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Gestalttherapie in der klinischen Praxis


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menschlichen Verhaltens begünstigen.

      Was bedeutet die Aussage, dass das Selbst als Funktion eine Fähigkeit oder einen Prozess ausdrückt? Nehmen wir das Beispiel eines neugeborenes Babys, das Milch trinkt: Es weiß, wie man trinkt. Die Fähigkeit des Kindes zu trinken (und später zu beißen, zu kauen, zu sitzen, zu stehen, zu gehen usw.) bringt das Kind in Kontakt mit der Welt und fördert seine Spontaneität. Wenn man dem Kind das Trinken verbietet (das Beißen, Kauen, Stehen, Gehen usw.), muss es kompensieren, indem es den Kontakt auf andere Weise herstellt. Es sucht also nach einer kreativen Anpassung an die Situation.

      Wenn ein Kind zum Beispiel schlechte Milch zu trinken bekommt oder für seine Krabbel-, Steh- oder Gehversuche bestraft wird, wird es von dieser Erfahrung nachhaltig beeinflusst. Die Gestalttherapie ist jedoch nicht daran interessiert, die Qualität der Milch oder das Verhalten der Eltern zu beurteilen: Sie richtet ihr Augenmerk vielmehr auf die Reaktion des Kindes. Dadurch können wir beobachten, wie man den Organismus unterstützen kann, damit er sein spontanes Funktionieren wiedererlangt. Nach unserer Auffassung lebt der Organismus für und durch dieses spontane Funktionieren: Kontakt, der durch mehrere Fähigkeiten zustande kommt. PatientInnen entdecken ihre Spontaneität nicht nur dadurch wieder, dass sie herausfinden, was nicht gut für sie war, sondern auch dadurch, dass sie neue Möglichkeiten erleben, in Kontakt zu treten, oder neue Fähigkeiten erschließen, spontan neue kreative Anpassungen vorzunehmen. Kurz gesagt dadurch, dass sie das Erleben des Organismus/Umwelt-Felds neu organisieren.

      3.7.1. Die drei Funktionen des Selbst

      Nachdem sie das Selbst als komplexes System von Kontakten definiert hatten, die für die Anpassung in einem schwierigen Feld notwendig sind, beschrieben die Autoren des Standardwerkes zur Gestalttherapie bestimmte »besondere Strukturen«, die das Selbst für »spezielle Zwecke« hervorbringt (ebd., 218). Diese Strukturen sind Gruppen von Erfahrungen, um die herum bestimmte Aspekte des Selbst organisiert sind. Die drei Autoren benutzen in ihrem Buch zwar psychoanalytische Begriffe (vor allem das Es und das Ich), die sie von dem damals gebräuchlichen psychologischen Vokabular »entliehen« haben, wie sie selbst sagen. Allerdings beschreiben sie sie in erlebnisorientiertem und phänomenologischem Sinn als Fähigkeiten der integrierten Funktionsweise in dem ganzheitlichen Kontext der Erfahrung, aus dem das Selbst besteht.

      Dieser epistemologische Widerspruch sorgt für Verwirrung. Anstatt diese Begriffe durch andere, erlebnisorientierte zu ersetzen, versucht man in der aktuellen Entwicklung der gestalttherapeutischen Theorie, diese Teilstrukturen des Selbsterlebens zugunsten anderer Prozesse wie der Ko-Kreation der Kontaktgrenze in den Hintergrund zu stellen. Es, Ich und Persönlichkeit sind nur drei von vielen möglichen Erfahrungsstrukturen: Sie werden als Beispiele für die Fähigkeit eines Menschen verstanden, mit der Welt in Verbindung zu treten: das Es als sensomotorischer, wie »unter der Haut« wahrgenommener Hintergrund der Erfahrung, die Persönlichkeit als Assimilation früherer Kontakte und das Ich als »Motor«, der sich auf der Grundlage der beiden anderen Funktionen bewegt und auswählt, womit er sich identifizieren will und was ihm fremd ist. Wir werden uns diese drei Teilstrukturen des Selbst nun genauer ansehen.

      Die Es-Funktion des Selbst

      Die Es-Funktion wird als die Fähigkeit des Organismus definiert, mit der Umwelt in Kontakt zu treten: a) mithilfe des sensomotorischen Hintergrunds assimilierter Kontakte, b) durch physiologische Bedürfnisse und c) durch körperliche Erfahrungen und Empfindungen, die wahrgenommen werden, als geschähen sie »innerhalb der eigenen Haut« (inklusive unerledigter vergangener Situationen) (Lichtenberg/Lobb 2005, 28; vgl. Perls / Hefferline / Goodman 2006, 247).

      a) Der Hintergrund der sensomotorischen Erfahrung von assimilierten Kontakten. Im Standardwerk von Perls, Hefferline und Goodman, Gestalttherapie, finden sich unterschiedliche Definitionen von »Kontakt«, die sich bisweilen zu widersprechen scheinen. So wird Kontakt einerseits als fortwährende Aktivität des Selbst beschrieben (das Selbst, das in fortwährendem Kontakt ist), andererseits aber auch als signifikante Erfahrung, die die vorangegangene Anpassung des Selbst verändern kann. Was ist Kontakt also? Ist es Kontakt (physischer Kontakt zwischen Teilen des Körpers und dem Stuhl), wenn man auf einem Stuhl sitzt? Oder ist es Kontakt, wenn man zum ersten Mal mit Leib und Seele mit jemandem Sex hat, den man sehr liebt? Gestalttherapie nennt zwei Arten von Kontakt: assimilierten Kontakt und den Kontakt, der etwas Neues bringt und zu Wachstum führt.

      Normalerweise müssen wir nicht bei jedem Hinsetzen überprüfen, ob der Stuhl stabil genug ist, uns zu tragen, oder alle propriozeptiven und motorischen Abläufe Schritt für Schritt nachvollziehen, die uns das Sitzenbleiben ermöglichen. Nur ein dekonstruierendes Ereignis wie ein wackelnder Stuhl oder einer, der unter uns zusammenbricht, würde das Selbst an der Kontaktgrenze zwischen unserem Körper und dem Stuhl reaktivieren. Auf einem Stuhl zu sitzen schließt die Erfahrung des Hintergrundes mit ein (die wir uns nicht als Figur ins Gedächtnis rufen müssen), die wir uns in früheren Kontakten angeeignet haben. Auf einem Stuhl zu sitzen wird selbstverständlich.

      Zu Beginn seines Lebens muss der Mensch alles lernen. Alles ist neu und muss ausprobiert, dekonstruiert und assimiliert werden. Das neugeborene Kind erlebt eine Verbindung zwischen seinem Weinen und dem Auftauchen der Mutter (oder ihrem Wegbleiben) und lernt, sein inneres Zeitgefühl zu steuern. Wenn die Mutter nicht reagiert, erlebt es möglicherweise Angst vor dem Verlassen-Werden. Der sensomotorische Hintergrund assimilierter Kontakte gehört dann zu dieser spezifischen Lernerfahrung, in der sich die Komplexität der psycho-physischen Entwicklung (Piaget 1950) und der körperlichen Erfahrung (Kepner 1993) spiegelt.

      b) Physiologische Bedürfnisse. Im Kontext der gestalttherapeutischen Theorie, bei der das Selbst eine Funktion des Feldes ist, verursachen physiologische Bedürfnisse die vom Organismus ausgehende Erregung des Selbst. Das Selbst kann durch innere Erregung (ausgelöst durch das Auftreten eines physiologischen Bedürfnisses oder Ereignisses) oder durch einen äußeren Einfluss (durch ein Ereignis in der Umwelt) aktiviert werden. Diese Unterscheidung existiert jedoch nur in unserer Vorstellung, da das Selbst eine Funktion des Feldes ist. Es ist ein integrierter Prozess, bei dem ein Element in der Umwelt ein physiologisches Bedürfnis ebenso hervorrufen kann wie ein physiologisches Bedürfnis die Wahrnehmung eines Teils des Feldes anregen kann, der zuvor nicht wahrgenommen wurde. So kann uns bei einem Spaziergang in der sengenden Sonne der Anblick eines Brunnens an Durst erinnern, so wie der Durst uns animiert, in unserer Umwelt nach Wasser zu suchen. Diese wahrnehmungs- und beziehungsorientierten Dynamiken wurden ursprünglich von gestaltpsychologischen Theoretikern dargestellt (Köhler 1940; Koffka 1935).

      c) Körperliche Erfahrung und was erlebt wird, als sei es »innerhalb der eigenen Haut«. Dieser dritte Aspekt der Es-Funktion führt die beiden bereits erläuterten Aspekte zusammen, indem er einer Erfahrung grundlegenden Vertrauens (oder Mangels an Vertrauen) beim In-Kontakt-Treten mit der Umwelt das Gefühl der Integration hinzufügt. Er spiegelt die zarte Beziehung zwischen Selbstunterstützung und der Unterstützung durch die Umwelt, zwischen einem Gefühl der inneren Fülle und dem Gefühl, dass man der Umwelt vertrauen kann.

      Diese beiden Erfahrungen sind miteinander verbunden: Je mehr man erlebt, dass man der Umwelt vertrauen kann, desto mehr erlebt man innere Fülle als ein Nachlassen von Angst oder von physiologischen Wünschen. Umgekehrt ist es leichter möglich und auch zweckmäßig, sich der Welt anzuvertrauen, je stärker das innere Gefühl der Sicherheit ist. Laura Perls widmete dieser Verbindung in ihrer klinischen Arbeit große Aufmerksamkeit. Sie beobachtete Haltung und Gang ihrer PatientInnen genau und leitete daraus Anpassungen in ihren Interventionen ab. Dabei legte sie vor allem Wert auf das Gefühl der Selbstunterstützung, das aus der Beziehung mit der Unterstützung der Umwelt entstand (L. Perls 1990). Isadore From wiederum stellte eine Verbindung zwischen psychotischem Erleben und einer starken Angst her, die das In-Kontakt-Treten durch dieses Erleben des Selbst charakterisiert. Psychotiker erleben das, was sie als »innerhalb der eigenen Haut« wahrnehmen, nicht nur als äußerst beängstigend, sondern vor allem als etwas, das ununterscheidbar ist oder vermischt mit dem, was »außerhalb der eigenen Haut« ist. Bei einer psychotischen Störung sehen wir also den Mangel an Wahrnehmung der Grenze zwischen Innen und Außen (siehe Spagnuolo Lobb 2003a).

      Die Persönlichkeits-Funktion

      Die Persönlichkeits-Funktion