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Gestalttherapie in der klinischen Praxis


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zu betrachten, vor allem, um die Bedeutung der dritten Komponente hervorzuheben. Bei den Grenzen des Kontexts müssen wir auch die Tatsache berücksichtigen, dass jede Gesellschaft für sich definiert, was normal ist und was nicht, welche Symptome kuriert und welche Verhaltensweisen verändert werden sollten (siehe Kapitel 10).

      Zusammenfassend ist es wichtig festzuhalten, dass die Psychopathologie das Leiden der Kontaktgrenze ist. Dieses mag als subjektiver Schmerz empfunden werden oder auch nicht. Wenn das Subjekt nicht vollständig wahrnimmt, was an der Grenze passiert, verspürt es keinen subjektiven Schmerz. Dennoch kann der/die Andere oder ein(e) Dritte(r) ihn wahrnehmen. Aus klinischer Sicht ist es nicht der Schmerz, der pathologisch ist, sondern vielmehr die Unfähigkeit, ihn auszuhalten und ihn auf individueller, familiärer und sozialer Ebene gänzlich zu empfinden. Um subjektiven Schmerz zu verringern, muss das Zwischen, muss die Grenze leiden. Auf diese Weise wird der Schmerz schwächer wahrgenommen, doch gleichzeitig verringert sich die Bewusstheit. Entwicklungspsychologisch gesehen ist diese Fähigkeit, unerträglichen Schmerz zu verringern, eine kreative Anpassung, die das Individuum, die Familie und die Gesellschaft schützt. Doch nun ist es eben diese Fähigkeit, die das Individuum daran hindert, ganz zu fühlen, zu leben und zu handeln und das Selbst und das Umfeld, mit dem es in Kontakt steht, vollständig zu erleben.

      Vollständiges Erleben ist gesundes Erleben, das durch eine gemeinsame Gestaltung an der Kontaktgrenze entsteht. Es zeigt sich in der Erschaffung einer hellen, harmonischen, starken und eleganten Figur (Perls / Hefferline / Goodman 2006; Bloom 2003). Damit sich eine solche Figur bilden kann, muss das Selbst an der Kontaktgrenze vollständig anwesend sein. Um vollständig anwesend sein zu können, braucht das Selbst ausreichende Unterstützung (Perls L. 1992). Unerträglicher Schmerz führt zur Betäubung und dadurch zur Unfähigkeit, das Selbst oder das Umfeld bzw. den/die Andere(n) wahrzunehmen. Wenn die Unterstützung ausreichend ist, ist das Subjekt anwesend und kann Schmerz spüren. Wenn die Unterstützung nicht ausreichend ist, ist das Subjekt an der Kontaktgrenze auf die eine oder andere Weise abwesend und unbewusst und kann grausam oder selbstzerstörerisch agieren. Das Angebot ausreichender Unterstützung bei Schmerz ist ein Weg, Leid auf sozialer Ebene zu vermeiden und zu heilen. Dies eröffnet uns eine ethische Leitlinie und eine politische Perspektive in unserer Arbeit als PsychotherapeutenInnen.

      3. Gesundes, psychotisches und neurotisches Erleben

      Während wir versuchen, diese drei Dimensionen des menschlichen Erlebens voneinander zu differenzieren, wollen wir Sie daran erinnern, dass wir keine Menschen definieren, sondern eine Art des Erlebens im Hier und Jetzt, in der gegenwärtigen Situation. Diese Art von Erleben – gesund, neurotisch, psychotisch – ist ein Phänomen, das sich an der Kontaktgrenze herausbildet. Es wird also immer gemeinsam erschaffen. Das bedeutet, dass die TherapeutIn während der Sitzung dazu beiträgt, eine dieser Arten des Erlebens zu kreieren. Sie kann auch dazu beitragen, psychotisches Erleben hervortreten zu lassen oder zu festigen. Daher ist es wichtig, sich dieser drei Dimensionen bewusst zu sein, um sie erkennen zu können und zu wissen, wie man mit ihnen umgeht (siehe auch die entsprechenden Kapitel in diesem Buch).

      Eine weitere Vorbemerkung: Die Begriffe »gesund«, »psychotisch« und »neurotisch« werden hier nicht als Kategorien angeführt, sondern als Dimensionen. Das bedeutet erstens, dass ein Erleben mehr oder weniger psychotisch, neurotisch oder gesund sein kann – und trotzdem sind es weiterhin drei unterschiedliche Arten von Dimensionen. Zweitens bedeutet dies, dass wir alle das Potenzial haben, diese drei Dimensionen zu erleben: Es gibt eine dynamische Schwelle, die wahrscheinlich von der Situation, den Umständen und den persönlichen Anlagen abhängig ist.

      Sehen wir uns nun an, was gesundes Erleben charakterisiert und wie wir es bestimmen können.

      Wir können ein paar Elemente identifizieren, die aus gestalttherapeutischer Sicht bei gesundem und normalem Erleben vorhanden sein müssen. Gesundes Erleben ist ein Kontaktprozess mit einem Novum, das als Entwicklungsmöglichkeit im Umfeld vorhanden ist. Dieser Prozess impliziert einen gemeinsamen Akt der Zerstörung, der das Neue integrierbar macht, sowie genügend Zeit für die Integration selbst. Das Ergebnis ist ein Wachsen des Organismus (Perls / Hefferline / Goodman 2006). Auf die eine oder andere Weise ist jede Situation neu: Gesundes Erleben ist das Zusammentreffen mit der unendlichen Neuheit des Lebens. Es ist per definitionem einzigartig und nährend: einzigartig, weil die Begegnung mit dem Neuen nicht wiederholbar ist (wenn doch, ist es kein Zusammentreffen mit etwas Neuem), und nährend, weil das Ergebnis ein Wachsen des Organismus ist (wenn nicht, dann gab es nicht genügend Nährendes).

      Beim neurotischen Erleben ist der Kontakt mit dem Neuen an der Kontaktgrenze gedämpft: Es findet nur ein reduzierter Kontakt mit den Möglichkeiten im Feld statt. Diese Einschränkung manifestiert sich in den sogenannten Kontaktstörungen. Ursprünglich handelte es sich dabei um gesunde Schutzmechanismen des Organismus: Sie waren die beste Möglichkeit, in vergangenen Beziehungen präsent zu bleiben, doch dann wurden sie zu unbewussten Gewohnheiten – fixierten Gestalten –, die die Möglichkeiten beschränken, in der Beziehung präsent zu sein. Das neurotische Erleben ist nicht einzigartig, sondern vielmehr stereotyp, und nicht nährend, da es nicht zu einer vollständigen Begegnung mit dem Neuen kommt, das es zu integrieren gilt.

      Um psychotisches Erleben zu verstehen, müssen wir ein weiteres Element des gesunden, normalen Erlebens betrachten. Wir bezeichnen ein Erleben als »normal«, das aus einem gemeinsamen Hintergrund von Zeit, Raum und Grenzen entsteht. In diesem Fall gibt es ein klar umrissenes Subjekt, das eine klar umrissene Welt erlebt, und sie beide sind Teil desselben Gefüges aus Zeit und Raum, einer gemeinsamen Welt, in der Subjekte und Objekte sich trennen und verbinden. Daran ist zunächst nichts Ungewöhnliches, schließlich ist dies die Art und Weise, wie wir normalerweise unsere Erfahrungen machen. Doch genau diese Struktur ist bei psychotischem Erleben9 gestört, bei dem dieser gemeinsame Hintergrund verloren geht: Die Grenzen, die das Subjekt und die Welt trennen und verbinden, sind gestört. Dadurch entsteht ein Mangel an Abgrenzung, der sich z. B. in solchen Feststellungen äußern kann: »Die Leute können meine Gedanken lesen«, »Meine Absichten können ein finanzielles Desaster zur Folge haben« oder »Ich fühle mich, als sei ich weit von den anderen entfernt, ohne Verbindungen und ohne Zukunft«.

      Die klar definierte Subjekt/Welt-Struktur als Voraussetzung für ein normales Erleben stellt keinen grundlegenden Zustand des menschlichen Lebens dar, sondern spiegelt vielmehr, wie wir unser Erleben Moment für Moment aufbauen. Unsere Sinne vermitteln uns keine radikale Trennung von Subjekt und Objekt, diese Abgrenzung ist etwas, das wir – prä-kognitiv – in jedem einzelnen Augenblick vornehmen. Die Realität, wie wir sie üblicherweise kennen, ist ein après coup, der sich an der Kontaktgrenze herausbildet. Das Subjekt, das das Hier und Jetzt erlebt, wird permanent durch einen bunten Regenbogen von Abgrenzungen an der Kontaktgrenze erschaffen. Das Selbst ist ein sich herausbildendes Phänomen (Philippson 2001). Bevor das »Ich-Selbst« entsteht, gibt es ein undefiniertes Selbst »der Situation« (Perls / Hefferline / Goodman 1994; Robine 2011). Dank unserer Persönlichkeitsfunktion können wir unsere Stabilität als Subjekte spüren, sie ist jedoch nichts grundsätzlich Gegebenes in unserem Leben.10

      Psychotisches Erleben zeichnet sich durch einen Mangel an diesem Hintergrund aus, durch eine Verzerrung von Raum, Zeit und Grenzen, die uns unerträgliche Qualen bereitet: Die Welt geht zu Ende, zumindest so, wie ein Mensch sie zu erfahren gewohnt war. Als Konsequenz entstehen psychotische Phänomene: Die melancholische Depression und schizophrenes Leiden können wohl in einem Kontinuum angesiedelt werden, an dem es an einem Ende keine Verbindung an der Kontaktgrenze gibt und am anderen Ende keine Abgrenzung an der Kontaktgrenze.

      Melancholisches oder manisches Erleben tritt ein, wenn das Subjekt von der Situation abgeschnitten ist (entkörpert von Raum/Zeit der Situation und abgetrennt vom Zwischen). Schizophrenes Erleben entsteht, wenn die Grenzen nicht definiert sind und das Außen innen wahrgenommen wird und umgekehrt (Francesetti 2011). In dieser Situation können Wahn und Halluzination einen Eindruck von Realität und Sicherheit erzeugen, der weniger Angst erzeugt als das Gefühl, sich vollkommen orientierungslos in ungewissem Widersinn verlaufen zu haben.

      Solche fixierten Schutzmechanismen machen dieses Erleben oft stereotyp. In diesem Zustand kann sich die Kontaktsequenz nicht fortsetzen. Da es keinen Prozess der Abgrenzung