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Gestalttherapie in der klinischen Praxis


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an der Kontaktgrenze mit der Umwelt gegenwärtig (die Nahrung wird zerkaut, geschmeckt, genossen) und die Fähigkeit zu wählen ist entspannt, weil es im Moment nichts auszuwählen gibt. In dieser Phase findet der nährende Austausch mit der Umwelt, mit dem Neuen, statt. Er wird, wenn er erst assimiliert ist, zum Wachstum des Organismus beitragen.

      In der letzten Phase, dem Nachkontakt, wird das Selbst schwächer. So hat der Organismus die Möglichkeit, das Neue zu verdauen und es weitgehend unbewusst zu assimilieren und in die vorhandene Struktur zu integrieren. Der Prozess der Assimilation verläuft immer unbewusst und unwillkürlich (wie die Verdauung). Er kann soweit bewusst werden, dass diese Bewusstheit eine Störung darstellt. Aus diesem Grund schwindet das Selbst in dieser Phase normalerweise und zieht sich von der Kontaktgrenze zurück.

      Das Kontaktsystem des Selbst ist komplex, und das eben erläuterte Beispiel wird dieser Komplexität selbstverständlich nicht gerecht. Diese Kontakte sind fortwährend auf verschiedenen Ebenen aktiv und bilden das aktuelle Erleben des Individuums. Man kann ein Buch lesen (geistiger Kontakt) und dabei in einer Hängematte liegen (selbstverständlicher Kontakt, es sei denn, die Hängematte dreht sich um), den Vögeln beim Singen zuhören (akustischer Kontakt), den Duft der Blumen riechen (olfaktorischer Kontakt) und die Wärme der Sonne genießen (kinästhetischer Kontakt). In diesem komplexen System aus Kontakten ist der Organismus jedoch meist auf einen bestimmten Kontakt fokussiert – nämlich auf den einen, den er wählt und mit dem er sich identifiziert, um zu wachsen. Das kann z. B. das Lesen des Buches sein, wenn das aufkommende Bedürfnis mit geistigem Wachstum zu tun hat, oder das Lauschen des Vogelgesangs, wenn der akustische Kontakt Gefühle und Gedanken hervorruft, die in diesem Moment wichtig sind.

      An diesem Punkt müssen wir einräumen, dass die in dem Standardwerk Gestalttherapie (Perls / Hefferline / Goodman 2006) zu beobachtende mangelnde Differenzierung zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Umwelt eine wichtige Einschränkung der Theorie des Kontakterlebens darstellt (siehe Robine 2006a). Das Revolutionäre dieser Theorie besteht darin, dass sie Kontakt von der Position der Zwischenheit, der Kontaktgrenze, aus betrachtet. Eine absolut notwendige Entwicklung ist die genaue Beschreibung des Unterschieds zwischen dem Beitrag einer (nicht menschlichen) Umwelt, die nicht reagiert, und dem Beitrag einer (menschlichen) Umwelt, die auf die Kreativität des Individuums mit Kreativität reagiert. Wie Wheeler (2000a) betont, führt diese Homologisierung zu einer Perspektive, die sich auf das Individuum konzentriert, anstatt auf die Handlung des ko-konstruierten Kontakts. Darin besteht heute das »growing edge«, die Grenze der Entwicklung, und die Herausforderung für die Theorie des Kontakterlebens.

      3.9 Störungen der Funktionen des Selbst: Psychopathologie und gestalttherapeutische Diagnose

      »[…] wir sind uns von Anfang an bewusst, daß ein starker Irrtum bereits ein kreativer Akt ist, der für denjenigen, der ihn vertritt, irgendein bedeutsames Problem lösen muss.« (Perls / Hefferline / Goodman, 2006, Bd. I, 44). Die erste Frage, die wir im Hinblick auf die Psychopathologie stellen müssen, lautet: »Wie können wir in der Gestalttherapie über Psychopathologie sprechen?« (Robine 1989). Das Grundverständnis von Widerständen als kreative Anpassungen führt dazu, dass wir eine ganz besondere Auffassung von Psychopathologie haben. Wir glauben, dass jedes Symptom oder Verhalten, das normalerweise als pathologisch definiert wird, eine kreative Anpassung eines Menschen in einer schwierigen Situation darstellt. Die sogenannten Verluste der Ich-Funktion sind kreative Entscheidungen, um im Laufe verschiedener Phasen des Kontakterlebens mit der Umwelt die Entwicklung von Erregung zu vermeiden. Wie ich bereits ausgeführt habe, würde diese Erregung zu einem Angsterleben werden, da sie nicht unterstützt wird.

      Gewohnheitsmäßige Unterbrechungen des Kontakts führen zu einer Akkumulation unvollständiger Situationen (unterbrochene Spontaneität führt zu offenen Gestalten und unerledigten Situationen), die in der Folge andere Prozesse signifikanten Kontakts immer wieder unterbrechen.

      Die Angst, die mit der primären Kontaktunterbrechung einhergeht (die zur Gewohnheit wird, da sich die Situationen wiederholen), ist die Folge von Erregung, die auf der physiologischen Ebene nicht angemessen von Sauerstoff unterstützt wird (ausreichende Atmung) und auf der sozialen Ebene keine befriedigende Reaktion aus der Umwelt auslöst (Spagnuolo Lobb 2001c, 2001b). Diese Art der Erregung kann den Organismus nicht zu einer spontanen Entwicklung des Selbst an der Kontaktgrenze führen. Die von TherapeutInnen bei PatientInnen am häufigsten beobachtete Unterbrechung ist die Retroflexion. Man muss »die Zwiebel schälen«, wie Perls es ausdrückt, um die ursprüngliche Unterbrechung aufzuspüren (Perls 1995a, 93 ff.).

      Viele von uns, besonders die Mitarbeiter am New York Institute for Gestalt Therapy, fragen sich, was blockiert ist, wenn Perls, Hefferline und Goodman (2006, Bd. I, 309–324) von Blockaden sprechen. Ist der Kontakt blockiert? Aber wie kann der Kontakt blockiert sein, wenn doch immer Kontakt da ist? Was könnte sonst blockiert sein? Meine Antwort auf diese Fragen ist, dass die Spontaneität, mit der man in Kontakt tritt, blockiert ist, nicht der Kontakt selbst (Spagnuolo Lobb 2001a). Der Kontakt kommt tatsächlich in jedem Fall zustande, doch die Qualität, in der dies geschieht, verändert sich. Dadurch ist der Kontakt weniger spontan und wird so zu einer Quelle der Angst.

      Die vollständige Präsenz an der Kontaktgrenze, mit vollem Selbstgewahrsein und ganzem Einsatz unserer Sinne, geht mit Spontaneität einher. In diesem Zustand sehen wir den anderen / die andere deutlich. Eine TänzerIn, die sich spontan bewegt, tanzt anmutig und graziös – ohne jedoch zu wissen, welcher Fuß sich zuerst bewegt. Wenn die Spontaneität unterbrochen wird (die TänzerIn könnte Angst haben, dass sie den Fuß nicht im richtigen Moment bewegt), wird Erregung zur Angst, die vermieden werden muss (Tanzen wird schwierig). Dann entwickelt sich die Intentionalität entlang komplexer, gestörter Bahnen (das Selbst, das tanzt, wird z. B. zum Selbst-das-dem-Menschenbeim-Tanzen-zusieht), das In-Kontakt-Treten ist an Angst gekoppelt (was einem nicht bewusst ist) und läuft mittels Introjektion, Projektion, Retroflexion, Egotismus oder Konfluenz ab.

      Nehmen wir ein anderes Beispiel: Wenn ein junges Mädchen spontan den Wunsch verspürt, ihren Vater zu umarmen, und ihr der Vater mit Kälte begegnet, unterbricht sie ihre spontane Bewegung auf ihn zu, blockiert aber nicht ihre Intentionalität, mit ihm in Kontakt zu treten. Die Erregung von »Ich will ihn umarmen« wird bei einer einatmenden Bewegung blockiert (sie hält den Atem an) und verwandelt sich, da sie nicht von Sauerstoff unterstützt wird, in Angst. Um diese Angst zu vermeiden, lernt sie, etwas anderes zu tun und vergisst die ursprüngliche Intention. Sie stellt einen Kontakt mithilfe unterschiedlicher Arten von Unterbrechungen oder Widerstand gegen die Spontaneität her, so wie zum Beispiel durch:

      • Introjektion: Das Entstehen der Erregung wird unterbrochen, indem eine Regel oder eine vorschnelle Definition verwendet wird (z. B. »Du solltest zurückhaltender sein«, oder »Man soll Väter nicht umarmen«);

      • Projektion: Das Entstehen der Erregung wird unterbrochen, indem sie verleugnet und der Umwelt zugeschrieben wird (z. B. »Mein Vater lehnt mich ab« oder »Er findet meine fehlende Zurückhaltung falsch«);

      • Retroflexion: Das Entstehen der Erregung wird unterbrochen, indem sie sie auf sich selbst richtet anstatt sich zu einem vollen In-Kontakt-Treten mit der Umwelt führen zu lassen (z. B. »Ich brauche es ist nicht – es ist nicht gut für mich – ihn zu umarmen«);

      • Egotismus: Der Kontakt mit der Umwelt kommt zustande, doch er geht zu schnell vorüber, bevor das Neuartige in der Umwelt kontaktiert und assimiliert werden kann (z. B. umarmt das Mädchen seinen Vater, erlebt jedoch nicht das Neue an diesem Ereignis und sagt sich: »Ich wusste, dass es nichts Neues für mich sein würde, wenn ich ihn umarme.«);

      • Konfluenz: Das Mädchen entwickelt keine Erregung, da der Abgrenzungsprozess von Organismus und Umwelt noch nicht einmal einsetzt (z. B. übernimmt sie die Kälte des Vaters als eigene Einstellung und denkt gar nicht erst an die Möglichkeit, ihn zu umarmen).

      Neben den oben genannten »Verlusten der Ich-Funktion« müssen wir die Frage stellen, welche Funktion hauptsächlich gestört ist: die Persönlichkeits-Funktion oder die Es-Funktion? Bei einer Störung der Persönlichkeits-Funktion wird der Kontakt durch Starrheit oder Angst gegenüber etwas Neuem im Feld in Bezug auf soziale Beziehungen gestört, und das Ich verliert bestimmte