auch eine Veränderung sozialer Beziehungen erfordert (Mutter eines Kindes zu sein). Was neu erscheint, wird von der Ich-Funktion als »nicht für mich« definiert (an dieser Stelle fehlt die Unterstützung durch die Persönlichkeits-Funktion). Die Ich-Funktion kann sich nicht an die Veränderungen der sozialen Beziehungen, der kulturellen Werte oder der Sprache anpassen, die durch die Situation entstehen. In Verbindung mit der Es-Funktion, durch die Empfindungen organisiert werden, tragen Störungen der Persönlichkeits-Funktion zu einer Behinderung der Funktionsweise des Ich bei, die die Wurzel für neurotische Störungen darstellt.
Im Gegensatz dazu besteht bei Psychosen eine schwere Störung der Es-Funktion: Der Hintergrund an Sicherheiten fehlt, der durch assimilierte Kontakte entsteht. Auf diesem Hintergrund kann das Ich seine Fähigkeit zu entscheiden nicht ausüben. Das In-Kontakt-Treten wird also von den Empfindungen dominiert, die in ein Selbst eindringen, das gewissermaßen »keine Haut hat«. Alles, was außerhalb passiert, wird potenziell so wahrgenommen, als würde es auch innen passieren: Das Selbst bewegt sich ohne klare Wahrnehmung der Grenzen mit der Umwelt (Konfluenz). Es befindet sich in einem Zustand, in dem alles Neue Angst machend (man kann sich nicht sicher sein, ob nicht gleich ein Erdbeben stattfindet) und nichts assimilierbar ist (da nichts wirklich als anders oder neu wahrgenommen werden kann). Dieses gestörte Erleben der Ich-Funktion wird auf vielfältige Weise deutlich: in der Atmung, in der Körperhaltung, in der Art, wie die eine PatientIn andere ansieht und Beziehungen mit ihnen eingeht, wie auch in ihrer Sprache. Daher sind Körper und Sprache für die TherapeutIn die wichtigsten Werkzeuge für eine phänomenologische Interpretation. Eine PatientIn kann z. B. ihr Erleben beschreiben, indem sie sagt: »Ihre Stimme ist in mein Gehirn eingedrungen« oder »Dieses Glas Wasser hat meinen Magen zerstört« oder »Es war nicht der Held im Film, der geblutet hat, das war ich, aber man konnte es auf dem Bildschirm sehen« oder auch »Wenn Sie lächeln, fällt mir das Atmen leichter«. Diese Beispiele machen uns noch einmal deutlich, dass im Fall von psychotischen Erlebensstrukturen eine unmittelbare Verbindung zwischen außen und innen besteht, die bei therapeutischen Interventionen berücksichtigt werden muss (Spagnuolo Lobb 2002a, 2003a).
Ich werde in Kapitel 4 näher auf die gestalttherapeutische Diagnose eingehen, es ist diesem Thema gewidmet. Das Ziel dieses Abschnitts ist es, die Epistemologie der Psychopathologie und der gestalttherapeutischen Diagnose13 zu definieren.
3.10 Psychopathologie als kreative Anpassung
In den bisherigen Ausführungen werden einige grundlegende Punkte deutlich, z. B. was das Verständnis von menschlicher Entwicklung und Psychopathologie als kreative Anpassung angeht (siehe Spagnuolo Lobb / Amendt-Lyon 2003). Es ist nicht so, dass manche Verhaltensweisen reif und richtig sind und andere falsch und unreif. Die Begriffe »gesund« und »reif«, oder »pathologisch« und »unreif« beziehen sich auf eine Norm, die außerhalb des Erlebens des Menschen steht und von jemandem aufgestellt wurde, der nicht an der Situation beteiligt ist (und der aus genau diesem Grund behaupten kann, »objektiv« zu sein). Die phänomenologische Sichtweise wirft zwar das Dilemma zwischen Subjektivität und Objektivität auf, das eine zentrale Frage für viele Philosophen darstellt (von Husserl über Heidegger bis Merleau-Ponty und in manchen Punkten auch Kierkegaard und Adorno), doch sie betrachtet das Erleben als die eigentliche Quelle der Erkenntnis, das sich in keiner Weise durch konzeptionelle Analyse ersetzen lässt (Watson 2007, 529). Es ist daher wichtig, die Intentionalität eines Verhaltens zu berücksichtigen, also den Kontakt, der es motiviert und belebt. Wissen, das im Körper verankert, auf Kontakt ausgerichtet, ästhetisch und unmittelbar wahrnehmbar und in der Ganzheit von Organismus und Umweltverwurzelt ist, entspricht unserem Ansatz am ehesten. Wie Merleau-Ponty (1965 oder ed. 1979) betont, bedeutet phänomenologisches Wissen immer wieder, »von neuem [zu] lernen, die Welt zu sehen«: In der Welt der Phänomenologie schließt Wissen Intuition nicht aus, da sie aus der Wahrnehmung heraus entsteht (Merleau-Ponty, 1965). Und da Wahrnehmung auf den Sinnen gründet, ist sie eng mit einer ästhetischen Bewertung verbunden.
Abwehrverhalten wird von der psychodynamischen Position aus traditionell als hinderlich für den therapeutischen Prozess betrachtet. Aus gestalttherapeutischer Sicht dagegen gilt es als beziehungsorientierte Fähigkeit. Sie basiert auf einem Prozess der kreativen Anpassung, der unterstützt werden muss. Diese Haltung macht es der Psychotherapie möglich, sich von einem extrinsischen Gesundheitsmodell weg auf ein ästhetisches Modell zuzubewegen, dessen Grundpfeiler die aktuelle Wahrnehmung der Begegnung zwischen TherapeutIn und PatientIn ist, somit auf Faktoren, die der Beziehung innewohnen (siehe Spagnuolo Lobb 2011c, 117; Francesetti / Gecele 2011). Die gestalttherapeutische Diagnose konzentriert sich auf jene Kontaktmodalität, mit der der Mensch die Angst vor der Erregung vermeidet, die durch Kontakt entsteht. Dies macht es möglich, diejenige Art des Kontakts näher zu bestimmen, auf den sich die therapeutische Beziehung stützen wird.
Das klinische Problem, mit dem sich die GestalttherapeutIn konfrontiert sieht, ist also im Einklang mit der phänomenologischen Forschung, die von natürlichen Beweisen ausgeht und zu einem transzendenten Wissen gelangt, indem sie jegliche Bewertung vermeidet und sich von der Intuition leiten lässt. Es ist auch im Einklang mit dem Pragmatismus, für den das Erleben in der Empfindung wurzelt (James 1983) und der es als ästhetischen Prozess des Organismus und der Umwelt in einem ko-kreativen Gleichgewicht betrachtet, der voller Grazie, Harmonie und Rhythmus ist (Dewey 1934).14 Die GestalttherapeutIn möchte ihre PatientIn nicht dazu bringen, ihr Verhalten oder Erleben nach einem »gesunden« oder »reifen« Standard auszurichten. Sie will ihr vielmehr ermöglichen, (wieder) mit Spontaneität in Kontakt zu treten und vollständig im Kontakt gegenwärtig zu sein. Die therapeutische Aufgabe besteht darin, dem Menschen zu helfen, das Erleben seiner kreativen Anpassung wahrzunehmen und es sich (wieder) ohne Angst, also mit Spontaneität, mit allen Sinnen zu eigen zu machen.
Die intuitive Hypothese der Begründer der Gestalttherapie, nach der die primäre Realität die ko-kreierte Gegenwart an der Kontaktgrenze und somit die Gestalt ist, die aus den Begegnungen der Kontaktintentionalitäten entsteht, hat neuerdings aus zwei unterschiedlichen Richtungen Bestätigung erfahren: durch neurowissenschaftliche Forschungen, die das aktuelle Interesse der Wissenschaft an der beziehungsorientierten Beschaffenheit des Gehirns15 spiegeln, und durch die aktuellen Überlegungen von Daniel Stern (2010), der die Wahrnehmung von Formen in Bewegung als grundlegende Einheit des Bewusstseins betrachtet.
Kommentar
Gordon Wheeler
Zugehörigkeit und Abgrenzung, Identität und Evolution, Bewahrung und Wandel: Dies sind die essenziellen elementaren Dynamiken, die wir als Definitionen von Beziehung (differenzierte Verbindung), Komplexität (ein Feld im Sinne von Beziehungs-Dynamiken) und auch des Lebens selbst betrachten (jedes begrenzte Sub-Feld, das sich durch die Fähigkeit auszeichnet, in seinem eigenen Interesse zu handeln). Seit unser gestalttherapeutisches Modell vor einem Jahrhundert in den Psychologielaboren der frühen Gestaltpsychologen seinen Anfang nahm, steht es unverrückbar dafür, dass es die Komplexität dieser Beziehungsprozesse respektiert, wie lebende Subjekte sie bei dem Versuch real erleben, ihre eigenen kreativen Anpassungen angesichts der sich verändernden Bedingungen wirksam zu machen. Daher richtete die gestalttherapeutische Forschung ihr Augenmerk bald auf das Verständnis der Prozesse und Strukturen, durch die menschliche Subjekte die von ihnen wahrgenommenen Welten organisieren und interpretieren, indem sie Ereignisse mittels Interpretation, Bewertung und Handlung in schlüssige Erfahrung verwandeln.
Die anwendungsbezogene Forschung, das integrative Werkzeug und die Perspektive, der der Gestaltpsychologe Kurt Lewin den Weg bereitet hat, kennzeichnet die gestalttherapeutische Methode und Haltung: Wir sehen alles als ein Experiment, erleben dessen Ausgang und folgern daraus, welche Muster es gibt, die funktional/flexibel oder unkreativ/ verfahren sind. Dann fördern wir neue Tests, mit denen die Brauchbarkeit dieser Folgerungen geprüft wird, dekonstruieren alle Muster, die nicht länger anwendbar sind und so weiter. Alles, was wir in der Gestalttherapie tun, kann als Variation dieses anwendungsbezogenen Forschungsansatzes betrachtet werden; und alles ist potenziell neues Material für ein laufendes Experiment, nämlich das Leben selbst.
Indem sie sich auf die wegweisende Arbeit von Lewin und anderen stützen, die diesen revolutionären Ansatz zum Verständnis menschlicher