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Gestalttherapie in der klinischen Praxis


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Kontexts entsteht, in dem man atmen und sich gegenseitig Unterstützung bieten kann.

      2. Entwicklung der Grundwerte: Die Bedeutung der Hermeneutischen Methode

      Die Gestalttherapie hat ihre maximale Verbreitung also in einem kulturellen Moment erreicht, der als »postmoderner Zustand« definiert wird (Lyotard 1979). Ein charakteristisches Merkmal dieses Zustands der Bewertung der auf das Ego bezogenen Kreativität war die Kritik an a priori gesetzten Werten, die von Kriterien außerhalb des Erlebens des Individuums vorgegeben wurden, und das sich daraus ergebende Bedürfnis, sich von den traditionellen Bezugspunkten der Nachkriegskultur zu lösen (der »Fall der Götter«), und zwar auf Kosten eines »Sich-auf-die-Umwelt-Einlassens« oder auch »Sich-auf-emotionale-Bindungen-Einlassens«. Dies war zweifellos eine notwendige Phase, um angesichts einer sozialen Achse zwischen Autoritarismus einerseits und Abhängigkeit andererseits persönliche Autonomie zu erreichen.

      In den 80er-Jahren herrschte reges Interesse an Beziehungen. Damals brachten einige Philosophen das »schwache Denken« (Vattimo / Rovatti 1983) ins Gespräch. Danach bietet die Freiheit von a priori bestimmten Paradigmen eine Möglichkeit, neue und völlig unabhängige Sicherheiten zu schaffen, die nicht von Werten belastet sind, die weitergegeben wurden und deshalb nicht die eigenen sind. Es war eine Frage des Glaubens an das Unsichere, der Bejahung des Wertes der »reinen« Beziehung, die neue Lösungen aus eben dieser Unsicherheit des flüchtigen Moments hervorbringen kann. Das schwache Denken formulierte den gestalttherapeutischen Glauben an das Jetzt und an die kreative Kraft des Selbst-in-Kontakts sehr treffend. Wie konnte man nicht von der Aussicht fasziniert sein, aus dem »Nichts«, aus der bloßen Beziehung, neue Lösungen für die PatientIn entstehen zu lassen? All die Erwartungen der GestalttherapeutInnen, durch ihre reine Anwesenheit und gemeinsam mit der PatientIn Lösungen zu finden, für die man keine Analyse der Vergangenheit brauchte, wurden hierdurch positiv konnotiert. Viele Gestalt-AutorInnen, ich selbst eingeschlossen, betonten die positive Bedeutung der Unsicherheit im Vergleich zur falschen Sicherheit, die durch schematische Systeme aufkam. Staemmler (1997a, 45) schreibt zum Beispiel, dass die Kultivierung der Unsicherheit ein Grundprinzip der GestalttherapeutIn sein sollte, und Miller (1990) hebt den Wert der Psychologie des Unbekannten hervor. Ich persönlich habe das Konzept der improvisierten Ko-Kreation geschaffen (Spagnuolo Lobb 2003b, 2010b), als Gegenstück zum Konzept des impliziten Beziehungwissens von Stern et al. (1998; 2003). Auch andere therapeutische Ansätze unterstreichen, wie wichtig es ist, sich nicht von der Macht verführen zu lassen, die diagnostische Sicherheiten in der Psychotherapie bietet (siehe zum Beispiel Amundson / Stewart / Valentine 1993).

      Diese positive Sicht der post-modernen Unsicherheit wurde von der Gestalttherapie insofern geteilt, als man sich ganz auf das Hier und Jetzt des therapeutischen Kontaktes einließ. Sie passt nicht zum Erleben eines Notstands, das schnell zu einem traumatischen Erleben wird, wenn es an einem sicheren Beziehungshintergrund mangelt, wie ich ihn oben geschildert habe und wie er in Gestaltkreisen viel diskutiert worden ist (siehe zum Beispiel Cavaleri 2007; Francesetti 2008; Spagnuolo Lobb 2009c). Heutzutage ist die klinische Evidenz charakterisiert durch weit verbreitete Angst (Panikattacken, posttraumatische Belastungsstörungen, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und Hyperaktivität bei Kindern), Desorientierung in Beziehungen (Störungen der sexuellen Identität, widersprüchliche Beziehungsentscheidungen, Schwierigkeiten, Paarbeziehungen oder intime Bindungen aufrechtzuerhalten), körperlicher Desensibilisierung (Mangel an sexuellem Verlangen, Selbstverletzung mit dem Ziel sich selbst zu spüren, Anhedonie oder Gefühllosigkeit).

      Welche Wertigkeit kann die Gestalttherapie zum heutigen Panorama der Psychotherapien beitragen?

      Unser hermeneutischer Blick verrät uns, dass die Begründer der Gestalttherapie beim Schreiben des Standardwerks vor allem auf die Auflösung der wichtigsten neurotischen Dichotomien abzielten (Körper und Geist, Selbst und äußere Welt, emotional und real, infantil und reif; biologisch und kulturell; Lyrik und Prosa; spontan und absichtlich; persönlich und sozial; Liebe und Aggression; unbewusst und bewusst).

      Bei allen Weiterentwicklungen unserer Theorie müssen wir uns an diesem Ziel orientieren: Wie können wir PsychotherapeutInnen sein, die Menschen in ihrem Beziehungsleiden helfen, Dichotomien zu überwinden?

      Die Kunst der GestalttherapeutIn ist deshalb sehr komplex: Sie anzuwenden ist ebenso schwierig wie sie weiterzugeben, weil die GestalttherapeutIn an einem Geist, an Prinzipien festhalten muss, ohne dabei die Kreativität zu verleugnen, die uns unsere Leidenschaft erlaubt.

      Bis vor zwanzig Jahren war es schwierig, in einer Beziehung zu bleiben. Heute ist es schwierig, sich in einer Beziehung selbst zu spüren. Bisweilen betrifft dieses Sich-nicht-Spüren sogar das Sexualleben: Die klinische Evidenz reicht von Ambiguität bei der Partnerwahl (Spagnuolo Lobb 2005d; Iaculo 2002) bis zur Unfähigkeit, sexuelles Verlangen im Körper wahrzunehmen. Das gestalttherapeutische Verständnis der »flüchtigen Angst« (liquid fear) (Bauman 2006) bezieht sich auf ein Gefühl, bei dem aus der Erregung, die zum Kontakt führen sollte, eine undefinierte Energie wird: gegenseitiges Spiegeln und das Containment der Beziehung, das Spüren der Anwesenheit des/der Anderen, die »Abgrenzung«, die uns erlaubt zu fühlen, wer wir sind – all das fehlt.

      Ich bin der Meinung, dass die Psychotherapie heute eine zweifache Aufgabe hat: den Körper zu re-sensiblisieren (Überwindung der Dichotomie virtuell/real) und Menschen Werkzeuge zur horizontalen Beziehungs-Unterstützung an die Hand zu geben, die ihnen dabei helfen, sich im Blick des/der gleichwertigen Anderen zu spüren (Überwindung der Dichotomie vertikal/horizontal in heilenden Kontakten).

      3. Grundprinzipien der Gestalttherapie in der klinischen Praxis

      Heutzutage scheinen bestimmte epistemologische Prinzipien der Gestalttherapie den Ansatz von anderen zu unterscheiden. Wenn mich heute jemand fragte, was an der Gestalttherapie besonders ist, würde ich Folgendes antworten.

      3.1 Vom intra-psychischen Paradigma zum Paradigma der ko-kreierten Zwischenheit

      Angesichts des heutigen kulturellen Trends mit seinem Fokus auf Beziehungen definiert die Gestalttherapie die ursprüngliche Eingebung der Begründer im Sinne der Ko-Kreation neu, die Erleben als ein Geschehen an der Kontaktgrenze, in der »Zwischenheit«, betrachtet, also zwischen dem Ich und dem Du (Spagnuolo Lobb 2003b).

      Auf dem Gebiet der klinischen psychologischen Praxis hat sich die Gestalttherapie, vor allem dank des Beitrags von Isadore From, von der Betrachtung der Interaktion zwischen Organismus und Umwelt, die auf die Befriedigung individueller Bedürfnisse abzielte (siehe Wheeler 2000a), hin zur Betrachtung des Organismus/Umwelt-Feldes entwickelt. Bei diesem Feld handelt es sich um ein ganzheitliches wahrnehmungsbezogenes Ereignis, aus dem Kontaktmodalitäten entstehen, die der/die PsychotherapeutIn begrüßt, um die klare Wahrnehmung und damit die Spontaneität des Selbst der PatientIn zu fördern.

      Ein klinisches Beispiel hierfür ist der Fall eines Patienten, der zur TherapeutIn sagt: »Ich war letzte Nacht in einem fürchterlichen Zustand und habe nicht geschlafen.« Nach dem Verständnis der heutigen Gestalttherapie drückt er damit nicht nur ein Erleben aus, das zu ihm gehört (»Ich möchte meinen fürchterlichen Zustand besser verstehen«). Er drückt auch etwas aus, das zum aktuellen Kontakt mit der TherapeutIn gehört, denn die Erwähnung des erinnerten »fürchterlichen Zustands« ist eine Möglichkeit, vom aktuellen Zustand zu sprechen. Es ist eine Frage der Gestalt/Hintergrund-Dynamik: Der Patient pickt bestimmte Anteile aus dem Erlebenshintergrund des Kontaktes mit der TherapeutIn heraus und lässt andere Anteile links liegen, in dem Moment, den er in der aktuellen Sitzung mit der TherapeutIn erlebt. Vielleicht möchte er ihr über eine Angst berichten, die mit der letzten oder der gerade beginnenden Sitzung zu tun hat. Er könnte zum Beispiel sagen wollen: »In der letzten Sitzung ist etwas passiert, das mir Angst gemacht hat. Ich hoffe, Sie merken jetzt, welche Auswirkungen das auf mich gehabt hat und können mich heute vor den negativen Folgen schützen.« Diese beziehungsorientierte Interpretation (korrekter wäre es, hier von »situationsorientiert« zu sprechen) erlaubt es der TherapeutIn, aus der traditionellen intrapsychischen Perspektive herauszutreten, sich bei ihrer Arbeit auf den »fürchterlichen Zustand« zu beziehen und zu sehen, was entsteht. Die TherapeutIn kann