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Gestalttherapie in der klinischen Praxis


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das Borderline-Verhalten während der Französischen Revolution (Cancrini 2006) oder der narzisstische Trend der letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts (Lasch 1978). Diese Perspektive lässt sich optimal mit dem Konzept des »grundlegenden Beziehungsmodells« verbinden, das Giovanni Salonia eingeführt hat (Salonia 2007a, 2008b).

      5. Schlussfolgerung

      Die Gestalttherapie bietet einen reichen Hintergrund und wertvolle Werkzeuge zum Verständnis menschlichen Leidens: Wir denken, dass es auf dieser Basis möglich ist, eine gestalttherapeutische Psychopathologie zu begründen, die mit unserer Epistemologie übereinstimmt und in der klinischen Praxis nützlich ist. Man kann menschliches Leiden als sich herausbildende Figur betrachten, die vom Individuum ausgedrückt und vom Beziehungsfeld fortgesetzt wird.

      Unser Leben und unsere Beziehungen bescheren jedem von uns eine ganz individuelle Hinterlassenschaft voller Schmerz und Freude, Begrenzungen und Ressourcen. Wir haben die Chance, sie in Schönheit und volle Präsenz zu verwandeln. Dies kann als das künstlerische oeuvre eines jeden Lebens betrachtet werden. Als TherapeutInnen setzen wir uns tagtäglich für diesen Transformationsprozess ein: Wir unterstützen Menschen in ihren Anstrengungen, Schmerz in Schönheit zu verwandeln, »Freude aus dem Leid zu destillieren«, wie ein Patient zu einem der Autoren sagte. Von diesem Standpunkt aus betrachtet wird die tiefe und große Bedeutung unserer Arbeit deutlich. Um diese Unterstützung bieten zu können, müssen wir jedoch mitfühlend sein und verstehen, welchen Kontakt und welche Beziehung der leidende Mensch braucht. Und wir müssen bereit sein, diese Aufgabe mit unserem Leben anzugehen.

      Wie Alda Merini, eine Schriftstellerin, die an psychotischem Erleben litt, einst sagte: »Schmerz ist nichts als die Überraschung, einander nicht zu kennen.« (2003)

      Peter Philippson

      Ich möchte den Autoren dazu gratulieren, dass sie ein so wichtiges und aktuelles Thema aufgegriffen haben: die Bedeutung der Psychopathologie in einem beziehungsgebundenen Bezugsrahmen. Wir dürfen nicht in die Falle tappen und das, was die PatientIn uns bringt, als gegeben betrachten, das die TherapeutIn oder PsychiaterIn nur beobachtet oder diagnostiziert und behandelt. Zwei Überzeugungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Gestalttherapie: Ein Mensch passt sich nicht an Situationen an, in die er hineingeht, und die Psychotherapie ist nicht allein dazu da, ihm zu einer besseren Anpassung zu verhelfen. Die Art und Weise, wie ein Mensch in die Situation hineingeht (voller Selbstbewusstsein, Angst, Aggressivität, Erotik) beeinflusst nicht nur sein Erleben der Situation, sondern auch die Wirklichkeit, die er vorfindet. Dies trifft natürlich auch auf alle anderen Menschen zu, die Teil der Situation sind. Es ist dieses Eintreten in das »Ereignis des Anderen« (Robine 2012), das in der Therapie untersucht wird.

      Und doch denke ich, dass es falsch ist, von einem »Leiden des Feldes (oder der Beziehung, der Kontaktgrenze)« zu sprechen, wie es in diesem Kapitel der Fall ist. Mit dem »Leiden« wird das Erleben bewertet und dieses Werturteil bezieht sich auf Menschen und nicht auf das Feld oder die Beziehung. Es ist gut möglich, dass sich ein Mensch in einer Beziehung wohlfühlt und ganz verblüfft ist, wenn er erfährt, dass es dem/der Anderen nicht so geht. Und es ist auch möglich, dass ein Mensch eine Beziehung, in der beide glücklich sind, gar nicht zulässt. Ich möchte dies anhand eines Vergleiches verdeutlichen: Fabrikabgase verursachen »sauren Regen«, der schädlich für die Bäume ist. In dieser Hinsicht sind sie also schlecht für die Umwelt. Andererseits entzieht der saure Regen der Atmosphäre mehr Treibhausgase als normaler Regen und vermindert dadurch die Erderwärmung. Was einem Teil des Systems schadet, kann gleichzeitig einen anderen Teil stärken: Das ergibt sich aus der Evolution. Die Aussage, dass eine Situation, in der jemand leidet, das ganze Feld betrifft, heißt nicht zwangsläufig, dass das Leiden zum gesamten Feld gehört. Es ist nicht der Hintergrund, der der »Figur Bedeutung verleiht«: Die Bedeutung entsteht in der Interaktion zwischen Figur und Hintergrund, wenn ihnen beiden von einem Menschen Energie und Emotion zugeführt wird. Weder Figur noch Hintergrund haben jenseits der Wahrnehmung durch einen Menschen eine Bedeutung.

      Außerdem gehen die Autoren davon aus, dass Beziehungen eine Gegebenheit sind. Manche Menschen arbeiten jedoch an einer Beziehung und andere beenden sie. Wenn sich jemand bei seinen Freunden über seine PartnerIn beschwert, bekommt er womöglich zu hören: »Verlasse sie und dann wirst du glücklich«, und in manchen Fällen würde das tatsächlich zutreffen. Bei den Situationen, mit denen eine TherapeutIn zu tun hat, ist das zugrunde liegende Problem, dass die Menschen früher oder später wieder eine ähnliche Beziehung eingehen. Die PartnerIn ist in diesen Prozess involviert, doch ist es das, womit wir arbeiten? Aus gestalttherapeutischer Perspektive würden wir uns ansehen, auf welche Weise die TherapeutIn/KlientIn-Beziehung schwierig wird und was passiert, wenn wir nicht den Pfaden folgen, die die KlientIn in ihren Beziehungen normalerweise einschlägt. Ich würde das nicht als leidende Beziehung zwischen TherapeutIn und KlientIn betrachten, sondern als eine Komplikation, die ein Schlaglicht auf die fixierten Prozesse wirft, für die sich die Klientin anbietet, an denen sie beteiligt ist und die ihr Leiden verursachen. Tatsächlich wäre es problematisch, wenn sich die KlientIn bei der TherapeutIn »gut benehmen« und nur von ihren Beziehungsschwierigkeiten berichten würde.

      Dies führt uns zu einem weiteren Problem bei der Betrachtung von Leiden als beziehungsgebundenes Element. TherapeutInnen arbeiten normalerweise nicht mit beiden PartnerInnen. Der andere Teil einer Beziehung ist in der Therapie also nur durch die Berichte der Klientin anwesend. Die signifikanteste Dynamik in der Therapiesituation ist die Beziehung mit der TherapeutIn und diese Berichte gehören eher zu dieser Beziehung als zu der mit der Partnerin. Möglicherweise will die KlientIn die TherapeutIn davon überzeugen, dass sie keine Schuld hat oder dass sie an allem Schuld ist. Ich sage meinen SupervisandInnen immer, sie sollen sich vorstellen, dass ihre KlientIn sie ihrer Partnerin beschreibt: Würden sie sich in der Beschreibung wiedererkennen? Und wenn nicht, warum gehen sie dann davon aus, dass sich die Partnerin in der Beschreibung wiederfinden würde, die die KlientIn ihnen von ihr gegeben hat? Diejenigen von uns, die mit Paaren arbeiten, wissen, dass ein und dieselbe Beziehung von zwei Menschen sehr unterschiedlich beschrieben werden kann.

      Wie lässt sich ein feldorientierter Ansatz zur Psychopathologie aber nun konzeptualisieren? Glücklicherweise bin ich der Meinung, dass uns die Theorie der Gestalttherapie die Antwort auf diese Frage liefert. Die Pathologie ist wahrhaftig eine Pathologie der Psyche oder des Selbst, also von unbewussten Mustern bei der Neurose oder von einer Abwesenheit einer funktionierenden Selbst-/Andere(r)-Grenze bei der Psychose. Doch da sich das Selbst durch das In-Kontakt-Treten und bereits erlebte Kontakte bildet -auch wenn es sich um Muster handelt, die Teil des Selbstprozesses des Individuums sind – , entsteht Veränderung durch neue Kontakte und Beziehungsmöglichkeiten in der Therapie in Verbindung mit der Weigerung der TherapeutIn, den gewohnten Mustern zu folgen. Selbst das Konzept der »Unterstützung« muss man eher als beziehungsorientierten Vorgang betrachten und nicht als etwas, das ein Mensch dem anderen gibt. Zu Unterstützung gehört gleichermaßen das, was gegeben und das was empfangen wird, und kann durchaus passieren, dass sich jemand einfach »ununterstützbar« macht. Umgekehrt kann die KlientIn fixierte Muster nur dann aufrechterhalten, wenn die TherapeutIn diese Haltung durch ihr eigenes Verhalten zu untermauern scheint. Das könnte passieren, wenn sich die KlientIn von der TherapeutIn darin bestätigt sieht, dass sie schlecht und falsch ist, oder wenn sie den Eindruck hat, dass die Erwartung der TherapeutIn an ihre Anpassungsbereitschaft die elterlichen Ansprüche spiegelt, denen sie sich problemlos widersetzen kann.

      Jan Roubal, Michela Gecele und Gianni Francesetti

      1. Einleitung

      Ist das Stellen einer Diagnose zwangsläufig eine objektivierende Handlung? Verhindert eine Diagnose den Kontakt oder unterstützt sie den therapeutischen Prozess? Diese Fragen haben uns angeregt, dieses Kapitel zu schreiben. Wir, die Autoren, sind zwei Psychiater und eine Psychiaterin und bringen unsere Kompetenz und unsere Art zu denken in diese Arbeit ein. Wir können und wollen weder das eine noch das andere vergessen. Vielmehr versuchen wir, diese beiden Aspekte zu formulieren und sie anzuwenden, um einen