in das eigene Potenzial einen wesentlichen Faktor bei dem Bemühen darstellte, Unabhängigkeit vom/von der Anderen zu erlangen. Auf den Leeren Stuhl werde ich an anderer Stelle detailliert eingehen; hier möchte ich jedoch einen Punkt hervorheben: Wenn wir heute mit der Technik des Leeren Stuhls arbeiten, müssen wir berücksichtigen, dass unsere moderne Gesellschaft nicht vorrangig nach Autonomie und der Lösung von Bindungen strebt. Wir haben vielmehr das Bedürfnis, Bindungen zu schaffen, in denen wir die Erfahrung machen können, vom/von der Anderen wahrgenommen und festgehalten zu werden. Die Technik gehört also nach wie vor zu unseren besten Methoden, doch wir müssen sie mit einem anderen Ziel einsetzen (und den Schwerpunkt entsprechend verlagern).
Diese hermeneutische Vorgehensweise ist für unser Modell von entscheidender Bedeutung, wenn es überleben und sich entwickeln soll.3 Gleichzeitig bewahrt sie uns vor einem naiven Einsatz von Konzepten und Techniken. Dies ist besonders wichtig, wenn wir schwere Störungen behandeln und uns im Bereich der Psychopathologie zurechtfinden wollen, die heutzutage überall anzutreffen ist. Das Überleben unseres Modells hängt davon ab, ob es uns gelingt, uns psychopathologischen Themen zuzuwenden (Francesetti 2005).
Uns ist allen bewusst, dass die Gestalttherapie nicht mit der Absicht entwickelt wurde, Psychosen oder schwere Störungen zu heilen. Zur Zeit ihrer Entstehung war jedoch die Psychotherapie im Allgemeinen nicht auf die Behandlung schwerer Störungen ausgerichtet. Die bi-univoke Beziehung zwischen Psychotherapie und Gesellschaft lenkte immer besondere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft durch einen Mangel an Beständigkeit geprägt ist, der zu einem bestimmten Zeitpunkt zutage tritt. In den Anfängen der Gestalttherapie wurde diese fehlende Beständigkeit zum Beispiel in solchen Fragen deutlich: »Wer ist im Besitz der Wahrheit? Die HeilerIn oder die, der geholfen wird? Wohnt menschlichem Beziehungsleiden Würde und eine potenzielle Autonomie inne oder geht es dabei einfach um mangelnde soziale Anpassung? Müssen soziale Minderheiten und ›andersartige‹ Gefühle und Lebensweisen gesteuert und ›normalisiert‹ werden oder sollten sie vielmehr als wichtige Ressource für die Selbstregulierung der Gesellschaft bestärkt werden?«
Damals war die Psychopathologie nicht von großem Interesse für die Psychotherapie: Schwere Störungen betrachtete man als etwas, das sich weitgehend fernab des alltäglichen Lebens abspielte. Verrückte lebten in psychiatrischen Einrichtungen und soziale Probleme hatten nichts damit zu tun.
Als die gesamte Gesellschaft im Lauf der Zeit immer öfter mit psychopathologischem Leiden konfrontiert wurde, war auch die Psychotherapie gezwungen, sich dafür zu interessieren. Seit den 80er-Jahren muss sich jedes Psychotherapiemodell, das überleben will, mit der Tatsache auseinandersetzen, dass schwere Störungen auf dem Vormarsch sind, und nach neuen Ideen und Techniken suchen, um ihnen vorzubeugen und sie zu behandeln. Der Begriff »schwere Störungen« bezieht sich meist auf das Erleben innerhalb menschlicher Beziehungen: unkontrollierbare Angst, das Empfinden, sich selbst zu verlieren, und die gefühlte Unfähigkeit, sein eigenes alltägliches Leben fortzuführen.
In diesem Kapitel schildere ich zunächst, wie sich die Befindlichkeit der Gesellschaft und die Psychotherapie in den letzten sechzig Jahren (seit den Anfängen der Gestalttherapie) entwickelt haben. Anschließend beschreibe ich die Prinzipien und die Grundwerte unseres Ansatzes aus der Perspektive der heutigen Gesellschaft. Dann wird das gestalttherapeutische Konzept von Psychopathologie und kreativer Anpassung erläutert und in der Gesellschaft der Gegenwart verortet. Abschließend möchte ich den notwendigen Wandel in der Gestalttherapie anregen, hin zu einer Auseinandersetzung mit dem Begriff der »Psychopathologie«, der bis in die 80er-Jahre aus unserem Wortschatz verbannt war.
Ich werde versuchen, alle theoretischen Aussagen durch klinische oder auf Beziehungen bezogene Beispiele zu ergänzen, um dem pragmatischen Geist der Gestalttherapie gerecht zu werden.
1. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Befindlichkeit und der Psychotherapie
Fast alle psychotherapeutischen Ansätze entstanden um die 1950er-Jahre herum und erlangten in den folgenden zwanzig Jahren größere Bekanntheit. Seit damals haben sich unsere PatientInnen stark verändert, und so stehen wir vor der Herausforderung, unsere Formulierungen und unsere Methode zu modifizieren und dabei einerseits im Einklang mit der Epistemologie unseres Ansatzes zu bleiben und andererseits neue Instrumente zu schaffen, die geeignet sind, die heutigen Probleme zu lösen. Lassen Sie uns die klinische Entwicklung dieser sechzig Jahre näher betrachten:
• 1950 bis 1970:
Dies war die Zeit, in der die meisten psychotherapeutischen Methoden ihre weiteste Verbreitung fanden. In diesem Zeitabschnitt, in dem Soziologen von der »narzisstischen Gesellschaft« (Lasch 1978) sprachen, zielten alle neuen psychotherapeutischen Ansätze auf die Lösung eines Problems ab, das aus persönlichen Beziehungen und den sozialen Gegebenheiten erwuchs: Wie sollte man dem Potenzial des wirklichen Lebens mehr Würde verleihen, dem Freud in seinen letzten Formulierungen ein Schattendasein zugewiesen hatte, als er der Macht des Unbewussten größere Bedeutung einräumte? Freuds mehr oder weniger rebellische »Nachkommen« – Otto Rank mit seinem Konzept von Wille und Gegenwille (Rank 1941), Adler (1924) mit dem Konzept des Machtstrebens und Reich (1945) mit seinem absoluten Vertrauen in die Sexualität (siehe Spagnuolo Lobb 1996, 72 ff.) – hatten zu Beginn des Jahrhunderts einer veränderten psychosozialen Sichtweise auf menschliche Beziehungen Ausdruck verliehen: Das »Nein« der Kinder (und der PatientInnen) ist gesund, Machtgefühle sind »normal«, körperliche Energie und Sexualität kann man ganz ausleben, ohne in orgiastischem Chaos zu versinken.
Die philosophische Entsprechung dieses Wandels findet sich in den Gedanken Nietzsches.4 Im Bereich der Kunst spiegelten neue Ausdrucksformen, von Jazz bis zum Surrealismus (man denke nur an die fragmentierten Figuren Mirós), den Wunsch wider, neue subjektive Perspektiven zu manifestieren. Auf politischer Ebene zeugten Gesetze zum Schutz von Minderheiten als Reaktion auf diktatorische Regimes von dem Bestreben, allen erdenklichen menschlichen Lebensformen Würde zuzubilligen.
Allen psychotherapeutischen Strömungen, die in den zwanzig Jahren zwischen 1950 und 1970 aufkamen (wie auch manchen »Revisionen« der Psychoanalyse) war die Absicht gemein, dem individuellen Erleben, das man als fundamental bedeutsam für die Gesellschaft erachtete, mit mehr Respekt und Vertrauen zu begegnen. Das Ich wurde neu bewertet, ihm wurde eine kreative, unabhängige Kraft zugeschrieben: Das Kind musste aus der Unterdrückung durch den Vater und PatientInnen von sozialen Normenbefreit werden. Selbst das Verrückt-Sein wurde nicht länger als unwiederbringlicher Verlust des Realitätssinns betrachtet, als Beherrscht-Sein durch ein zerstörerisches Unbewusstes, sondern als Möglichkeit, einen ansonsten unerreichbaren Anteil zu verstehen, der zwar von der Norm abwich, zugleich aber als eine Quelle der Kreativität gesehen wurde: Ähnlich wie ein Bild der unstrukturierte Ausdruck von Emotionen sein kann, hat der Wortsalat der Schizophrenen eine eigene Wertigkeit, die die kreative, unabhängige Kraft des Menschen fördert, selbst wenn sie sich jenseits jeder Rationalität bewegt. Es kam das Bedürfnis auf, sich als wichtig, wenngleich von der Norm abweichend, aber nicht als dominant zu begreifen.
In diesem Kontext lehnte die Gestalttherapie dieses Bedürfnis ab und begründete eine Theorie des Selbst, mit deren Hilfe sich das Erleben beim Kontaktprozess des Organismus mit seiner Umwelt (im Gegensatz zu einem intrapsychischen Kontakt) erfassen ließ. Dabei tritt die Kreativität des Ich zutage, das zugleich Schöpfer und Erschaffenes ist. Der mittlere Modus, der untrennbar mit der Ästhetik der griechischen Kultur verbunden ist (von den europäischen Sprachen haben nur einige griechische Verben einen »mittleren Modus«5), charakterisiert auch die Definition des Selbst: Es »bildet sich« an der Grenze zwischen Organismus und Umwelt mittels eines ästhetischen Prozesses, eines Gewahrseins, einer Präsenz aller Sinne, die einen guten Kontakt ausmachen. Ein weiteres Konzept, mit dem die Gestalttherapie einen Beitrag zu den aufkommenden Bedürfnissen der Gesellschaft in den 1950er-Jahren leistete, widmet sich den positiven Aspekten von Konflikten in menschlichen Beziehungen: Der unterdrückte Konflikt führt entweder zu Stumpfsinn oder zum Krieg (Perls 1969, 7). Einen Konflikt auszutragen garantiert Lebendigkeit und echtes Wachstum.
Doch wie lauteten die typischen Sätze, was sagten die PatientInnen in den 1950ern? Im Mittelpunkt der Nachfrage nach Psychotherapie in diesen Jahren