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Eine Diagnose kann als ein Zeichen verstanden werden, das der klinischen Situation Bedeutung verleiht. Die GestalttherapeutIn ist im Hier und Jetzt der Begegnung mit der KlientIn verwurzelt, sie versteht die Situation auf eine bestimmte Art und Weise, orientiert sich in ihr und richtet ihre Interventionen danach aus. An diesem Punkt scheint eine Reisemetapher nützlich. In einer Psychotherapie begeben sich TherapeutIn und KlientIn gemeinsam auf eine Entdeckungsreise. Die TherapeutIn übernimmt eine bestimmte Rolle und Verantwortung, manchmal führt sie, manchmal lässt sie sich führen. Gemeinsam entdecken sie die interessanten, nützlichen und riskanten Eigenarten des Geländes. Ihre Reise kann ein klares Ziel haben oder auch nicht.
Sie können sich verirren. Dann muss die TherapeutIn innehalten und sich mithilfe von Landkarten orientieren. Wenn das in einer klinischen Situation der Fall ist, muss sich die TherapeutIn vorübergehend zurückziehen und sich Zeit nehmen, damit sich ihr die Bedeutung der therapeutischen Situation erschließt.2 Nun kann sie dieser Bedeutung einen Namen geben, d. h. sie stellt eine Diagnose. Die TherapeutIn verändert vorübergehend und bewusst den Fokus.
In diesem Moment konzentriert sie sich nicht auf die KlientIn und die Beziehung. Vielmehr richtet sie ihr Augenmerk darauf, die Bedeutung der Situation zu beschreiben, die hier einen »Dritten« darstellt. Durch die vorübergehende Verlagerung des Fokus flieht die TherapeutIn nicht aus dem Kontakt mit der KlientIn, sondern fördert ihn, wie jemand, der auf einen Punkt auf einer Landkarte zeigt und sich Informationen für die Weiterreise beschafft. So gehen Interventionen in verschiedene Richtungen, je nachdem, ob KlientIn und TherapeutIn z. B. Teil eines Borderline-Feldes oder Teil eines psychotischen Feldes sind. In einer klinischen Situation dient eine Diagnose als Landkarte. Dabei muss die Landkarte komplexe Sachverhalte vereinfachen, um von Nutzen zu sein. Aus diesem Grund sollten wir es einer Diagnose nicht ankreiden, wenn sie das Leiden eines Menschen nicht in seiner ganzen Komplexität erfasst.
Bei der Ausrichtung einer therapeutischen Beziehung gibt es zwei Arten von Diagnosen (Francesetti / Gecele 2009). Die erste, die wir oben kurz beschrieben haben, können wir die extrinsische (also von außen kommende) oder Landkartendiagnose nennen. Sie ergibt sich aus einem Vergleich zwischen einem Modell des Phänomens und dem Phänomen selbst und entsteht, wenn sich die TherapeutIn bewusst darauf konzentriert, die Bedeutung der Situation zu beschreiben. In der Begegnung mit der KlientIn kann die TherapeutIn jedoch nicht immer wieder einen Moment lang innehalten und überlegen, wie sie die Situation versteht. In der Praxis kann sie das nur von Zeit zu Zeit und wahrscheinlich meist erst nach der Sitzung tun. Im Dialog antwortet die TherapeutIn sofort. Sie reagiert unmittelbar mit einem Wort, einer Geste oder einem bestimmten Tonfall. Hier hat sie auch Orientierungshilfen für ihre Reaktionen. Diese Orientierungshilfen entstehen nicht aus einer vorübergehenden Verlagerung des Fokus (vom Gelände auf die Landkarte), sondern vielmehr dadurch, dass sie sich ganz auf den Fluss der Beziehung einlässt. Die TherapeutIn fühlt sich vollkommen in den Kontaktprozess eingebunden und unterstützt die Beziehung in ihrer Gesamtheit.
Die zweite Art der Diagnose, die spezifische Diagnose der Gestalttherapie, können wir intrinsische (also inhärente) oder ästhetische Diagnose nennen. Sie entsteht aus dem ästhetischen Kriterium (Joe Lay, in Bloom 2003) und ergibt sich aus der Wahrnehmung des Flusses und der Anmut dessen, was passiert oder eben nicht passiert. Nach dieser Wahrnehmung richtet die TherapeutIn ihr Mit-der-KlientIn-Sein aus. Wir können die extrinsische Diagnose mit einer Landkarte des Geländes der therapeutischen Gegebenheiten vergleichen. Die intrinsische Diagnose können wir als Gespür für die Richtung betrachten, dem die TherapeutIn auf ihrer Reise durch das Gelände folgt. Beide Arten der Diagnose dienen der TherapeutIn zur besseren Orientierung, doch jede auf andere Weise. Eine Landkarte bietet Überblick und Verstehen, das Gespür für die Richtung ist wichtig für unmittelbare Entscheidungen und Schritte auf unbekanntem Terrain.
2. Intrinsische oder ästhetische Diagnose
Es gibt zwei Arten der Evaluation: die intrinsische und die vergleichende. Intrinsische Evaluation geschieht im Verlauf jedes Geschehens; es ist die Gerichtetheit des Prozesses, die unerledigte Situation, die sich zu einem Abschluß hin, die Spannung, die sich auf den Orgasmus zubewegt usw. Bei dieser Evaluation ergibt sich der Standard aus dem Geschehen und ist letztlich das Geschehen selbst als Ganzes. (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. 1, 101)
In jedem Augenblick finden auf chaotische und unvorhersagbare Weise Interaktionen zwischen TherapeutIn und PatientIn statt, die in Sekundenbruchteilen Tausende Elemente ins Spiel bringen. Die Interaktion ist unglaublich komplex: Sie ist visuell, auditiv, taktil, muskulär, glandulär, neurologisch, gustatorisch und olfaktorisch und reaktiviert Erinnerungsschichten, die abwartend fluktuieren, bereit, zur Bildung einer Figur beizutragen. Außerdem umfasst sie Erwartungen und Vergleiche mit Tausenden von Kontakten und Gesichtern. Wie sollen wir uns in dieser Komplexität zurechtfinden?
Wir können die Situation beobachten, beschreiben und eine Landkarte erstellen, die als Werkzeug zur Orientierung dienen kann. Wie man diese Landkarte, eine extrinsische Diagnose, erstellt und verwendet, wird später in diesem Kapitel beschrieben.
Wir können aber auch in diesem Beziehungschaos bleiben, navigieren und auf den Wellen dieses Meeres schwimmen, »das niemals stillsteht«. Die Orientierung wird dann durch eine Diagnose ermöglicht, wie sie traditionellerweise in der Gestalttherapie kultiviert wird. Sie basiert auf einer gefühlten ästhetischen Bewertung und entsteht Moment für Moment an der Kontaktgrenze. Die Bezeichnung »Diagnose« trifft auch deshalb zu, weil sie der TherapeutIn Orientierung bietet. Außerdem stellt sie Wissen (gnosis) um das Hier und Jetzt in der Beziehung durch (dia) die Sinne dar. Bei dieser Diagnose wird kein Vergleich zwischen einem Modell und einem Phänomen angestellt. Wir nennen diese zweite Art von Diagnose die »intrinsische oder ästhetische Diagnose«, weil sie prozessinhärent ist und auf der Wahrnehmung durch die Sinne basiert (auf Griechisch bedeutet aisthesis »durch die Sinne wahrnehmbar«).
Diese Art der Orientierung basiert auf einer intuitiven Evaluation einer Kontaktsituation: Es handelt sich um eine bestimmte Art von Wissen, die an der Kontaktgrenze in einem Moment entsteht, in dem Organismus und Umwelt noch nicht voneinander getrennt sind. Aus diesem Grund ist das ästhetische Wissen implizit (prä-verbal) und bereits auf die intersubjektive Dimension abgestimmt (D’Angelo 2011; Desideri 2011; Francesetti 2012). Orientierungshilfen für die nächste Intervention werden anhand von ästhetischen Kriterien unmittelbar bewertet. Erst später kann die TherapeutIn ihren Entscheidungsprozess (meist ziemlich vage) benennen: »Es schien in diesem Moment das Richtige zu sein«, »ich hätte in dieser Situation nicht gewagt, das zu sagen« usw. Es wird keine Zeit auf kognitive Prozesse verwandt, denn diese Art der Evaluation ist prä-kognitiv und prä-verbal und impliziert nicht nur einen passiven Vorgang sondern auch Aktivität, die die TherapeutIn direkt in die Intervention führt. Wenn wir mit intrinsischen Diagnosen arbeiten, benutzen wir die Intuition3 als Quelle der Unterstützung für die TherapeutIn. Die unmittelbarsten Interventionen werden nicht aufgrund bewusster kognitiver Überlegungen umgesetzt. Vielmehr gibt die Achtsamkeit der TherapeutIn mithilfe der ästhetischen Kriterien die Richtung vor. Oft kann die TherapeutIn erst nach der Sitzung verbal beschreiben und kognitiv verstehen, was sie getan hat und was die Gründe für eine Intervention waren.
Dies bedeutet nicht, dass die TherapeutIn chaotisch arbeitet. Ihr Verstehen der klinischen Situation und ihre Interventionen basieren auf ihrer Intuition, die durch Erfahrung und Ausbildung stetig vervollkommnet wird. Eine gut entwickelte Intuition ermöglicht es der TherapeutIn, die zarten Nuancen der therapeutischen Situation sensibler wahrzunehmen, sodass sie auch ohne kognitiven Prozess unmittelbar und angemessen intervenieren kann. Die Intuition führt sie durch ein Geflecht minimaler Signale in den Raum »dazwischen«, für den Worte und Gedanken zu grobe Instrumente sind.
Was bedeutet es wirklich, eine intrinsische Diagnose zu stellen? Achtsam, wach, mit allen Sinnen aktiv und gleichzeitig entspannt zu sein und sich von dem berühren zu lassen, was passiert (Spagnuolo Lobb 2004b; Francesetti 2012). Zuversichtlich zu bleiben, dass das Chaos tatsächlich »Sinn« macht und dass sich mit der nötigen Unterstützung eine Bedeutung zeigt. Die TherapeutIn ist nicht desorientiert, sondern anwesend. Sie ist nicht untätig, sondern bereit, den Tanz mitzutanzen, der sich an der Grenze entwickelt, wo