehen?
Stellen Sie sich vor, Sie gehen in einen Park und bemerken eine Skulptur. Sie sehen sie an, befühlen und erkunden sie. Dann gehen Sie um sie herum und sehen sie sich von einer anderen Stelle aus an. Es ist dieselbe Skulptur und trotzdem nehmen Sie sie jetzt anders wahr. Dann verändern Sie ihre Position noch einmal und sehen sich die Skulptur aus einer anderen Perspektive an. Eine Perspektive ist nicht genug, um der Skulptur gerecht zu werden. Diese Metapher wird hier für eine klinische Situation und Diagnose verwendet. Es gibt eine epistemologische Meinungsverschiedenheit zwischen medizinischen und gestalttherapeutischen Ansätzen, die jedoch nicht zwangsläufig zu einem unproduktiven Konflikt führt, wie eine Aussage ähnlich der folgenden es täte: »Man muss die Skulptur aus dieser Perspektive betrachten!« Stattdessen kann die BeobachterIn sich ihres Standortes stärker bewusst sein und erkunden, welche Perspektiven sich von anderen Standorten aus ergeben. Was wir sehen, hängt von unserer Beobachtungsposition ab. Unterschiedliche Perspektiven führen zu unterschiedlichen Landkarten und unterschiedlichen Diagnosen derselben klinischen Situation.16
Die Begegnung mit einer PatientIn bedeutet für die TherapeutIn ein komplexes Erleben. Sie kann eine multidimensionale Diagnose erstellen, indem sie unterschiedliche Betrachtungsweisen nutzt und die Perspektiven flexibel verändert, aus denen sie die therapeutische Situation beobachtet. Es ist wichtig, dass diese Perspektiven nicht hierarchisch bewertet werden, sodass eine als höher oder besser gilt als eine andere. Die Perspektiven stehen nicht in gegenseitiger Konkurrenz, sondern ergänzen sich vielmehr und bilden gemeinsam eine multidimensionale Diagnose. Eine Diagnose muss multidimensional sein, um zuverlässig durch das komplexe Gebiet zu führen, das eine TherapeutIn bei der Begegnung mit einer PatientIn betritt. Das Stellen einer multidimensionalen Diagnose reduziert das Risiko, dass wir unser eigenes Konzept behandeln, anstatt uns voll auf einen lebenden Menschen einzulassen. Sie befähigt uns, den Bedürfnissen der PatientIn im Hinblick auf verschiedene Dimensionen ihres Lebens zuzuhören (entwicklungsorientiert, beziehungsorientiert, spirituell, psychosomatisch usw.) und fördert guten Kontakt.
Der Inhalt einer Diagnose hängt von der Perspektive ab, aus der die TherapeutIn die klinische Situation beobachtet. Es ist von größter Wichtigkeit, dass die TherapeutIn erkennt, welche Perspektive sie in einem bestimmten Moment einnimmt. Sollte sie die unterschiedlichen Perspektiven miteinander verwechseln, verlieren sie ihren Nutzen für die Diagnosestellung.
Bei der Diagnosestellung bieten sich für GestalttherapeutInnen drei unterschiedliche Perspektiven an (siehe Abbildung 1). Diese drei Perspektiven tauchen oft in der Literatur zur Gestalttherapie auf, außerdem greifen GestalttherapeutInnen bei der Schilderung ihrer klinischen Arbeit häufig darauf zurück. Dennoch werden sie meist nicht deutlich genug voneinander abgegrenzt, was zu einer Verwirrung der theoretischen Grundlagen führt und ihren Nutzen für die tägliche psychotherapeutische Praxis einschränkt. Wir wollen hier ein Werkzeug vorstellen, mit dessen Hilfe sich diese drei Möglichkeiten der Konzeptualisierung einer Situation erkennen und umsetzen lassen: die »ko-kreative Perspektive«, die »kontextuelle Perspektive« und die »symptomatische Perspektive«.
Aus der ersten Perspektive, die einen Beitrag der Gestalttherapie zum psychotherapeutischen Feld darstellt, beobachtet die TherapeutIn einen Prozess der Ko-Kreation der Feldorganisation im Hier und Jetzt. Aus der zweiten Perspektive beobachtet sie Interaktionen und Rollen innerhalb eines Beziehungssystems sowie die Geschichte dieser Interaktionen und Rollen. Und aus der dritten Perspektive beobachtet sie klinische Symptome. Diese Perspektiven gezielt und getrennt voneinander einzunehmen, hilft der TherapeutIn dabei, sich ihrer individuellen Vorzüge und Grenzen bewusst zu werden. Jede Perspektive ergibt eine andere Art von Landkarte. Die verschiedenen Landkarten ergänzen sich schließlich und bilden eine multidimensionale Diagnose. Jede Landkarte beschreibt unterschiedliche Eigenschaften des Gebiets und ist in unterschiedlichen Situationen von Nutzen.
3.6.1. Die symptomatische Perspektive: Fokus auf dem, was nicht gesund ist
Es kann für GestalttherapeutInnen schwierig sein, diese Perspektive gezielt einzunehmen. Schließlich nehmen wir für uns in Anspruch, weder zu pathologisieren noch zu objektivieren. Es ist jedoch hilfreicher, nicht mit dem medizinischen Paradigma zu konkurrieren und stattdessen seinen Wert zu nutzen. Wir müssen in einem System funktionieren, das sehr stark von einem medizinischen Paradigma geprägt ist. Wir müssen medizinische Diagnosen kennen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie existieren. Sie sind in jedem Fall Teil des Feldes, in dem wir leben und arbeiten. Sie finden nicht nur auf dem Gebiet der Psychotherapie Anwendung, sondern auch in der Psychiatrie, der Forschung, der Forensik und nicht zuletzt auch im alltäglichen Sprachgebrauch. Diesen Aspekt zu ignorieren würde bedeuten, uns von unserem Kontext abzuschotten. In der Folge würden wir unsere Möglichkeiten verringern, die uns anvertrauten Menschen zu unterstützen und vor einer Kategorisierung zu schützen. TherapeutInnen müssen die medizinischen Diagnosen kennen, um dahinterblicken zu können. Vorwissen ist zugleich eine Beschränkung und eine Ressource. Es stellt kein von vornherein feststehendes Wissen dar, durch das das Subjekt kategorisiert werden kann; vielmehr ist es Wissen, das zum Feld beiträgt. Das klinische Wissen und die Beziehung, die entsteht, beeinflussen sich gegenseitig.
PatientInnen kommen oft mit einer vorab geprägten Denkweise und Erwartung zur Therapie, die sie sich in einem medizinischen Kontext angeeignet haben: Es gilt, die Probleme zu identifizieren und eine geeignete Behandlung zu finden. TherapeutInnen müssen diese bestehende Einstellung von PatientInnen respektieren, um ein Arbeitsbündnis aufbauen zu können.
Abb. 1: Das Bild zeigt drei mögliche diagnostische Perspektiven von GestalttherapeutInnen. Während des Prozesses der Diagnose-Stellung ist sich die TherapeutIn des spezifischen Fokus’ bewusst, den sie einnimmt, wenn sie auf die therapeutische Situation blickt. Der Fokus entsteht durch den Kontakt-Prozess.
Wir stimmen mit Wollants (2012, 12) überein, dass »die meisten GestalttherapeutInnen zwar das Verbindende des interaktionellen Feldes hervorheben, aber trotzdem immer noch der Ansicht sind, dass Krankheit eine Kategorie psychischer Störungen ist, die den Einzelnen betreffen.« (Übers.: A. J. &. R. K.)
Wir empfehlen, diese individualistische Perspektive gezielt einzunehmen, wenn es der PatientIn hilft. Auf diese Weise sind wir in der Lage, die Perspektive des Leidens des »Zwischen« (Francesetti / Gecele 2009) oder